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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 21.07.2005
Aktenzeichen: I-8 U 33/05
Rechtsgebiete: BGB, ZPO


Vorschriften:

BGB § 823 Abs. 1
BGB § 847 (a.F.)
ZPO § 286
ZPO § 529 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I.

Beim Kläger kam es seit Mitte der 90iger Jahre zu einer progredienten Gangstörung, Paraspastik und Sensibilitätsstörung der Beine sowie einer Blasen-Mastdarm-Störung. Der Orthopäde Dr. M., der bei der von ihm durchgeführten orthopädischen Untersuchung keine richtungsweisende Diagnose stellen konnte, überwies den Kläger an den Beklagten, der als Neurologe, Psychiater und Psychotherapeut tätig ist. Dieser diagnostizierte einen psychosomatischen Beschwerdekomplex und verordnete eine konfliktzentrierte Kurz-Psychotherapie. Im Laufe der weiteren Behandlung durch den Beklagten verstärkten sich die Beschwerden des Klägers; im August 1998 begab sich der Kläger in die Behandlung des Arztes Dr. D. in Mönchengladbach, der eine neurologische Erkrankung diagnostizierte und umgehend eine kernspintomographische Untersuchung veranlasste. Schließlich wurde am 02.09.1998 als Ursache der Beschwerden des Klägers eine arteriovenöse Fistel (AV-Fistel) in Höhe TH 7 festgestellt und in der Universitätsklinik A. operativ behandelt. Die Operation führte zu einer deutlichen Verbesserung des Zustandes des Klägers.

Der Kläger hat behauptet, er sei von dem Orthopäden Dr. M. zur weiteren neurologischen Diagnostik und Behandlung an den Beklagten überwiesen worden. Dieser habe trotz eindeutiger Hinweise auf eine spinale Schädigung grob fehlerhaft die gebotene Diagnostik unterlassen, was zu einer 16-monatigen Verzögerung der Feststellung und Behandlung der AV-Fistel geführt habe. Hierdurch sei es zu einer irreversiblen Schädigung mit einer starken Gehbehinderung, einem Schmerzsyndrom, Blasenstörungen und Gefühlsbeeinträchtigungen im Genital- und Afterbereich gekommen. Dies rechtfertige ein Schmerzensgeld von mindestens DM 300.000. Allein in den Jahren 1998 und 1999 sei ihm, dem Kläger, der mehrere Dentaltechnikunternehmen geleitet habe, eine Vermögenseinbuße von ca. DM 1,3 Mio. entstanden. Die weitere Schadensentwicklung sei noch nicht abgeschlossen.

Der Beklagte ist dem entgegengetreten. Er hat behauptet, die Überweisung des Klägers sei an ihn als Psychotherapeuten zur Abklärung einer Multiple-Sklerose-Erkrankung oder einer möglichen psychischen Störung erfolgt. Da nach den Angaben des Klägers bereits ein Jahr zuvor in einer Spezialklinik in Holland eine umfangreiche neurologische Diagnostik mit mehrfachen MRT-Untersuchungen stattgefunden habe, habe er, der Beklagte, davon ausgehen können, dass eine neuerliche Untersuchung keinen veränderten Befund ergeben würde, zumal die Beschwerden des Klägers während der Dauer der Behandlung nicht anders, sondern nur intensiver geworden seien. Darüber hinaus habe der Kläger die von ihm vorgeschlagene weitere stationäre Untersuchung in der Neurologie der Universitätsklinik D. im Hinblick auf die negativen Untersuchungsergebnisse aus H. abgelehnt, weil er dazu keine Zeit habe. Auch eine Angiographie des Rückenmarks habe er wegen der damit verbundenen potentiellen Risiken abgelehnt, ebenso weitere organische Untersuchungen, weil diese - bis auf eine Lumbalpunktion - bereits alle bei ihm gemacht worden seien. Aufgrund der geklagten Beschwerden habe er, der Beklagte, zu Recht davon ausgehen können, dass beim Kläger eine psychosomatische Problematik vorliege und durch eine Therapie gelöst werden könne. Sofern der Kläger heute an den angegebenen Beschwerden leide, sei dies jedenfalls nicht auf die AV-Fistel zurückzuführen, sondern hätte eine andere - möglicherweise psychosomatische - Ursache. Da der Verdienstausfallschaden für die Vergangenheit bereits ermittelt werden könne, sei der Feststellungsantrag insoweit unzulässig.

Das Landgericht hat nach Beweisaufnahme durch das angefochtene Grund- und Teilurteil den Schmerzensgeldanspruch dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger alle materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die ihm durch die differentialdiagnostischen und therapeutischen Versäumnisse des Beklagten im Zusammenhang mit der Behandlung der beim Kläger 1997 aufgetretenen spinalen Fistel noch entstehen werden, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder noch übergehen werden; den weitergehenden Feststellungsantrag hat das Landgericht abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Beklagte habe bereits bei der Erstuntersuchung im April 1997 notwendige Diagnosemaßnahmen unterlassen, mit denen eine ursächliche thorakale oder lumbale Rückenmarkschädigung höchstwahrscheinlich hätte festgestellt werden können. Aufgrund der glaubhaften Aussage des Zeugen Dr. M. stehe fest, dass der Kläger an den Beklagten nicht lediglich als Psychotherapeuten, sondern in erster Linie zur umfassenden neurologischen Abklärung und Behandlung überwiesen worden sei. Darauf, dass der Kläger keine weitere neurologische Untersuchung und Behandlung durch ihn gewünscht habe, könne sich der Beklagte nicht berufen, weil dies in seinen Behandlungsunterlagen nicht dokumentiert sei, sondern lediglich in "persönlichen Aufzeichnungen", denen aber kein Beweiswert zukomme, weil sie ausschließlich dem persönlichen Gebrauch des Beklagten dienten und nicht feststellbar sei, dass sie im unmittelbaren Zusammenhang mit der Behandlung angefertigt worden seien. Den Beweis, dass die Verzögerung der Behandlung nicht zu einer Verschlechterung des körperlichen Zustandes des Klägers geführt habe, müsse der Beklagte führen, denn sein Vorgehen habe in eklatanter Weise die Regeln der ärztlichen Kunst außer acht gelassen; soweit der gerichtlich bestellte Sachverständige Prof. Dr. S. einen groben Behandlungsfehler nicht angenommen habe, liege dies ausschließlich daran, dass er bei seiner Beurteilung die streitige Behauptung des Beklagten zugrundegelegt habe, der Kläger habe keine neurologische Untersuchung gewünscht, weil sein Zustand bereits vollständig neurologisch abgeklärt sei.

Gegen dieses Urteil haben beide Parteien Berufung eingelegt, mit der sie jeweils ihr erstinstanzliches Klagebegehren weiterverfolgen. Der Kläger macht geltend, das Landgericht habe bei der teilweisen Abweisung des Feststellungsantrages verkannt, dass er nicht gezwungen sei, seine Klage in eine Leistungs- und Feststellungsklage aufzuspalten, wenn ein Teil des Schadens bereits entstanden sei.

Er beantragt,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils auf den Klageantrag zu 2) festzustellen, dass der Beklagte auch verpflichtet sei, ihm allen vergangenen materiellen Schaden zu ersetzen, der ihm durch die differentialdiagnostischen und therapeutischen Versäumnisse des Beklagten im Zusammenhang mit der Behandlung bei ihm 1997 aufgetretenen spinalen Fistel bereits entstanden seien, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen seien.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen,

das Urteil des Landgerichts Mönchengladbach vom 28.01.2005 teilweise "aufzuheben" und die Klage insgesamt abzuweisen.

Er rügt die Beweiswürdigung des Landgerichts und meint, der Zeuge Dr. M. habe nach sieben Jahren nicht mehr zuverlässig angeben können, dass er den Kläger allein zur neurologischen Diagnostik an ihn überwiesen habe. Der Beklagte meint ferner, das Landgericht habe einen groben Behandlungsfehler nicht entgegen dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. S. bejahen dürfen, ohne den Sachverständigen hierzu zumindest anzuhören. Auch habe das Landgericht bei der Frage der Verweigerung weiterer Diagnosemaßnahmen durch den Kläger seinen "persönlichen Aufzeichnungen" keinen geringeren Wert beimessen dürfen, als der Behandlungsdokumentation, zumal kein Anhaltspunkt für eine nachträgliche Erstellung dieser Aufzeichnung festzustellen gewesen sei.

Der Kläger beantragt,

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

II.

Die wechselseitigen Berufungen sind zulässig. Während die Berufung des Klägers in der Sache Erfolg hat, bleibt die Berufung des Beklagten erfolglos.

A) Haftungsgrund (Schmerzensgeld)

Dem Kläger steht nach dem Ergebnis der erstinstanzlich durchgeführten Beweisaufnahme dem Grunde nach ein Schmerzensgeldanspruch gemäß den §§ 823 Abs. 1, 847 BGB (a.F.) zu.

1.)

Das Landgericht hat aufgrund der von ihm durchgeführten Beweisaufnahme mit Recht festgestellt, dass die Behandlung des Klägers durch den Beklagten im Zeitraum von April 1997 bis Mitte 1998 fehlerhaft war. Hieran ist der Senat nach § 529 Abs. 1 ZPO gebunden; es liegen keine konkreten Anhaltspunkte vor, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten.

Das Landgericht ist zutreffend aufgrund der Aussage des Zeugen Dr. M. davon ausgegangen, dass dieser den Kläger zur neurologischen Untersuchung an den Beklagten überwiesen hat. Der Zeuge hat bekundet, dass aus seiner Sicht bei dem Kläger nicht in erster Linie ein orthopädisches, sondern eher ein neurologisches Problem vorlag, und dass er den Kläger von seiner Symptomatik her in die Gruppe der Patienten einordnen würde, bei denen er dann eine neurologische Abklärung veranlassen würde, wobei dies nach seinen Erläuterungen durchaus auch die psychiatrische Schiene mit umfassen kann. Der Zeuge hat jedoch erklärt, dass er hinsichtlich des Klägers auf eine Ursache auf psychiatrischem oder psychosomatischem Gebiet erst durch den Arztbrief des Beklagten vom 20.04.1997 gestoßen worden ist. Daraus hat das Landgericht mit Recht den Schluss gezogen, dass der Beklagte jedenfalls nicht ausschließlich als Psychiater oder Psychotherapeut eingeschaltet worden ist. Fehler der Beweiswürdigung zeigt der Beklagte nicht auf. Soweit er meint, der Zeuge habe nach sieben Jahren nicht mehr zuverlässig angeben können, dass er den Kläger allein zur neurologischen Diagnostik überwiesen habe, ist dies nicht erheblich, denn es reicht, dass jedenfalls auch eine neurologische Untersuchung Gegenstand der Überweisung war.

Letztlich kommt es darauf auch nicht entscheidend an. Denn der gerichtlich beauftragte Sachverständige Prof. Dr. S., der als Leitender Oberarzt einer Neurologischen Universitätsklinik besonders befähigt ist, die entscheidungserheblichen neurologischen Fragen zu beantworten, hat - wie im Übrigen auch Prof. Dr. F. in seinem für die Gutachterkommission erstellten Gutachten - dargelegt, dass der Kläger ausweislich der Behandlungsunterlagen bei der ersten Untersuchung durch den Beklagten Symptome geschildert hat, die klassische Zeichen einer spinalen Schädigung waren. In dieser Situation war es nicht indiziert, ohne ausreichende Diagnostik zum Ausschluss einer neurologischen Erkrankung eine Psychotherapie zu beginnen und damit den Patienten in einer falschen Sicherheit zu wiegen. Dass die vom Beklagten betriebene Diagnostik unzureichend war, haben nicht nur Prof. Dr. S., sondern auch Prof. Dr. F. und der im Auftrag des Klägers vorprozessual tätig gewordene Sachverständige Prof. Dr. N. - die beide dem Senat als kompetente Fachleute auf neurologischem Gebiet bekannt sind - ausgeführt. Danach waren sowohl die Durchführung einer spinalen Leitungsdiagnostik mittels Messung der somato-sensorisch evozierten Potentiale (SEP) und/oder motorisch (magnetisch) evozierten Potentiale (MEP) zur unteren, klinisch betroffenen Extremität als auch die erneute Durchführung einer Kernspintomographie (MRT) erforderlich.

Damit, dass der Kläger ihm davon berichtet hatte, ein Jahr zuvor durchgeführte umfangreiche neurologische Untersuchungen hätten kein Ergebnis erbracht, durfte sich der Beklagte ersichtlich nicht begnügen. Zum einen hat Prof. Dr. N. darauf hingewiesen, dass der Beklagte, dem weder die kernspintomografischen Bilder noch ein schriftlicher radiologischer Befund vorlagen, gar nicht wissen konnte, welcher Abschnitt des Spinalkanals 1996 untersucht worden war. Zum anderen wäre nach den sachverständigen Ausführungen von Prof. Dr. S. jedenfalls angesichts der progredienten Paraparese des Klägers eine Wiederholung des MRTs erforderlich gewesen. Ausschlaggebend für die Beurteilung des Vorgehens des Beklagten als fehlerhaft ist schließlich, dass allein aufgrund der von ihm durchgeführten groben neurologischen Untersuchung die Diagnose nicht ausschließlich auf einen psychosomatischen Beschwerdekomplex zurückgeführt werden konnte, wie der Sachverständige Prof. Dr. S. ausgeführt hat. Der Beklagte konnte auch nicht davon ausgehen, dass bei einer Wiederholung der Untersuchungen kein anderer Befund feststellbar sein würde. Der Sachverständige hat vielmehr deutlich gemacht, dass angesichts des zwischenzeitlich fortgeschrittenen Beschwerdebildes des Klägers die Diagnose einer ursächlichen thorakalen oder lumbalen Rückenmarksschädigung mit großer Wahrscheinlichkeit hätte gestellt werden können, wenn der Beklagte die notwendigen diagnostischen Maßnahmen bereits bei der Erstuntersuchung am 16.04.1997 durchgeführt hätte.

Die Behauptung des Beklagten, der Kläger habe weitere diagnostische Maßnahmen abgelehnt und ausschließlich eine Psychotherapie gewollt, hat das Landgericht im Ergebnis zu Recht für unbeachtlich gehalten. Dabei kommt es auf den vom Landgericht erörterten Beweiswert der "persönlichen Aufzeichnungen" des Beklagten neben den Behandlungsunterlagen nicht entscheidend an, da die Beweislast für eine behauptete Behandlungsverweigerung nicht beim Beklagten liegt. Ist in den Fällen einer erforderlichen Befunderhebung oder Therapiemaßnahme deren Unterlassung unstreitig oder bewiesen, behauptet indessen die Behandlungsseite, die Untersuchungs- oder Behandlungsmaßnahme sei dem Patienten vorgeschlagen worden, der Patient habe die Durchführung der Maßnahme aber verweigert, so bestreitet die Behandlungsseite die Fehlerhaftigkeit der Unterlassung. Da der Patient das Vorliegen eines Behandlungsfehlers beweisen muss, trägt er den Beweisnachteil, wenn die behauptete Weigerung unaufklärbar bleibt (vgl. Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 4. Aufl., Rdn. B 220).

Das diesbezügliche Vorbringen des Beklagten ist aber nicht erheblich, denn die Weigerung des Patienten, eine Untersuchung vornehmen zu lassen, die zur Abklärung einer Verdachtsdiagnose erforderlich ist, ist rechtlich nur dann beachtlich, wenn der Arzt den Patienten auf die Notwendigkeit und Dringlichkeit der Untersuchung hingewiesen und ihm die medizinischen Folgen seines Verhaltens vor Augen geführt hat (vgl. BGH, NJW 1997, 3090, 3091; NJW 1998, 1782, 1783 f). Da der Beklagte nach den Ausführungen von Prof. Dr. S. eine Erkrankung im Spinalraum in die differentialdiagnostischen Erwägungen einbeziehen musste, gehörte dazu der Hinweis, dass bei einer unterlassenen neurologischen Abklärung im Falle des Vorliegens einer solchen Erkrankung es zu einer chronischen und progredienten Schädigung des Rückenmarks bis hin zu einer Querschnittssymptomatik kommen konnte. Dass der Beklagte den Kläger darauf hingewiesen hätte, ist von ihm weder vorgetragen worden, noch ergibt es sich aus seinen Behandlungsunterlagen und seinen "persönlichen Aufzeichnungen". Die behauptete Verweigerung weiterer neurologischer Untersuchungen ist auch überhaupt nicht plausibel, da der Kläger es offenbar zugelassen hat, dass der Beklagte die MEPs mehrfach für das Segment C 8 abgeleitet hat; es ist nicht ersichtlich, weshalb er sich dann geweigert haben sollte, die gleiche Untersuchung für die unteren, betroffenen Extremitäten durchführen zu lassen. Eine solche Untersuchung war auch weder mit besonderen Risiken verbunden noch besonders aufwendig (insbesondere erforderte sie nicht einen stationären Krankenhausaufenthalt), so dass auch die vom Beklagten in seinen "persönlichen Aufzeichnungen" niedergelegten Begründungen für die angebliche Verweigerung weiterer Untersuchungen nicht stichhaltig sind.

Nachdem sich im weiteren Verlauf die vom Kläger angegebene spinale Symptomatik verstärkte und zusätzlich im Frühjahr 1998 noch eine Taubheit im Genitalbereich hinzukam, war eine weitere Abklärung des gesamten Spinalkanals um so dringlicher erforderlich. Wenn der Beklagte, wie er behauptet hat, dem Kläger erklärt haben sollte, dass er nach Beginn der psychotherapeutischen Behandlung nicht mehr neurologisch für ihn tätig werden könne, dann war jedenfalls nach den Ausführungen von Prof. Dr. S. eine Empfehlung zur weiteren Abklärung bei einem anderen Neurologen unverzichtbar; dies hat auch der vom Kläger beauftragte Sachverständige Prof. Dr. N. bestätigt. Fehlerhaft war es auch, dem Kläger angesichts der im März 1998 aufgetretenen Paraspastik und Blasenstörung Viagra zu verschreiben, ohne zugleich eine Abklärung der Symptomatik durchzuführen, wobei nach den Ausführungen des Sachverständigen offen bleibt, ob es hierdurch zu einer zusätzlichen Beeinträchtigung des Klägers gekommen ist.

2.)

Was die fehlerhaft unterlassene weitere neurologische Diagnostik betrifft, so ist mit dem Landgericht davon auszugehen, dass die Unterlassung für den jetzigen Zustand des Klägers zumindest mitursächlich geworden ist. Wie der Sachverständige Prof. Dr. S. in seinem Gutachten ausgeführt hat, hätten die beim Kläger bestehenden Beeinträchtigungen im Sinne eines chronischen Schmerzsyndroms beider Beine und einer Einschränkung der Gehfähigkeit sowie der Potenz bei einer früheren adäquaten Therapie mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit im Sinne einer weniger starken Beeinträchtigung vermieden werden können. Retrospektiv lässt sich lediglich nicht sagen, inwiefern - also in welchem Umfang - sich die Symptomatik bei einer früheren Diagnosestellung weniger weit entwickelt oder postoperativ mehr gebessert hätte. Insoweit genügt jedoch eine Mitverursachung durch den Behandlungsfehler des Beklagten; dieser muss sich den gesamten Schaden zurechnen lassen, wenn - wie hier - nicht feststeht, dass der Fehler nur zu einem abgrenzbaren Teil des Schadens geführt hat (vgl. BGH NJW 2000, 2741).

Es spricht einiges dafür, dass die von dem Sachverständigen angegebene sehr hohe Wahrscheinlichkeit ausreicht, um die (Mit-)Ursächlichkeit des Behandlungsfehlers für den eingetretenen Zustand des Klägers mit der für § 286 ZPO erforderlichen Gewissheit zu bejahen. Unabhängig davon hat das Landgericht im Ergebnis zu Recht auch eine Beweislastumkehr hinsichtlich der Ursächlichkeit zu Lasten des Beklagten angenommen. Dabei kann dahin stehen, ob bereits das Unterlassen der weitergehenden Differentialdiagnostik ein grober Behandlungsfehler war, weshalb der Senat keinen Anlass sieht, den Sachverständigen Prof. Dr. S. hierzu ergänzend anzuhören. Denn im Ergebnis war die Zubilligung einer Beweislastumkehr durch das Landgericht richtig, wie sich aus Folgendem ergibt: Der Sachverständige Prof. Dr. S. hat ausgeführt, dass bereits mit der im Zeitpunkt der Erstuntersuchung am 16.04.1997 erforderlichen weitergehenden neurologischen Diagnostik die Diagnose einer ursächlichen thorakalen oder lumbalen Rückenmarksschädigung mit großer Wahrscheinlichkeit hätte gestellt werden können. Das wäre aber ein reaktionspflichtiger Befund gewesen, bei dem es auf alle Fälle völlig unverständlich und grob fehlerhaft gewesen wäre, den Kläger allein psychotherapeutisch zu behandeln, ohne zumindest die weitergehende Abklärung durch einen Neurologen dringend anzuraten. Das liegt so offensichtlich auf der Hand, dass eine ergänzende Befragung des Sachverständigen Prof. Dr. S. hierzu nicht erforderlich ist. Prof. Dr. F. und Prof. Dr. N. haben bereits die alleinige psychotherapeutische Behandlung bei Verdacht auf eine spinale Schädigung und ohne sicheren Ausschluss einer neurologischen Grunderkrankung als grob fehlerhaft angesehen. Prof. Dr. N. hat ganz klar ausgeführt, es sei medizinisch-ethisch nicht vertretbar, einen Patienten mit ungeklärter organischer Ursache einer schweren Gangstörung psychotherapeutisch zu behandeln und zuzusehen, wie die neurologische Symptomatik zunimmt, ohne dann die Psychotherapie abzubrechen. Auch der Beklagte kann nicht ernsthaft bezweifeln, dass dies erst Recht gelten muss, wenn die Diagnose einer Rückenmarksschädigung bereits gestellt ist. Danach muss der Beklagte beweisen, dass die Verzögerung der Diagnostik und Behandlung nicht mitursächlich für den jetzigen Zustand des Klägers geworden ist. Davon kann indessen nach dem Gutachten von Prof. Dr. S. nicht ausgegangen werden.

3.)

Der Beklagte schuldet dem Kläger danach dem Grunde nach die Zahlung eines Schmerzensgeldes, dessen Höhe - jedenfalls auch - davon abhängt, welche Beschwerden des Klägers aufgrund des Behandlungsfehlers heute noch bestehen und wie die Prognose hinsichtlich der weiteren Entwicklung ist. Hierüber wird das Landgericht nach Durchführung der vorgesehenen ergänzenden Beweisaufnahme zu entscheiden haben, wobei ein Betrag in der vom Kläger angegebenen Größenordnung nach derzeitigem Stand unter Berücksichtigung der Untersuchungsergebnisse des Sachverständigen aus Februar 2003 wohl kaum in Betracht kommen dürfte.

B) Feststellungsklage

Die Feststellungsklage ist insgesamt zulässig und begründet.

1.)

Soweit das Landgericht den Feststellungsantrag hinsichtlich bereits entstandener materieller Schäden als unzulässig angesehen hat, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Es trifft allerdings zu, dass ein Feststellungsinteresse (§ 256 Abs. 1 ZPO) regelmäßig fehlt, wenn es um einen in der Vergangenheit abgeschlossenen Vorgang geht und nicht erkennbar und vom Kläger auch nicht nachvollziehbar dargelegt wird, inwiefern hieraus noch in der Zukunft Schäden entstehen könnten. Dann ist dem Kläger insoweit die Erhebung einer Leistungsklage in aller Regel möglich und zumutbar (vgl. BGH, VersR 1991, 788, 789). Ist bei Klageerhebung ein Teil des Schadens schon entstanden, die Entstehung weiteren Schadens aber noch zu erwarten, so ist der Kläger jedoch grundsätzlich nicht gehalten, seine Klage in eine Leistungs- und in eine Feststellungsklage aufzuspalten (BGH, NJW 2003, 2827 sowie NJW 1988, 3268 f. jeweils m.w.N.).

So liegt der Fall hier. Die Entstehung eines Erwerbsschadens war nach dem Vorbringen des Klägers im Zeitpunkt der Klageerhebung noch nicht abgeschlossen, mögen auch die Ausfälle für die zurückliegenden Jahre unter Umständen bereits bezifferbar gewesen sein. Die vom Landgericht vorgenommene Aufspaltung hätte zur Konsequenz, dass von dem Feststellungsausspruch nur die nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung entstehenden Erwerbsschäden erfasst wären, aber z.B. auch nicht die zwischen der Klageerhebung und der letzten mündlichen Verhandlung entstandenen Schäden. Diese konnte der Kläger im Zeitpunkt der Klageerhebung noch gar nicht beziffern und er war auch nicht gehalten, eine mögliche Bezifferung im Verlauf des Verfahrens nachzuholen (BGH, a.a.O.). Insoweit hat das Landgericht die Klage zu Unrecht teilweise abgewiesen.

2.)

Die Feststellungsklage ist auch hinsichtlich der materiellen Schäden aus § 823 Abs. 1 BGB sowie nach den Grundsätzen der positiven Vertragsverletzung (pVV), hinsichtlich der künftigen immateriellen Schäden aus den §§ 823 Abs. 1, 847 BGB (a.F.) begründet. Das ergibt sich bereits daraus, dass der haftungsrechtlich relevante Eingriff des Beklagten in das geschützte Rechtsgut (Gesundheit) des Klägers zu den für die Zukunft befürchteten Schäden führen kann; eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts ist nicht erforderlich (vgl. BGH, NJW 2001, 1431, 1432). Bezüglich der künftigen immateriellen Schäden könnte der Feststellungsanspruch nur verneint werden, wenn aus der Sicht des Klägers bei verständiger Beurteilung kein Grund bestehen kann, mit Spätfolgen immerhin zu rechnen (vgl. BGH, NJW-RR 1989, 1367). Hier ist eine unvorhersehbare Verschlechterung der Beschwerden jedenfalls nicht völlig ausgeschlossen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 91 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Revisionszulassung ist nicht veranlasst.

Die Beschwer des Klägers liegt unter 20.000 EUR, die des Beklagten darüber.

Streitwert: (bis zu) EUR 185.000;

davon entfällt auf den Feststellungsantrag ein Betrag von EUR 30.000. Mit diesem Betrag ist das Interesse des Klägers an der begehrten Feststellung trotz des dahinter stehenden Verdienstausfalls ausreichend bemessen (§ 3 ZPO), da der Kläger lediglich die Feststellung der Verpflichtung des Beklagten zum Ersatz im Antrag nicht näher bestimmter materieller Schäden begehrt. Mit einer solchen allgemein gehaltenen Feststellung erhält der Kläger lediglich einen rechtskraftfähigen Ausspruch des Inhalts, dass der Beklagte ihm zum Ersatz materiellen Schadens verpflichtet ist und dass ein solcher Schaden mit einiger Sicherheit bereits entstanden ist oder künftig entstehen wird. Ob ein bestimmter Schaden, etwa Verdienstausfall, von der Haftpflicht des Beklagten erfasst wird und, wenn ja, wie hoch der zu leistende Ersatz ist, wird mit der antragsgemäßen Feststellung nicht entschieden. Das Interesse des Klägers an der beantragten Feststellung rechtfertigt deshalb nicht annähernd eine Bewertung im Bereich einer auf Ersatz der angeführten Schadensposten gerichteten Leistungsklage.

Ende der Entscheidung

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