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Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Beschluss verkündet am 21.04.2008
Aktenzeichen: 1 Ss 313/07
Rechtsgebiete: BtMG, JGG


Vorschriften:

BtMG § 29
JGG § 17
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

Das Amtsgericht Frankfurt am Main hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (Crack) sowie wegen unerlaubten Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland schuldig gesprochen und ihn deswegen zu einer Jugendstrafe von 6 Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Gegen dieses Urteil richtet sich die gem. § 335 StPO statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und in gleicher Weise mit der Sachrüge begründete Sprungrevision des Angeklagten.

Die Revision hat in der Sache den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg.

Die Feststellungen tragen den Schuldspruch wegen unerlaubten Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland nicht. Das Amtsgericht hat diesbezüglich und bezüglich der Personalien und Nationalität des Angeklagten Folgendes festgestellt:

"Der Angeklagte ist nach seinen unwiderlegbaren Angaben in O1/L1 geboren worden und dort im elterlichen Haushalt auch aufgewachsen. Nach den Erfahrungen des Gerichts mit jungen Straftätern aus dem nordafrikanischen Raum ist es allerdings ebenso gut möglich, dass der Angeklagte tatsächlich aus L2 stammt und der Volksgruppe der A angehört. ...

Der Angeklagte hat in seinem Heimatland drei Jahre lang die Schule besucht und kann nach eigenen Angaben lesen und schreiben. Nachdem verschiedene Gelegenheitsarbeiten nicht zum Unterhalt des Angeklagten und seiner Familie ausreichten, hat er im Jahr 2003 sein Heimatland verlassen, sich zunächst in L3 und anschließend längere Zeit in L4 aufgehalten. ...

Ende März 2007 begab sich der Angeklagte, welcher bereits einmal von Deutschland nach L4 zurückgeschoben worden war, wiederum in die Bundesrepublik Deutschland, ohne im Besitz der auf Grund seiner Herkunft notwendigen aufenthaltsrechtlichen Erlaubnis zu sein."

Diese Feststellungen reichen im Hinblick auf die im Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6.3.2003 - 2 BvR 397/02 - aufgezeigten Maßstäbe für eine Verurteilung nicht aus. Aus den Feststellungen des Amtsgerichts ergibt sich vielmehr, dass der Angeklagte möglicherweise einen Anspruch auf die Aussetzung seiner Abschiebung nach § 60 a Abs. 2 AufenthaltsG hatte. Dies stünde einer Strafbarkeit wegen unerlaubten Aufenthalts ohne erforderlichen Aufenthaltstitel gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthaltsG entgegen. Dessen hat das Amtsgericht den Angeklagten für schuldig befunden. Die im angefochtenen Urteil in der Aufzählung der angewendeten Strafvorschriften genannte Norm des § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthaltsG stellt den Aufenthalt unter Verletzung der Passpflicht unter Strafe; in den Gründen wird aber allein auf die Frage der fehlenden Aufenthaltserlaubnis abgestellt und finden sich keinerlei Feststellungen zum (Nicht-) Besitz eines Passes.

Zur Frage der Strafbarkeit des unerlaubten Aufenthalts im Bundesgebiet nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG (heute: § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) hat das Bundesverfassungsgericht in dem genannten Beschluss vom 6.3.2003 ausgeführt, es entspreche der gesetzgeberischen Konzeption des Ausländergesetzes (heute: Aufenthaltsgesetz), einen vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen entweder unverzüglich abzuschieben oder ihn nach § 55 Abs. 2 AuslG zu dulden (heute: nach § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG seine Abschiebung auszusetzen). Dabei habe die Ausländerbehörde zu prüfen, ob und gegebenenfalls wann eine Abschiebung des Ausländers durchgeführt und zu welchem Zeitpunkt ein eventuelles Abschiebungshindernis behoben werden könne. Schon dann, wenn sich herausstelle, dass die Abschiebung nicht ohne Verzögerung durchgeführt werden könne, sei - unabhängig von einem Antrag des Ausländers - als gesetzlich vorgeschriebene förmliche Reaktion auf ein Vollstreckungshindernis eine Duldung zu erteilen (heute: die Abschiebung auszusetzen). Dies habe auch dann zu erfolgen, wenn er die Entstehung des Hindernisses (z. B. durch Mitführen gefälschter Papiere bei der Einreise) oder dessen nicht rechtzeitige Beseitigung (etwa durch unterlassene Mitwirkung bei der Beschaffung notwendiger Identitätspapiere) zu vertreten habe. Die Strafgerichte seien von Verfassungs wegen verpflichtet, selbstständig zu prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer ausländerrechtlichen Duldung (heute: Aussetzung der Abschiebung) im Tatzeitraum gegeben waren. Sofern sie zur Überzeugung kommen, diese Voraussetzungen hätten vorgelegen, scheide eine Strafbarkeit des Ausländers nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG (heute: § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) aus.

Dies gilt nach der Rechtsprechung des BGH (StV 2005, 24) jedoch nur dann, wenn die Ausländerbehörde Kenntnis vom Aufenthalt des Ausländers hat. Der BGH (a.a.O.) führt zur Begründung dieser Ausnahme aus, dass dann, wenn der Aufenthalt des Ausländers unbekannt sei, weil er von vornherein nicht offenbart habe, dass er in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sei, oder weil er später untergetaucht sei, ein Verzicht der Ausländerbehörde auf die Durchsetzung der Ausreisepflicht und eine zeitweise Aussetzung der Abschiebung schon aus systematischen Gründen nicht in Betracht komme. Die Ausländerbehörde könne eine etwaige Abschiebung nicht vollziehen. Sie wäre auch nicht in der Lage, eine tragfähige Entscheidung über die Abschiebung oder die Erteilung einer Duldung zu treffen. Die zeitweise Aussetzung der Abschiebung (Duldung) setze voraus, dass diese im Fall der Verneinung von Abschiebungshindernissen oder anderen Duldungsgründen tatsächlich vollzogen werden könne. Dies sei nur möglich, wenn der Ausländer für die Ausländerbehörde erreichbar sei. Ausdrücklich von der zwangsweisen Durchsetzung der Ausreisepflicht absehen könne die Behörde nur bei jemandem, um dessen Aufenthalt sie wisse und dessen Aufenthaltsort sie kenne. Die Frage eines hypothetischen Duldungsanspruches im Sinne der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts stelle sich deshalb in diesen Fällen nicht. Er komme nur in Betracht, wenn die Behörde keine Duldung erteilt habe, obwohl nach der ex-ante-Beurteilung sämtliche Voraussetzungen dafür vorgelegen hätten. Dazu gehöre, dass die Behörde Kenntnis vom Aufenthalt und dem Aufenthaltsort des Ausländers habe (BGH a.a.O.). Diese Grundsätze gelten auch nach Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes fort (vgl. Senatsbeschluss vom 17.2.2006 - 1 Ss 354/05).

Die vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen geben Anlass zu der Vermutung, dass hier die Voraussetzungen für eine Aussetzung der Abschiebung vorlagen. Der Angeklagte wurde bereits einmal zu einem nicht mitgeteilten Zeitpunkt nach L4 zurückgeschoben, reiste aber später wieder unter nicht näher festgestellten Umständen nach Deutschland ein. Seine Identität und insbesondere seine Nationalität stehen nach den Ausführungen des Amtsgerichts zu Personalien und Nationalität des Angeklagten nicht fest. Zum Vorliegen von Identitätspapieren oder einem Pass verhält sich das Urteil - wie oben bereits erwähnt - nicht. Vor diesem Hintergrund bedurfte es der Auseinandersetzung damit, ob die Abschiebung des Angeklagten aus tatsächlichen Gründen vorübergehend unmöglich und seine Abschiebung daher nach § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG auszusetzen gewesen wäre. Es ist in dem angefochtenen Urteil auch nicht festgestellt, dass die Ausländerbehörde keine Kenntnis vom Aufenthaltsort des Angeklagten hatte, etwa weil dieser untergetaucht wäre. Vielmehr ist dem Rubrum des Urteils eine Wohnanschrift des Angeklagten in O2 zu entnehmen, weitere Ausführungen über seinen Aufenthaltsort und eine eventuelle (Un-)Kenntnis der Ausländerbehörde diesbezüglich sind in dem Urteil nicht enthalten. Dies zwingt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils im Schuldspruch wegen unerlaubten Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland.

Soweit sich das Rechtsmittel darüber hinaus gegen den Schuldspruch wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (Crack) richtet, erweist es sich als unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Insoweit lässt die Nachprüfung des angefochtenen Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten erkennen.

Der Strafausspruch zu einer Einheitsjugendstrafe von sechs Monaten war nach Aufhebung der Verurteilung wegen unerlaubten Aufenthalts insgesamt aufzuheben, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich die weggefallene Verurteilung auf die Verhängung der Jugendstrafe ausgewirkt hat (vgl. Eisenberg, JGG, 11. Aufl., § 32 Rn. 70). Überdies begegnen die Ausführungen des Amtsgerichts zur Strafzumessung durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

Das Amtsgericht begründet die Verhängung der Jugendstrafe mit dem Gesichtspunkt der Schwere der Schuld im Sinne von § 17 Abs. 2, 2. Alt. JGG und führt hierzu Folgendes aus:

"Dem Angeklagten kann selbst bei kurzem Aufenthalt in dem entsprechenden Milieu in O2 die Gefährlichkeit der Droge Crack, die zur Zeit das gefährlichste, allgemein verbreitete Betäubungsmittel darstellt, nicht verborgen geblieben sein. Er hat dennoch, ohne irgendwelche Skrupel erkennen zu lassen, den Handel mit dieser Droge begonnen und hierbei Mengen gehandelt, die der Grenze zur nicht geringen Menge zumindest nahe kommt."

Diese Ausführungen genügen nicht, um die Verhängung einer Jugendstrafe unter dem Gesichtspunkt der Schwere der Schuld zu rechtfertigen.

Die Schwere der Schuld im Sinne von § 17 Abs. 2, 2. Alt. JGG ist vor allem dann zu bejahen, wenn der dem Jugendlichen gleichgestellte Heranwachsende ein Kapitalverbrechen begeht (BGH StV 1998, 332, 333; Eisenberg, aaO, § 17 Rn. 32). Daneben können zwar auch andere, besonders schwere Straftaten allein wegen der Schwere der Schuld die Verhängung von Jugendstrafe fordern (vgl. etwa die Nachweise bei Röhm, NStZ-RR 1999, 289, 290: schwerer Raub [BGH vom 19.6.1998 - 2 StR 238/98], schwere räuberische Erpressung [BGH vom 25.11.1998 - 3 StR 4456/98]; BGH StV 1998, 335: unerlaubte Einfuhr von mehr als 15 Kilogramm Kokainzubereitung). Dagegen kann aber ein Vergehen mit vergleichsweise geringem (zurechenbarem) Schaden, auch wenn es "bedenkenlos" begangen wird, die Schwere der Schuld nicht begründen, da das Gewicht der Tat dazu zu gering ist (BGH StV 1998, 332, 333; Eisenberg, aaO, § 17 Rn. 32).

Mit der Erwägung, der Angeklagte habe "ohne irgendwelche Skrupel erkennen zu lassen, den Handel mit dieser Droge begonnen", stellt das Amtsgericht auf die Bedenkenlosigkeit der Tatausführung des Angeklagten ab. Diese allein kann aber die Schwere der Schuld nicht begründen (vgl. BGH StV 1998, 332, 333). Weiter führt das Amtsgericht maßgeblich die Menge des gehandelten Betäubungsmittels an und erklärt, die gehandelte Menge käme der Grenze zur nicht geringen Menge zumindest nahe. Aus den Feststellungen ergibt sich jedoch, dass die Gesamtmenge des vom Angeklagten gehandelten Cracks einen Wirkstoffgehalt von 0,61 Gramm + 0,68 Gramm = 1,27 Gramm Kokainhydrochlorid aufwies. Die nicht geringe Menge Crack im Sinne des Verbrechenstatbestands des § 29 a Abs. 1 Nr. 2 BtmG beginnt aber erst bei einer Menge von 5 Gramm Kokainhydrochlorid (Körner, BtmG, 6. Aufl., § 29 a Rn. 58 f.). Dieser Menge von 5 Gramm kommt die vom Angeklagten gehandelte Menge von 1,27 Gramm nicht nahe, es handelt sich nur um etwa ein Viertel der nicht geringen Menge. Das Amtsgericht geht mithin bei dieser weiteren Erwägung zur Schwere der Schuld von einer unrichtigen Einordnung der Betäubungsmittelmenge aus. Die Schwere der Schuld wird damit vom Amtsgericht nicht rechtsfehlerfrei festgestellt.

Im Übrigen ist hier, selbst wenn die Schwere der Schuld zu bejahen wäre, fraglich, ob die Verhängung einer Jugendstrafe aus erzieherischen Gründen erforderlich ist (vgl. Eisenberg, aaO, § 17 Rn. 34; BGHSt 15, 224). Hierzu macht das Amtsgericht die folgenden Ausführungen:

"Das Gericht verkennt nicht, dass die zweimonatige Untersuchungshaft auf den bislang bisher nicht vorbestraften Angeklagten eine durchaus nachhaltige Wirkung gehabt haben mag, doch erscheint es angesichts der Umstände, dass der Angeklagte in dasselbe Umfeld, aus dem er heraus die Straftaten begangen hat, zurückgekehrt ist, er legale Alternativen zur Fristung seines Lebens und insbesondere zur Unterstützung seiner Familie nicht hat und der durch den Drogenhandel zu erzielenden Gewinne selbst für Kleinhändler ausgeschlossen, dass allein durch die Verhängung eines (bereits verbüßten) Zuchtmittels ein ausreichendes erzieherisches Gegengewicht aufgebaut werden kann."

Bei diesen Ausführungen hat sich das Amtsgericht nicht im erforderlichen Umfang damit auseinander gesetzt, wieso die zwischenzeitlich verbüßte zweimonatige Untersuchungshaft keine hinreichend erzieherische Wirkung auf den nicht vorbestraften Angeklagten gehabt haben soll. Allein daraus, dass sich der Angeklagte in sein früheres Umfeld - in dem er nach den Feststellungen vor der Tat nur eine Woche gelebt hat - zurückbegeben hat und nach Darstellung des Amtsgerichts den beschriebenen rechtlichen und wirtschaftlichen Zwängen unterliegt, ist dies nicht mit der erforderlichen Gewissheit feststellbar. Weitere Feststellungen werden dazu in dem angefochtenen Urteil nicht getroffen.

Nach alledem führen die aufgezeigten Mängel zur Aufhebung des Schuldspruchs wegen unerlaubten Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland sowie des gesamten Rechtsfolgenausspruchs. Die Sache war zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Frankfurt am Main - Jugendschöffengericht - zurückzuverweisen (§§ 353, 354 Abs. 2 StPO).

Ende der Entscheidung

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