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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Beschluss verkündet am 21.12.2005
Aktenzeichen: 1 Ws 29/05
Rechtsgebiete: StGB, StPO


Vorschriften:

StGB § 21
StPO § 359
StPO § 372
Zur Begründetheit eines Wiederaufnahmeantrages auf der Grundlage eines neues Sachverständigengutachtens, das die Schuldfähigkeit des Verurteilten zur Tatzeit infrage stellt.
Gründe:

Der Verurteilte wurde durch Urteil des Landgerichts Gießen vom 22.3.2002 wegen Mordes in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 14 Jahren verurteilt. Zugleich wurde gemäß § 63 StGB die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.

Zur Persönlichkeit des Angeklagten wird in dem Urteil folgendes festgestellt:

Das Landgericht ging von einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB ) aus und führte in dem Zusammenhang aus:

Die Anordnung der Unterbringung begründete das Landgericht wie folgt:

"Beide Taten hat der Angeklagte im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit begangen. Die zu den Taten führende psychische Erkrankung des sensitiven Beziehungswahns mit erheblichen paranoiden und schizoiden Anteilen liegt bei dem Angeklagten nach wie vor vor, er ist auch krankheitsuneinsichtig und aufgrund seiner Erkrankung für die Allgemeinheit gefährlich, da er weiterhin in einem ihm bislang fremd gebliebenen sozio-kulturellen Umfeld ihm unverständlich bleibende 'Vorgänge als Angriffe auf ihn selbst in paranoider Weise umdeutet und es deshalb zu erwarten steht, dass er weitere Gewalttaten als Reaktion auf seine paranoiden Erlebnisse begehen wird."

Mit Anwaltsschriftsatz vom 29.10.2004 beantragte der Verurteilte die Wiederaufnahme des Verfahrens für zulässig zu erklären und ihm für das Wiederaufnahmeverfahren und für die Vorbereitung des Wiederaufnahmeverfahrens Rechtsanwalt RA1 als Pflichtverteidiger zu bestellen.

Zur Begründung führte er aus, dass die Ärzte der Klinik für forensische Psychiatrie in ..., in welcher sich der Verurteilte aufgrund des Unterbringungsbefehls vom ....2001 seit dem ... 2001 befinde, aufgrund von Erkenntnissen des zurückliegenden Beobachtungszeitraumes eine schizoaffektive Störung mit wahnhafter, depressiver Symptomatik diagnostiziert hätten. Diese Erkrankung habe bereits zum Zeitpunkt der Tat vorgelegen, weshalb der Verurteilte schuldunfähig gewesen sei. Zum Beweis für das Wiederaufnahmevorbringen wurde ein Schreiben der Klinik für forensische Psychiatrie vom 5.8.2002 und das forensisch-psychiatrische Prognosegutachten vom 24.9.2004 vorgelegt.

In dem Schreiben vom 5.8.2002 ist ausgeführt:

"Nach den Explorationsgesprächen, die wir im Laufe des inzwischen 12-monatigen Aufenthalts mit dem Patienten, u. a. auch unter Hinzuziehung eines Dolmetschers, geführt haben, hatten wir keinerlei Zweifel daran, dass bei dem Patienten zur Tatzeit eine Psychose mit wahnhaften und affektiven Symptomen vorlag. Vergleichbare Krankheitsbilder deutscher und ausländischer Patienten mit daraus resultierenden Tötungsdelikten oder körperlichen Angriffen auf nahe Bezugspersonen werden häufig in unserer Klinik angetroffen und hier behandelt. Die Indizien, die die Vorgutachter gegen das Vorliegen einer "Schizophrenie" vorgebracht haben, sind nicht überzeugend. Im Wesentlichen wird auf das Fehlen von akustischen Halluzinationen hingewiesen, deren Fehlen in keiner Weise gegen eine Schizophrenie sprechen würde, zum anderen wird auch die "relativ gute emotionale Mitschwingungsfähigkeit" sowie das fehlende "Praecox-Gefühl" abgehoben. Dieser letztgenannte Punkt mag gegen eine paranoide Schizophrenie sprechen, obwohl es durchaus schizophrene Patienten mit gut erhaltener Persönlichkeit und affektiver Schwingungsfähigkeit gibt. Keinesfalls spricht das Fehlen von akustischen Halluzinationen sowie eine erhaltene emotionale Schwingungsfähigkeit gegen eine schizoaffektive Psychose oder eine depressive endogene Psychose mit paranoiden Symptomen. Diese beiden Diagnosen werden im Gutachten noch nicht einmal differentialdiagnostisch diskutiert, obwohl bei Herrn X. bereits 1998 eine depressive Erkrankung behandelt wurde, er im Tatzeitraum akut suizidal war und es in seiner Familie bereits eine endogene Psychose in der Vorgeschichte gegeben hat (Mutter). All dies spricht für das Vorliegen einer Psychose, weniger für eine Persönlichkeitsstörung, die zudem bei der psychiatrischen Untersuchung 1998 ausgeschlossen wurde. Alle übrigen für eine schizoaffektive Erkrankung wegweisenden Symptome lagen im Tatzeitraum vor, zudem besteht bezüglich der Benachteiligungs- und Beeinträchtigungsgedanken, der Herr X. trotz seiner Zuneigung zu seiner Ehefrau gegenüber ihr und ihrer Familie hegte, keinerlei Distanz, das Kriterium der Wahngewissheit ist nach unseren Explorationseindrücken eindeutig gegeben.

Eine in der Persönlichkeit von Herrn X. verankerte Aggressivität oder Gewalttätigkeit ist nicht erkennbar, die Tat steht in kausalem Zusammenhang mit der zu diagnostizierenden psychiatrischen Erkrankung (nach unserer Einschätzung einer krankhaften seelischen Störung im Wortlaut des ersten Merkmals des § 20 StGB).

Uns ist deshalb unverständlich, wie das erkennende Gericht die Voraussetzungen des § 20 StGB sicher ausschließen konnte, gerade weil aufgrund seines psychotischen Erlebens eine Einsichtsfähigkeit in das Unrecht des Tuns vermutlich nicht mehr bestand. Dabei sind verschiedene (aber sämtlich krankheitswertige) "Motive" für das Handeln von Herrn X. denkbar, die aber allesamt nach unseren bisherigen Informationen und Eindrücke die Anwendung des § 20 StGB nahe legen würden.

Aus den genannten Gründen, die hier nur zusammengefasst skizziert werden können, halten wir die zusätzliche Haftstrafe (von 14 Jahren!) für ein Fehlurteil, da Herr X. aufgrund psychiatrischer Symptome schuldunfähig war oder diese Schuldunfähigkeit mit Sicherheit nicht ausgeschlossen werden kann. Wir haben jedenfalls in dem Urteil keine neuen Informationen gefunden, die eine erhaltene Einsichtsfähigkeit des Patienten zur Tatzeit belegen können, selbst dann, wenn man annimmt, dass der Suizidversuch nach der Tötung der beiden unschuldigen Opfer erfolgt sein sollte und nicht, wie Herr X. hier durchgängig angegeben hat, davor."

In dem forensisch-psychiatrischen Prognosegutachten vom 24.9.2004 wird zur diagnostischen Beurteilung wie folgt Stellung genommen:

"Aufgrund der Erkenntnisse des zurückliegenden Beobachtungszeitraumes ist die Diagnose einer schizoaffektiven Störung mit wahnhafter, depressiver Symptomatik jetzt auch für den Tatzeitpunkt als gesichert anzusehen.

Der im Sommer des vergangenen Jahres begonnene Auslassversuch der rezidivprophylaktischen Medikation führte im Herbst desselben Jahres zu einer akuten Verschlechterung mit den im Verlaufteil ausführlich beschriebenen Auffälligkeiten. Die im Herbst zu beobachtende akut exacerbierte Störung lässt sich unseres Erachtens wiederum dem Störungsbild der schizoaffektiven Störung zuordnen. Wie bereits im Vorgutachten ausführlich dargelegt, handelt es sich bei schizoaffektiven Störungen um episodische Störungen, bei denen affektive wie auch schizophrene Symptome in derselben Krankheitsphase auftreten. Bei einer schizodepressiven Störung zeigen sich die depressiven Anteile durch Symptome, wie Verlangsamung, Schlaflosigkeit, Antriebs- und Appetitlosigkeit, Nachlassen der üblichen Interessen, Konzentrationsstörungen, Schuldgefühle und Suizidideen. Im Herbst des vergangenen Jahres litt Herr X. nachweislich unter einer erheblichen Schlaflosigkeit bei gleichzeitiger massiver Antriebsstörung sowie einer ausgeprägten Appetitlosigkeit. Die Konzentrationsstörungen zeigten sich im Rahmen der Arbeitstherapie. Die Diagnose einer schizoaffektiven Störung verlangt zudem gleichzeitig das Vorliegen typisch schizophrener Symptome. Im Falle von Herrn X. bestand zu diesem Zeitpunkt ein Vergiftungswahn: Er wähnte sich vom Klinikpersonal mit Aids infiziert und somit mit dem Tode bedroht. Wahnkongruent beschrieb Herr X. ein brennendes Gefühl "wie Paprika in allen Gefäßen", ein Phänomen, das wir den Körperhalluzinationen (Zoenästhesien) zuordnen können. Die hier zu beobachtende Symptomatik geht sicherlich weit über die Diagnose eines sensitiven Beziehungswahns hinaus, der seinerseits dadurch gekennzeichnet wäre, dass bei ihm ausschließlich nicht bizarre Wahninhalte auftreten und weitere typische Symptome, wie sie für schizophrene und affektive Psychosen typisch sind, fehlen. Zwar fehlten auch dieses Mal akustische Halluzinationen im Sinne des klassischen "Stimmenhörens", wir wiesen jedoch bereits im Vorgutachten darauf hin, dass dies kein Ausschlusskriterium für eine schizophreniforme Störung ist. Das von uns im Herbst direkt beobachtbare Störungsbild zeigt eine ganze Reihe von Parallelen zu den von Herrn X. geschilderten Symptomen zum Tatzeitpunkt auf. Sie wurden in den Therapiegesprächen vom Patienten als solche erkannt. So bestand auch damals ein ausgeprägtes Wahnsystem unter Einbeziehung der nächsten Angehörigen (Ehefrau und Familie) und Arbeitskollegen. Parallel hierzu bezog Herr X. in der aktuellen Krankheitsepisode die direkt mit ihm zusammen arbeitenden Mitarbeiter der Klinik in den Wahn mit ein. So wie sich Herr X. lange nicht von den Wahninhalten der Ehefrau gegenüber distanzieren konnte und auch kein Verlangen verspürte, seine wahnhafte Überzeugung einer angemessenen Realitätsprüfung zu unterziehen, so war er überzeugt davon, dass im Herbst des vergangenen Jahres Mitarbeiter der Klinik Böses gegen ihn im Schilde geführt hatten.

Dass es sich bei diesem Störungsbild um ein, wie für schizoaffektiven Psychosen typisches episodenhaftes Geschehen handelt, zeigt sich anhand der insgesamt raschen und vollständigen Remission nach erfolgreicher medikamentöser Behandlung. Zwar dauerte es eine Weile, ehe ein auch vom Nebenwirkungsspektrum her akzeptables Medikament gefunden wurde, unter diesem kam es dann aber im Verlauf der vergangenen Monate zu einer weiteren Stabilisierung."

Mit Beschluss vom 28.1.2005 verwarf das Landgericht Fulda das Wiederaufnahmegesuch als unzulässig und wies den Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers zurück. Zur Begründung führte es aus, das Wiederaufnahmevorbringen enthalte keine neuen Tatsachen, da ausweislich der Urteilsgründe die Tatsache einer bei dem Verurteilten möglicherweise bestehenden paranoiden Schizophrenie bzw. einer wahnhaften schizophrenen Psychose berücksichtigt worden sei. Die Sachverständigen seien auch kein neues Beweismittel, da offen bleibe, weshalb gerade die während der Unterbringungszeit gewonnenen Erkenntnisse Rückschlüsse auf den Zustand des Verurteilten zum Zeitpunkt der Tat ermöglicht hätten.

Gegen diesen Beschluss, der dem Verurteilten am 15.2.2005 zugestellt wurde, legte dieser mit Schriftsatz vom 15.2.2005, der bei Gericht am 16.2.2005 einging, "sofortige Beschwerde" ein. Zur Begründung führte er unter anderem aus, die dem erkennenden Gericht zur Seite stehenden Sachverständigen hätten keinen Medikamentenauslassversuch unter längerfristiger Beobachtung durchführen können, weshalb dem Wiederaufnahmeverfahren nicht entgegenstehe, dass bereits in den Urteilsgründen das Vorliegen der Voraussetzungen des § 20 StGB erörtert worden sei.

Die gegen die Verwerfung der Wiedereinsetzung gerichtete sofortige Beschwerde ist zulässig. Sie ist statthaft (§ 372 StPO) und wurde sowohl formgerecht als auch innerhalb der Wochenfrist des § 311 Abs. 2 StPO eingelegt. Sie hat auch in der Sache Erfolg.

Die vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel sind als neu zu bewerten und auch geeignet, das Urteil zu erschüttern und die in § 359 Nr. 5 StPO bezeichneten günstigeren Folgen für den Verurteilten herbeizuführen. Die Geeignetheit neuer Tatsachen und Beweismittel ist stets danach zu beurteilen, ob nach Auffassung des Wiederaufnahmegerichts das früher erkennende Gericht anders entschieden hätte, wenn ihm diese neuen Tatsachen und Beweismittel bekannt gewesen wären. Der Grundsatz in dubio pro reo gilt bei dieser Geeignetheitsprüfung nicht (OLG Koblenz OLG St Nr.5 zu §359 StPO).

Vorliegend kommen die sachverständigen Ärzte der Klinik für forensische Psychiatrie ... zu dem Ergebnis, dass der Verurteilte bereits zur Tatzeit an einer schizoaffektiven Störung mit wahnhafter, depressiver Symptomatik gelitten habe und deshalb im Tatzeitpunkt schuldunfähig gewesen sei. Diese Diagnose ist grundsätzlich geeignet, das Urteil zu erschüttern und die Freisprechung des Angeklagten herbeizuführen.

Die vorgelegten gutachterlichen Stellungnahmen erfüllen auch die Voraussetzungen, die bei der Forderung der Anhörung eines neuen Sachverständigen im Wiederaufnahmeverfahren gestellt werden.

Ein Sachverständiger ist danach nur dann ein " neues Beweismittel " im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO, wenn mit dem Wiederaufnahmeantrag geltend gemacht wird, die Sachkunde des früheren Gutachters sei unzureichend, sein Gutachten sei von unzutreffenden tatsächlichen Grundlagen ausgegangen, sein Gutachten sei widersprüchlich, der neue Gutachter verfüge über überlegene Forschungsmittel oder er bringe in seinem (vorzulegenden schriftlichen) Gutachten neue Anknüpfungstatsachen, welche dem bisherigen Gutachten dem Boden entzögen (Meyer-Goßner, StPO, § 359 Rdnr. 35; KK-Schmidt, StPO, § 359 Rdnr. 26; Pfeiffer, StPO, § 359 Rdnr. 10; Senatsbeschl. vom 26.6.1992 - 1 Ws 105/91 - und vom 13.7.1966 -NJW 66, 2423; BGH NStZ 93,502;OLG Koblenz a.a.O., HansOLG Hamburg JR 00,380; OLG Düsseldorf NStZ87,245; OLG Karlsruhe MDR 72,800; a.A.HK-Krehl,StPO, § 359 Rdnr.174; KMR-Eschelbach § 359 Rdnr.174; Loewe/Rosenberg-Gössel, StPO, § 359, Rdnr. 119, die die Ansicht vertreten, dass ein bisher nicht gehörter Sachverständiger grundsätzlich ein neues Beweismittel ist, was jedoch im Ergebnis ohne Konsequenz bleibt, da nur unter den genannten Voraussetzungen die Geeignetheit des Beweismittels bejaht wird).

Diese Grundsätze werden aus § 244 Abs. 4 S. 2 StPO abgeleitet (vgl. Senatsbeschl. v. 26.6.1992; Loewe/Rosenberg-Gössel a.a.O.; KK-Schmidt a.a.O.).

Das heißt, die Beibringung eines weiteren Sachverständigen ist dann gemäß § 359 Nr. 5 StPO unzulässig, wenn ein Beweisantrag gemäß § 244 Abs. 4 S. 2 StPO hätte abgelehnt werden können. Dementsprechend genügt es nicht, wenn der im Wiederaufnahmeverfahren benannte weitere Sachverständige lediglich aufgrund der gleichen Anknüpfungstatsachen zu anderen Schlussfolgerungen kommt (BGH St 31, 365, 370; 39, 75, 84). Weiterhin hat der BGH entschieden, dass die Verfügung über besonders reichhaltiges Beobachtungsmaterial nicht die Annahme rechtfertigt, dem Sachverständigen stünden überlegende Forschungsmittel zu Gebote (BGH bei Dallinger MDR 56, 358). Das gleiche gilt für eine mehrwöchige Anstaltsbeobachtung (im Vergleich zur üblichen Untersuchung), wenn nicht Besonderheiten dargetan werden (BGH St 8, 76, 77; BGH StV 99, 463 f). Zwar wird insoweit anerkannt, dass eine Beobachtung nach § 81 StPO vielfach klarere Ergebnisse erbringen kann. Eine solche Untersuchung könne der Gesetzgeber aber nicht im Rahmen des § 244 Abs. 2 S. 2 StPO gemeint haben, andernfalls sie stets auf Antrag durchgeführt werden müsse. Den Entscheidungen liegt gleichermaßen zugrunde, dass nicht jedes mögliche Mittel ausgeschöpft werden muss. Hat ein Sachverständiger bestimmte Untersuchungsmethoden nicht angewandt, so bedeutet das nicht, dass er über sie nicht verfügt (BGH StV a.a.O.; StV 85, 489).

Nach diesen Grundsätzen kann das Wiederaufnahmegesuch nicht bereits deshalb zulässig sein, weil die Sachverständigen der Klinik für forensische Psychiatrie in ... den Verurteilten länger beobachten konnten. Maßgeblich ist vielmehr, dass die gutachterliche Stellungnahme der Sachverständigen auf neuen Anknüpfungstatsachen beruht, welche dem im Erkenntnisverfahren erstellten Gutachten die Grundlage entziehen. Als neue Tatsachengrundlage ist vorgetragen, dass der Verurteilte in einem Medikamentenauslassversuch sowohl depressive als auch schizophrene Symptome zeigte, dabei Wahninhalte festgestellt wurden, die eine andere Qualität als die bei einem sensitiven Beziehungswahn auftretenden Wahnvorstellungen hatten, dass Körperhalluzinationen festgestellt wurden und es nach medikamentöser Behandlung zu einer raschen und vollständigen Remission des Verurteilten kam. Aufgrund dieser - neuen - Anknüpfungstatsachen, die die Sachverständigen in dem zurückliegenden Beobachtungszeitraum gewonnen haben, kommen sie zu der Diagnose einer schizoaffektiven Störung mit wahnhafter, depressiver Symptomatik. Sie führen dazu aus, dass der Verurteilte unter erheblicher Schlaflosigkeit bei gleichzeitiger massiver Antriebsstörung sowie einer ausgeprägten Appetitlosigkeit gelitten habe. Gleichzeitig habe zu diesem Zeitpunkt ein Vergiftungswahn bestanden. Der Verurteilte habe sich vom Klinikpersonal mit Aids infiziert gewähnt und mit dem Tode bedroht gesehen. Wahnkongruent habe der Verurteilte ein brennendes Gefühl " wie Paprika in allen Gefäßen " beschrieben. Dies sei ein Phänomen, das den Körperhalluzinationen zugeordnet werden könne. Diese beobachtete Symptomatik reiche weit über die Diagnose eines sensitiven Beziehungswahns hinaus. Dieser sei dadurch gekennzeichnet, dass bei ihm ausschließlich nicht bizarre Wahninhalte auftreten würden und weitere Symptome, wie sie für schizophrene und affektive Psychosen typisch seien, fehlten. Zwar habe der Verurteilte keine akustischen Halluzinationen im Sinne des klassischen " Stimmenhörens ". Dies sei jedoch kein Ausschlusskriterium für eine schizophrene Störung.

Die neuen Anknüpfungstatsachen sind auch geeignet, dem im Erkenntnisverfahren erstatteten Gutachten der psychiatrischen Sachverständigen Dr. SV1 und Dr. SV2 den Boden zu entziehen. Die Sachverständigen, die im Erkenntnisverfahren tätig waren, haben nicht mit der nunmehr zu Tage getretenen Deutlichkeit die depressive Symptomatik sowie das gleichzeitige Auftreten dieser Symptomatik mit den wahnhaften Symptomen feststellen können. Diese Umstände sind von wesentlicher Bedeutung für die Beurteilung der Frage, ob eine schizoaffektive Störung mit wahnhafter, depressiver Symptomatik vorliegt.

Bei dem von diesen Sachverständigen diagnostizierten sensitiven Beziehungswahn steht im Vordergrund der Symptomatik der Wahn. Andere psychotische Symptome, wie Halluzinationen oder Verstimmungen, können zwar vorübergehend auftreten, bestimmen aber das Krankheitsbild nicht. Denkstörungen und psychotische Ambivalenz, Antriebsstörung oder psychomotorische Auffälligkeiten fehlen (Nedopil, Forensische Psychiatrie, S. 122).

Wie sich aus dem vorläufigen schriftlichen Gutachten der Sachverständigen Dr. SV1 und Dr. SV2 vom 13.6.2001 ergibt, war ihnen zwar bekannt, dass der Verurteilte 1998 wegen einer depressiven Erkrankung behandelt worden war. Sie wussten auch, dass der Verurteilte nach der Tat einen Suizidversuch unternommen hatte. Ihnen war jedoch nicht bekannt, dass die depressiven Symptome gleichzeitig mit dem paranoiden Wahn auftreten. Auch dass es nach diesem episodenhaften Geschehen zu einer raschen und vollständigen Remission nach erfolgreicher medikamentöser Behandlung kommen kann, war den Sachverständigen unbekannt.

Bei diesem Umstand handelte es sich um ein maßgebliches Kriterium für die Diagnose einer schizoaffektiven Störung. Schizoaffektive Störungen zeichnen sich durch das gleichzeitige oder kurz aufeinander folgende Auftreten von psychotischen Realitätsverkennungen und maniformen oder depressiven Verstimmungen sowie durch phasenhafte Verläufe mit vollständigen Remissionen aus (Nedopil a. a. O.). Dass die Sachverständigen der Klinik für forensische Psychiatrie ... auf der Tatsachenbasis, die das erkennende Gericht im Urteil feststellte, zu dem Ergebnis gelangen, der Angeklagte sei zum Tatzeitpunkt schuldunfähig gewesen, ergibt sich aus der Stellungnahme vom 5.8.2002. In ihr wird ausgeführt, dass in dem Urteil keine Informationen gefunden worden seien, die eine erhaltene Einsichtsfähigkeit des Patienten zur Tatzeit belegen könnten, selbst dann, wenn man annehme, dass der Suizidversuch nach der Tötung der beiden unschuldigen Opfer erfolgt sein solle und nicht, wie von dem Verurteilten durchgängig angegeben, davor.

Es kann daher festgestellt werden, dass das von den Sachverständigen der Klinik ... beobachtete Verhalten entscheidend für die Beurteilung der Frage war, ob eine schizoaffektive Störung vorliegt.

Dass es sich nicht nur um später auftretende Symptome eines Krankheitsbildes handelt, welches sich erst nach der Tat entwickelt hat, folgt aus den von den Sachverständigen der Klinik ... aufgezeigten Parallelen zu der Symptomatik im Tatzeitpunkt. Die Sachverständigen führen dazu aus, es habe auch damals ein ausgeprägtes Wahnsystem unter Einbeziehung der nächsten Angehörigen und Arbeitskollegen bestanden. Parallel dazu habe der Verurteilte in der akuten Krankheitsepisode die direkt mit ihm zusammenarbeitenden Mitarbeiter der Klinik in den Wahn mit einbezogen. Ergänzend habe der Verurteilte nunmehr auch berichtet, dass er damals ähnliche Phänome erlebt habe, z. B. Kribbeln im Körper, Kopfschmerzen, Müdigkeit, Appetitlosigkeit, Beziehungsideen bezüglich verschiedener Personen, denen er auf der Straße begegnete und von denen er sich verfolgt fühlte, bis hin zu halluzinatorisch anmutenden Phänomenen. Die Beurteilung der sachverständigen Ärzte der Klinik ... beruht daher auf den anlässlich der Beobachtung gewonnenen neuen Anknüpfungstatsachen. Diese Erkenntnisse fehlten den Sachverständigen im Erkenntnisverfahren.

Dass vorliegend die Begleitsymptome, die auf die schizoaffektive Störung hindeuten, zur Tatzeit nicht in der nunmehr erkennbaren Deutlichkeit zu Tage getreten sind, ist nicht ungewöhnlich, sondern wird in der psychiatrischen Literatur als eine Schwierigkeit bei der Diagnose beschrieben. Nedopil führt dazu aus, dass die Diagnose einer wahnhaften Störung deshalb schwierig sei, weil dem Untersucher eine Realitätstestung häufig nicht möglich sei und Begleitsymptome, die auf eine psychiatrische Störung hinweisen, fehlen können (Nedopil a.a.O. s.122).

Da die neuen Tatsachen dem im Erkenntnisverfahren erstatteten Gutachten die Beurteilungsgrundlage zu entziehen geeignet sind, kommt es für die Entscheidung über die Zulassung der Wiederaufnahme nicht darauf an, dass die Sachverständigen der Klinik ... auch andere Schlussfolgerungen aus den bereits im Erkenntnisverfahren bekannten Tatsachen ziehen.

Der Zulässigkeit des Antrags steht nicht entgegen, dass nach der Rechtsprechung des BGH (BGH NStZ 93, 502, 504) die Vorlage des Gutachtens des weiteren Sachverständigen erforderlich ist. Zur Begründung dieses Erfordernisses hat der BGH (BGH a.a.O.) ausgeführt, dass ein Gutachten nur eine Beurteilung enthalte. Um dem die Verurteilung tragenden Gutachten dem Boden entziehen zu können, sei stets Voraussetzung, dass die Vorprüfung des neuen Gutachtens auch ergebe, überhaupt zu Gunsten des Verurteilten zur Schuldfrage wirken zu können. Da die vom BGH geforderte Prüfung vorliegend auf der Grundlage der Stellungnahme vom 5.8.2002 und des Prognosegutachtens vom 24.9.2004 möglich ist, ist unbeachtlich, dass es sich dabei nicht um ein Gutachten handelt, das für das Wiederaufnahmeverfahren zur Frage der Schuldfähigkeit gefertigt worden ist. Maßgeblich ist allein, dass eine Beweiserhebung durch einen weiteren Sachverständigen für die entscheidungserhebliche Frage erfolgversprechend erscheint (vgl. BGH a.a.O). Dies ist - wie bereits ausgeführt - vorliegend der Fall.

Der Wiederaufnahmeantrag ist daher gemäß §§ 368, 359 Nr. 5 StPO zulässig. Das Landgericht wird in der nach § 369 StPO durchzuführenden Beweisaufnahme durch Anhörung der Sachverständigen des Erkenntnisverfahrens und der nunmehr benannten Sachverständigen und unter Hinzuziehung eines weiteren mit der Sache bisher nicht befassten externen Sachverständigen die Begründetheit des zulässigen Wiederaufnahmeantrags zu prüfen haben (vgl. KG Berlin, Beschl. v. 18.3.1999, zitiert nach JURIS Nr. KORE 402199900).

Hinsichtlich der Zurückweisung des Antrags auf Bestellung eines Pflichtverteidigers liegt eine zulässige einfache Beschwerde vor, die unbegründet ist.

Die Bestellung eines Verteidigers gem. §§ 364 a, 364 b StPO setzt voraus, dass der Verurteilte keinen Verteidiger hat. Das ist vorliegend nicht der Fall. Mit Beschluss vom 21.8.2001 bestellte das Landgericht Gießen dem Verurteilten Rechtsanwalt RA2 als Verteidiger. Die Pflichtverteidigerbestellung dauert bis zur Rechtskraft des Beschlusses nach § 370 Abs. 2 StPO fort (Meyer-Goßner, StPO, § 364 a Rdnr. 2). Die Beiordnung ist - auch nicht konkludent - aufgehoben worden.

Zwar wurde durch Beschluss des Landgerichts Marburg vom 29.10.2003 Rechtsanwalt RA1 dem Verurteilten als Pflichtverteidiger für das Verfahren zur Prüfung der Fortdauer der Unterbringung beigeordnet. Diese Entscheidung ist jedoch lediglich die Konsequenz daraus, dass die im Erkenntnisverfahren erfolgte Pflichtverteidigerbestellung - abgesehen vom Fall der Wiederaufnahme des Verfahrens - endet (vgl. OLG Hamm NStZ 83, 189). Das Fortbestehen der Pflichtverteidigerbestellung für das Wiederaufnahmeverfahren bleibt davon unberührt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.

Ende der Entscheidung

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