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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Beschluss verkündet am 08.12.2008
Aktenzeichen: VII-Verg 55/08
Rechtsgebiete: ZPO, GWB, VgV


Vorschriften:

ZPO § 138 Abs. 1
GWB § 97 Abs. 4
GWB § 97 Abs. 4 2. Hs.
GWB § 97 Abs. 7
GWB § 107 Abs. 3 Satz 1
GWB § 107 Abs. 3 Satz 2
GWB § 128 Abs. 3
GWB § 128 Abs. 4
VgV § 13
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Die Rechtsmittel der Verfahrensbeteiligten gegen den Beschluss der Vergabekammer bei der Bezirksregierung Arnsberg vom 21. August 2008 (VK 16/08) werden in der Hauptsache zurückgewiesen.

In dem die Entscheidung über die Kosten und Aufwendungen betreffenden Punkt wird der Beschluss aufgehoben.

Die Kosten des Verfahrens der Vergabekammer werden zur Hälfte der Antragstellerin und - insoweit als Gesamtschuldnern - zur weiteren Hälfte der Antragsgegnerin und der Beigeladenen auferlegt.

Aufwendungen der Verfahrensbeteiligten im Verfahren der Vergabekammer werden nicht erstattet.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden zur Hälfte der Antragstellerin und der Antragsgegnerin sowie der Beigeladenen zu je einem Viertel auferlegt. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Streitwert für das Beschwerdeverfahren: bis 170.000 Euro

Gründe:

I. Die Antragsgegnerin schrieb im März 2008 Abfallentsorgungsdienstleistungen innerhalb ihres Stadtgebiets im offenen Verfahren europaweit aus.

In der Leistungsbeschreibung war u.a. angegeben:

Der Auftragnehmer verpflichtet sich, für die Durchführung der Abfuhr von Restmüll, Biomüll und Altpapier überwiegend Vollzeitkräfte ... einzusetzen. Es erfolgt eine tarifvertragliche Bezahlung der Arbeitnehmer nach dem jeweils für den Auftragnehmer zutreffenden Tarifvertrag.

§ 3 Abs. 8 des den Verdingungsunterlagen beigefügten Vertragsentwurfs lautete:

Der Auftragnehmer verpflichtet sich, für die Durchführung der Abfuhr von Restmüll, Biomüll und Altpapier überwiegend Vollzeitkräfte ... einzusetzen. Der Auftragnehmer verpflichtet sich zur tarifvertraglichen Bezahlung der Arbeitnehmer nach dem für den Auftragnehmer jeweils zutreffenden Tarifvertrag.

Eine diesbezügliche Anfrage der Antragstellerin beantwortete die Antragsgegnerin unter dem 2.4.2008 wie folgt:

Die Leistungsbeschreibung fordert eine tarifvertragliche Bezahlung aller für die Vertragserfüllung eingesetzten Mitarbeiter. Es gilt in diesem Zusammenhang der für den Auftragnehmer zutreffende Tarifvertrag. Dies ist i.d.R. der Tarifvertrag zwischen dem BDE und Verdi. ... Der Auftraggeber behält sich vor, während der Vertragslaufzeit die entsprechende Bezahlung der Mitarbeiter zu prüfen. Diese Bezahlung stellt eine vertragliche Verpflichtung dar und kann mit einer Vertragsstrafe von 200,- Euro je Tag belegt werden (Unterstreichung aus dem Original übernommen).

Die Antragstellerin und die Beigeladene beteiligten sich mit Angeboten an der Ausschreibung.

Durch Bieterinformation vom 19.6.2008 teilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin mit, den Zuschlag auf das Angebot der Beigeladenen zu vergeben. Mit Rügeschreiben vom 24.6.2008 bezweifelte die Antragstellerin die Zuverlässigkeit und Fachkunde der Beigeladenen. Ferner vermutete sie eine unvollständige Einreichung von Eignungsnachweisen durch die Beigeladene, untertarifliche Bezahlung und ein Missverhältnis zwischen Preisen und Leistungen.

Auf den im Wesentlichen auf dieselben Beanstandungen gestützten und um die Frage der Tariftreue ergänzten Nachprüfungsantrag und Vortrag der Antragstellerin hat die Vergabekammer der Antragsgegnerin untersagt, auf der Grundlage des bisherigen Vergabeverfahrens einen Zuschlag zu erteilen. Für den Fall fortbestehender Beschaffungsabsicht hat sie der Antragsgegnerin aufgegeben, das Vergabeverfahren in den Stand nach der Vergabebekanntmachung zurückzuversetzen und die Verdingungsunterlagen zu korrigieren. Nach Auffassung der Vergabekammer hat die Antragsgegnerin in den Verdingungsunterlagen vergaberechtswidrig eine tarifvertragliche Entlohnung von Arbeitskräften gefordert und dadurch die Antragstellerin in ihren Rechten verletzt. Auf die Gründe des Beschlusses der Vergabekammer wird verwiesen.

Gegen die Entscheidung der Vergabekammer gehen alle Verfahrensbeteiligten mit der sofortigen Beschwerde vor.

Die Antragstellerin begehrt mit dem Rechtsmittel hauptsächlich, dass - unter Ausschluss des Angebots der Beigeladenen - auf eine bloße Wiederholung der Angebotswertung erkannt werde.

Die Antragsgegnerin hat sich der Beschwerde der Antragstellerin angeschlossen. Nach ihrem Willen soll der Nachprüfungsantrag abgelehnt werden. Die Beigeladene verfolgt mit der sofortigen Beschwerde dasselbe Ziel.

Die Antragstellerin meint, die Beigeladene sei vom Vergabewettbewerb auszuschließen. Sie habe nicht - wie in der Vergabebekanntmachung gefordert - Umsatzangaben für das Jahr 2007, sondern nur bis zum Jahr 2006 gemacht. Auch seien unvollständige Preisangaben der Beigeladenen zu vermuten.

Die Antragstellerin beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses die Antragsgegnerin zu verpflichten, die Wertung der Angebote unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats und unter Ausschluss des Angebots der Beigeladenen zu wiederholen,

hilfsweise,

der Beigeladenen zu untersagen, sich an einem von der Antragsgegnerin für den Fall eines Festhaltens an der Beschaffungsabsicht zu wiederholenden Vergabeverfahrens zu beteiligen.

Die Antragsgegnerin - diese im Wege der Anschlussbeschwerde - und die Beigeladene beantragen,

unter Aufhebung des Beschlusses der Vergabekammer den Nachprüfungsantrag zurückzuweisen.

Die Antragsgegnerin und die Beigeladene machen eine Verletzung der Rügeobliegenheit durch die Antragstellerin geltend. Sie verneinen auch eine vergaberechtswidrige Tariftreueforderung. Die Beigeladene sieht außerdem keine Beschwer der Antragstellerin.

Wie im Beschwerdeverfahren außer Streit steht, unterliegt die Beigeladene keiner Tarifbindung. Sie legte - genauso wie die Antragstellerin - der Preiskalkulation jedoch den einschlägigen, nicht für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag zugrunde.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze und die Anlagen Bezug genommen.

II. Die Rechtsmittel sind unbegründet. Die Entscheidung der Vergabekammer ist unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zu bemängeln.

1. Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin ist zulässig. Ihr fehlt - wie allerdings die Beigeladene annimmt - nicht die erforderliche Beschwer. Die Antragstellerin ist im Verfahren vor der Vergabekammer mit dem Antrag, die Antragsgegnerin zu verpflichten, den Zuschlag auf ihr Angebot zu erteilen, formell und materiell unterlegen. Die Ansicht der Beigeladenen, die Antragstellerin habe den Antrag im erstinstanzlichen Nachprüfungsverfahren fallengelassen, ist ohne tatsächliche Grundlage. Auch erlaubt der Umstand, dass die Antragstellerin jenen Antrag im Beschwerdeverfahren nicht weiterverfolgt, keinen Rückschluss auf das Vorliegen einer Beschwer.

2. Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin ist zulässig.

a) Die Antragsbefugnis (§ 107 Abs. 2 GWB) der Antragstellerin ist von der Antragsgegnerin oder der Beigeladenen nicht in Zweifel gezogen worden. Sie ist gegeben, da die Antragstellerin ihr Interesse am Auftrag durch Einreichen eines Angebots demonstriert und eine Rechtsverletzung, aus der ihr, der Antragstellerin, aufgrund einer fehlerhaften Vergabeentscheidung ein Schaden droht, mit dem Nachprüfungsantrag jedenfalls insoweit behauptet hat, als die Beigeladene ihre Arbeitskräfte entgegen der von der Antragsgegnerin in den Verdingungsunterlagen aufgestellten Forderung angeblich untertariflich bezahle.

Die Schlüssigkeit dieser Darlegung einer Rechtsverletzung ist - wie auch sonst, wenn es darum geht, ob ausreichend vorgetragen worden ist - nicht davon abhängig zu machen, dass der Antragsteller positive Kenntnis von den als Tatsache behaupteten Umständen hat. Ein sachgerechter Rechtsschutz wäre in vielen Fällen nicht gewährleistet, wenn nur vorgetragen werden könnte, worüber Gewissheit besteht. Denn oft ist es dem Antragsteller, nicht möglich, sich überhaupt oder jedenfalls vor Beginn des Verfahrens eigene Kenntnis von den maßgeblichen Tatsachenvorgängen zu verschaffen. Die Wahrheitspflicht der Verfahrensbeteiligten, ohne die ein geordneter Rechtsschutz im Rahmen eines förmlichen Verfahrens nicht möglich ist und die deshalb im Vergabenachprüfungsverfahren auch ohne eine § 138 Abs. 1 ZPO entsprechende Norm im vierten Teil des GWB gilt, verlangt deshalb lediglich eine subjektive Wahrhaftigkeit und verbietet nur, Erklärungen wider besseres Wissen abzugeben. Deshalb darf im Vergabenachprüfungsverfahren behauptet werden, was der Betreffende aus seiner Sicht der Dinge für wahrscheinlich oder möglich hält. Lediglich willkürliche, aufs Geradewohl oder ins Blaue hinein aufgestellte Behauptungen sind unzulässig und prozessual unbeachtlich (vgl. BGH, Beschl. v. 26.9.2006 - X ZB 14/06, VergabeR 2007, 59, 65 f. Rn. 39 m.w.N. im Hinblick auf die Rechtsprechung des BGH).

Im Streitfall hatte die Antragstellerin Anhaltspunkte für die Geltendmachung einer Rechtsverletzung. Denn wie ihr bekannt war, unterlag die Beigeladene keiner Tarifbindung. Dies legte aus der Sicht der Antragstellerin die Annahme nahe, dass sie, die Beigeladene, Arbeitskräfte untertariflich vergüte und infolgedessen gegen eine in der Leistungsbeschreibung geforderte Tarifeinhaltung verstieß. Wertete die Antragsgegnerin das Angebot der Beigeladenen trotzdem, kann darin eine Rechtsverletzung der Antragstellerin liegen. Zumindest würde gegen das Gleichbehandlungsgebot verstoßen worden sein. Denn die einem Tarifvertrag unterliegende Antragstellerin hat - wie außer Streit steht - die angebotenen Preise nach den geltenden Tarifen kalkuliert.

b) Eine Verletzung der Rügeobliegenheit (§ 107 Abs. 3 Satz 1 GWB) wegen nicht unverzüglicher Beanstandung eines erkannten Vergaberechtsverstoßes durch die Antragstellerin ist nicht festzustellen. Die Rügeobliegenheit entsteht erst, nachdem der Antragsteller von der zum Gegenstand des Nachprüfungsverfahrens gemachten Nichtbeachtung von Vergaberechtsvorschriften weiß. Dies setzt die positive Kenntnis aller tatsächlichen Umstände, aus denen die Beanstandung im Nachprüfungsverfahren abgeleitet wird, sowie die zumindest laienhafte Wertung voraus, dass sich aus ihnen eine Missachtung von Bestimmungen über das Vergabeverfahren ergibt. Wie auch sonst, wenn das Gesetz auf positive Kenntnis abstellt, bilden eine Ausnahme nur die Fälle, in denen der Antragsteller sich der vorausgesetzten und ihm möglichen Erkenntnis bewusst verschließt. Ansonsten reicht (anders als im Fall des im Streitfall nicht einschlägigen § 107 Abs. 3 Satz 2 GWB) bloße Erkennbarkeit nicht aus (BGH, Beschl. v. 26.9.2006 - X ZB 14/06, VergabeR 2007, 59, 65 Rn. 35 und ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. Beschl. v. 16.2.2005 - VII-Verg 74/04, VergabeR 2005, 364, 367 m.w.N.). Um die Notwendigkeit einer Rüge und deren Unverzüglichkeit beurteilen zu können, bedarf es - vom Ausnahmefall eines Sich-der-Erkenntnis-Verschließens abgesehen - im Rahmen des § 107 Abs. 3 Satz 1 GWB deshalb der Feststellung, dass und ab wann der Antragsteller die Umstände kannte, aus denen sich eine Verletzung von Vergabevorschriften ergibt, und dass er damit zumindest laienhaft tatsächlich die Annahme eines Vergaberechtsverstoßes verbunden hat. Ist dem Antragsteller hingegen nicht zu widerlegen, dass er auf den behaupteten Vergaberechtsverstoß nur geschlossen oder ihn vermutet hat, ohne davon positive Kenntnis zu haben, ist eine Rüge vor Anbringung des Nachprüfungsantrags entbehrlich. Erkennt der Antragsteller vor Anbringung des Nachprüfungsantrags keinen Vergaberechtsverstoß oder erhält er erst nach Einleitung des Nachprüfungsverfahrens davon Kenntnis, führt dies zu keiner Rügeobliegenheit nach § 107 Abs. 3 Satz 1 GWB, weil dann deren Zweck, ein Nachprüfungsverfahren nach Möglichkeit zu vermeiden, nicht erreicht werden kann (vgl. BGH a.a.O. Rn. 37 sowie ebenfalls ständige Rechtsprechung des Senats a.a.O.). Ein (erst) im Nachprüfungsverfahren erkannter Vergaberechtsverstoß kann nach der insoweit eindeutigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs mithin keine, genauso wenig eine erneute Rügeobliegenheit auslösen (anders OLG Celle, Beschl. v. 8.3.2007 - 13 Verg 2/07, VergabeR 2007, 401, 402). Dafür ist keine Rechtsgrundlage vorhanden.

Im Streitfall steht die Missachtung einer Rügeobliegenheit der Antragstellerin nach § 107 Abs. 3 Satz 2 GWB nicht im Streit. Dafür sind auch sonst Anhaltspunkte nicht hervorgetreten. Allerdings streiten die Verfahrensbeteiligten über eine Verletzung der Rügeobliegenheit gemäß § 107 Abs. 3 Satz 1 GWB. Was die mit Rügeschreiben vom 24.6.2008 angebrachten Beanstandungen betrifft (Zuverlässigkeit und Fachkunde der Beigeladenen, unvollständige Einreichung von Eignungsnachweisen, untertarifliche Bezahlung durch die Beigeladene und Missverhältnis zwischen Preisen und Leistungen), kann eine Obliegenheitsverletzung der Antragstellerin indes nicht festgestellt werden. Die entsprechenden Tatsachengrundlagen waren der Antragstellerin ohne Kenntnis der Vergabeakten, in die ihr erst im Vergabenachprüfungsverfahren Einsicht gewährt worden ist, nicht bekannt. Darum unterlag die Antragstellerin insofern keiner Rügeobliegenheit, sondern konnte einen Nachprüfungsantrag ohne eine vorherige Rüge stellen.

Was eine Tarifbindung anbetrifft, hat ungeachtet der Frage, ob eine solche - zulässig - von der Antragsgegnerin gefordert worden ist, zu gelten: Der Umstand, dass die Antragstellerin eine in der Leistungsbeschreibung und im Vertragsentwurf formulierte Pflicht zur Tariftreue eingehalten und sich - so die Beigeladene - bei der Angebotsvorbereitung damit auseinandergesetzt und danach kalkuliert hat, belegt nicht, dass sie in dem betreffenden Vorgang einen Vergaberechtsverstoß gesehen und auch unter anwaltlicher Beratung zu irgendeinem, vor der unter dem 24.6.2008 ausgebrachten Rüge liegenden Zeitpunkt Kenntnis von einem derartigen Rechtsverstoß besessen hat. Dazu ist daran zu erinnern:

Das Bundesverfassungsgericht hat unter dem 11.7.2006 (1 BvL 4/00, VergabeR 2007, 42) entschieden, dass Tarifbindungen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sind. Unter dem 7.11.2006 hat der Bundesgerichtshof (KZR 2/06, NZBau 2007, 459 = WuW/E DE-R 1951) geurteilt, dass soziale Belange - und unter Umständen nicht fern liegend auch: Tarifbindungen - bei der Vergabe öffentlicher Aufträge berücksichtigt werden dürfen. Allerdings hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften durch Urteil vom 3.4.2008 entschieden (Rs. C-346/06, EuZW 2008, 306 = VergabeR 2008, 478), dass Tariftreue nur bei allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen gefordert werden darf; um derartige Tarifverträge geht es im vorliegenden Fall nicht. Auch hat der Senat im Beschluss vom 5.5.2008 (VII-Verg 5/08) obiter dictum ausgeführt, dass ein Angebot, welches die geforderte Bindung an einen nicht für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag nicht wahrt, von der Wertung nicht ausgeschlossen werden darf.

Daraus folgt für den Streitfall: Innerhalb der bis zum 6.5.2008 laufenden Angebotsabgabefrist ist die Antragstellerin auch unter Berücksichtigung des Urteils des EuGH und möglicher anwaltlicher Beratung nicht feststellbar darüber ins Reine gekommen, ob eine in den Verdingungsunterlagen ausgesprochene Bindung an einen einschlägigen Tarifvertrag vergaberechtlich zulässig war. Das Urteil des EuGH war nicht schon am Tag seines Ergehens bekannt. Es bedurfte mit Blick auf die Rechtsfolgen darüber hinaus einer juristischen Auswertung sowie auch deren Bekanntwerdung. Bei diesem Befund bestand für die Antragstellerin kein, erst recht kein von der Antragsgegnerin oder der Beigeladenen genannter Anlass, in der Phase vor Einreichung des Angebots anwaltliche Berater mit der Frage der Zulässigkeit einer Tarifbindung zu befassen. Der Antragsteller ist nicht gehalten, zur Ermittlung eines Vergaberechtsverstoßes Nachforschungen anzustellen oder Rechtsanwälte einzuschalten. Ungeachtet dessen haben die - insoweit darlegungs- und beweispflichtige - Antragsgegnerin oder die Beigeladene ebenso wenig Gesichtspunkte vorgetragen, aus denen zu schließen sein kann, die Antragstellerin selbst habe bis zum Ablauf der Angebotsfrist in einer Tarifbindung einen Vergaberechtsverstoß erkannt. Der Umstand, dass die Antragstellerin um ihre eigene Tarifbindung wusste und ihrer Angebotskalkulation den geltenden Tarifvertrag zugrunde gelegt hat, belegt nicht, dass sie in einer Tariftreueforderung der Antragsgegnerin auch in rechtlicher Hinsicht einen Vergaberechtsverstoß erkannt hat. Ein Rechtsverstoß mag insoweit zwar erkennbar gewesen sein. Doch kommt es darauf nach § 107 Abs. 3 Satz 1 GWB nicht an.

Für die Zeit nach Ablauf der Angebotsabgabefrist bis zur Rüge vom 24.6.2008 kann die Erlangung einer Kenntnis von einem Vergaberechtsverstoß bei der Antragstellerin ebenso wenig festgestellt werden. Durchgreifende Zweifel daran sind schon deswegen begründet, weil der Antragsteller nach Abgabe des Angebots bis zum Zugang der Bieterinformation nach § 13 VgV in der Regel keine Veranlassung (mehr) hat, sich mit der vergaberechtlichen Zulässigkeit der in den Ausschreibungsbedingungen vom Auftraggeber gestellten Forderungen (erneut) zu befassen. Der Antragsteller ist auch in der Phase zwischen Ablauf der Angebotsfrist und Bieterinformation nicht gehalten, nach Vergaberechtsverstößen zu forschen. Gegenteiliges ist von der Antragsgegnerin oder der Beigeladenen nicht vorgetragen worden.

Zwar hat die Antragstellerin ebenso wenig mit der Rüge vom 24.6.2008 beanstandet, die Antragsgegnerin habe - vergaberechtlich unzulässig - in den Verdingungs-unterlagen eine Tarifbindung verlangt. Doch kann genauso wenig festgestellt werden, die Antragstellerin habe zu diesem Zeitpunkt, und zwar auch bei anwaltlicher Beratung, in rechtlicher Hinsicht darin einen Vergaberechtsverstoß erkannt und nicht lediglich - worauf nach Maßgabe von § 107 Abs. 3 Satz 1 GWB nicht abzustellen ist - zurechenbar erkennen können. Prozessual geht dies zu Lasten der Antragsgegnerin und der Beigeladenen. Ein Rechtsverstoß der Antragsgegnerin war mit Rücksicht auf das Urteil des EuGH vom 3.4.2008 und den Beschluss des Senats vom 5.5.2008 (s.o.) nicht offensichtlich. Darüber konnte - wie es im Nachprüfungsverfahren tatsächlich auch geschehen ist - zudem gestritten werden. Zu Meinungsverschiedenheiten konnte insbesondere Anlass geben, dass die Antragsgegnerin in den Verdingungsunterlagen keine (möglicherweise unzulässige) Tariftreueerklärung verlangt hatte, sondern lediglich eine Bindung an einen einschlägigen (zutreffenden) Tarifvertrag. Streiten die Verfahrensbeteiligten im Nachprüfungsverfahren über die sachliche Berechtigung einer vergaberechtlichen Beanstandung kann dies für die Feststellung einer Kenntnis des Antragstellers von einem Vergaberechtsverstoß indiziell bedeutsam sein. Im Streitfall ist die Feststellung einer bei der Antragstellerin vorhandenen Kenntnis ausgeschlossen. Auch lässt die Tatsache, dass die Antragstellerin den in einer Tarifbindung liegenden Vergaberechtsverstoß vorprozessual nicht gerügt hat, im Streitfall eher darauf schließen, dass sie einen solchen Rechtsverstoß trotz rechtsanwaltlicher Beratung nicht erkannt hat. Anderenfalls wäre eine Beanstandung zu erwarten gewesen. Nach Lage der Dinge sind ebenso wenig Anhaltspunkte für die Annahme gegeben, die Antragstellerin habe sich in dem genannten Punkt - zurechenbar - der Erkenntnis eines Vergaberechtsverstoßes verschlossen.

3. Der Nachprüfungsantrag ist begründet.

a) Die Antragsgegnerin hat in den im tatbestandlichen Teil dieses Beschlusses auszugsweise wiedergegebenen Ausschreibungsbedingungen von den Bietern unmissverständlich eine Tarifbindung verlangt und diese verpflichtet, sich dem für sie einschlägigen Tarifvertrag zu unterwerfen, m.a.W. die Preise so zu kalkulieren und im Auftragsfall die einzusetzenden Arbeitskräfte so zu vergüten, wie es dem jeweils anzuwendenden Tarifvertrag entspricht. Dies geht mit hinreichender Deutlichkeit aus den zitierten Vorgaben in der Leistungsbeschreibung, jenen in § 3 Abs. 8 des Vertragsentwurfs, welcher Bestandteil der Verdingungsunterlagen ist, sowie aus der Beantwortung einer diesbezüglichen Anfrage der Antragstellerin durch die Antragsgegnerin unter dem 2.4.2008 hervor. Dabei handelt es sich nicht um einen bloßen - unschädlichen - Hinweis auf das Gebot, die geltende Arbeitsrechtsordnung einzuhalten. Die Forderung einer Tarifbindung war konstitutiv, wie sich indiziell im Übrigen auch daran erweist, dass die tarifvertraglich an sich ungebundene Beigeladene - wie außer Streit steht - ihrer Preisbildung den einschlägigen Tarifvertrag zugrunde gelegt hat.

Die Forderung einer Tarifbindung ist vergaberechtlich zu beanstanden, denn die geltende Gesetzeslage gibt zumindest im Land Nordrhein-Westfalen für den öffentlichen Auftraggeber nichts dafür her, von den Bietern die Wahrung von Tarifverträgen zu verlangen, da dies durch ein Bundes- oder Landesgesetz nicht vorgesehen ist (vgl. § 97 Abs. 4, 2. Hs. GWB). Dies ist vom Senat in dem den Verfahrensbeteiligten bekannten Beschluss vom 5.5.2008 (VII-Verg 5/08 unter II. 3. a)) im Einzelnen ausgeführt und begründet worden. Darauf wird Bezug genommen. Die Antragstellerin ist durch die Verwendung einer vergaberechtlich unzulässigen Bestimmung in den Verdingungsunterlagen in ihren Rechten verletzt worden. Die Vorschrift des § 97 Abs. 4, 2. Hs. GWB, wonach Anforderungen wie eine Tarifbindung vom öffentlichen Auftraggeber nur gestellt werden dürfen, wenn dies durch Bundes- oder Landesgesetz vorgesehen ist, ist in Verbindung mit § 97 Abs. 7 GWB bieterschützend. Tatsächlich sind durch die Tariftreueforderung der Antragsgegnerin und deren Beachtung durch die Antragstellerin auch deren Zuschlagschancen geschmälert worden. Sie hätte ohne die Forderung der Antragsgegnerin den Einsatz tariflich ungebundener Arbeitskräfte oder tariflich nicht gebundener Nachunternehmer einplanen und dadurch beim Zuschlagskriterium des Preises ein besseres Wertungsergebnis erzielen können. Welches konkrete Angebot sie ohne eine Tarifbindung abgegeben hätte, muss die Antragstellerin im Nachprüfungsverfahren nicht darlegen.

Aufgrund des festzustellenden Vergaberechtsverstoßes ist - wie die Vergabekammer mit Recht erkannt hat - eine (teilweise) Wiederholung des Vergabeverfahrens vom Stande vor der Angebotsaufforderung und Übersendung der Verdingungsunterlagen an unvermeidbar. Dabei wird die Antragsgegnerin Gelegenheit haben, die Ausschreibungs- und Vertragsbedingungen um die unzulässige Tariftreueforderung zu bereinigen. Eine bloße Wiederholung der Angebotswertung - wie von der Beschwerde der Antragstellerin angestrebt - scheidet hingegen aus. Dadurch würde der Rechtsverstoß nicht behoben werden. Von daher hat die Vergabekammer der Antragsgegnerin mit Recht auch untersagt, auf der Grundlage des bisherigen Vergabeverfahrens einen Zuschlag zu erteilen.

b) Die Beigeladene bleibt am Vergabeverfahren beteiligt. Die von der Antragstellerin dagegen angeführten Gründe - ungenügende Eignung der Beigeladenen, unvollständige Einreichung geforderter Eignungsnachweise, Missverhältnis zwischen Preisen und Leistungen sowie (vermutet) unvollständige, da unzutreffende Preisangaben - sind unerheblich. Das Angebot der Beigeladenen oder die Beigeladene selbst mag wegen der genannten Beanstandungen vom bisherigen Vergabeverfahren auszuschließen gewesen sein. Solche Ausschlussgründe wirken sich jedoch jetzt nicht mehr aus, da das Vergabeverfahren teilweise zu wiederholen ist. Im wiederholten Vergabeverfahren wird die Beigeladene - wie die Antragstellerin - Gelegenheit haben, ein erneutes Angebot einzureichen und dabei in jedweder Hinsicht denkbare Bemängelungen zu vermeiden. Ob die behaupteten Ausschlussgründe gegen die Beigeladene vorliegen, kann deshalb dahingestellt bleiben.

Die Entscheidung über die Kosten und Aufwendungen beruht auf § 128 Abs. 3 und 4 GWB sowie auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 97 Abs. 1, 92 Abs. 1 ZPO. Die Antragstellerin ist im erstinstanzlichen Nachprüfungsverfahren zu einem erheblichen Teil unterlegen. Das Unterliegen rechtfertigt eine hälftige Kostentragung, da der Antrag der Antragstellerin, die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihr, der Antragstellerin, den Zuschlag zu erteilen, zu Recht abgelehnt worden ist.

Ende der Entscheidung

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