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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Beschluss verkündet am 19.09.2006
Aktenzeichen: 2 Ss (OWi) 289/06
Rechtsgebiete: OWiG


Vorschriften:

OWiG § 80 I Nr. 2
OWiG § 80 II
OWiG § 80 IV 4
1. Der Zulassungsgrund Versagung des rechtlichen Gehörs (§ 80 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 OWiG) ist nicht gegeben, wenn der Tatrichter den Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid gemäß § 74 Abs. 2 OWiG aus Gründen verwirft, bei denen es auf das Vorbringen des Betroffenen zu dem Entbindungsantrag nach § 73 Abs. 2 OWiG nicht ankommt.

2. Eine Versagung des rechtlichen Gehörs liegt dann auch nicht darin, dass infolge der Verwerfung die Einlassung des Betroffenen zur Sache unberücksichtigt bleibt (entgegen Brandenburgisches OLG ZfSch 2004, 235).


Gründe:

Das Regierungspräsidium Kassel verhängte gegen den Betroffenen mit Bußgeldbescheid vom 20. September 2005 wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit eine Geldbuße von 50,-- €. Hiergegen legte er Einspruch ein, den das Amtsgericht durch Urteil nach § 74 Abs. 2 OWiG verwarf, weil er der Hauptverhandlung ferngeblieben war. Dem zu Beginn der Hauptverhandlung gestellten Antrag des mit schriftlicher Vollmacht erschienen Verteidigers, den Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen zu entbinden, entsprach das Amtsgericht unter Hinweis auf die Kommentierung bei Göhler, OWiG 14. Aufl. § 73 Rdn. 4 nicht, da ein entsprechender Antrag vor der Hauptverhandlung gestellt werden müsse. Der Entbindungsantrag war damit begründet worden, dass die Fahrereigenschaft des Betroffenen eingeräumt werde, die wirtschaftlichen Verhältnisse als geordnet zu bezeichnen seien und im übrigen keine Angaben gemacht würden.

Gegen dieses Verwerfungsurteil wendet sich der Betroffene. Er beantragt, die Rechtsbeschwerde zuzulassen, rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts, wobei er insbesondere die Versagung des rechtlichen Gehörs geltend macht. Der Antrag ist unbegründet, weil ein Zulassungsgrund nicht vorliegt.

1. Zur Fortbildung des sachlichen Rechts ist die Zulassung ersichtlich nicht geboten.

2. Da gegen den Betroffenen eine Geldbuße von nicht mehr als 100,-- € verhängt worden ist, kommt auch eine Zulassung der Rechtsbeschwerde wegen der Anwendung von Vorschriften über das Verfahren nicht in Betracht (§ 80 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Abs. 1 OWiG). Selbst eine fehlerhafte und obergerichtlich klärungsbedürftige Anwendung der einfachgesetzlichen Verfahrensvorschriften § 74 Abs. 2 OWiG und § 73 Abs. 2 OWiG kann daher den Zulassungsantrag grundsätzlich nicht begründen (vgl. Senge in KK-OWiG 3. Aufl. § 74 Rdn. 54; BayObLG VRS 96, 18).

Eine Ausnahme gilt, wenn - wie hier - mit dem Verstoß gegen §§ 73 Abs. 2, 74 Abs. 2 OWiG gleichzeitig die Versagung des rechtlichen Gehörs geltend gemacht wird und es geboten ist, das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben. Insoweit wird in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte verbreitet die Auffassung vertreten, ein Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs liege vor, wenn infolge der rechtsfehlerhaften Ablehnung des Entbindungsantrages und anschließender Verwerfung des Einspruchs die Einlassung des Betroffenen zur Sache unberücksichtigt geblieben ist (vgl. OLG Rostock, Beschlüsse vom 7. März 2006 - 2 Ss (OWi) 155/05 I 93/05 und vom 3. März 2006 - 2 Ss (OWi) 257/05 I 146/05, jeweils zit. nach j u r i s; OLG Brandenburg ZfSch 2004, 235; BayObLG VRS 103, 377; OLG Koblenz OLGSt OWiG § 73 Nr. 6; OLG Köln VRS 74, 124).

Dem kann in dieser Allgemeinheit nicht gefolgt werden, weil ansonsten die einschränkenden Voraussetzungen, unter denen die Rechtsbeschwerde nach § 80 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 OWiG zugelassen wird, weitgehend unterlaufen würden (vgl. Senge aaO § 80 Rdn. 41 d). Bleibt die Einlassung des Betroffenen zur Sache wegen rechtsfehlerhafter Anwendung von §§ 73 Abs. 2, 74 Abs. 2 OWiG unberücksichtigt, so ist zwar sein Anspruch auf rechtliches Gehör berührt. Im Verfahren über die Zulassung der Rechtsbeschwerde nach § 80 Abs. 1 und Abs. 2 OWiG kommen jedoch - auch weil es sich um weniger bedeutsame Sachen mit Bagatellcharakter handelt - nur Gehörsverletzungen im Sinne des Art. 103 Abs. 1 GG in Betracht. Denn insoweit soll das Rechtsbeschwerdegericht in Fällen, in denen nicht zweifelhaft erscheint, dass das Urteil der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht nicht standhalten würde, korrigierend eingreifen, um eine Anrufung des Bundesverfassungsgerichts zu vermeiden (vgl. BVerfG NJW 1992, 2811; BayObLG VRS 96, 18; Göhler, aaO § 80 Rdn. 16a m.Nachw.).

Nach dem Maßstab des Art. 103 Abs. 1 GG liegt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs hier aber nicht vor. Das Gebot des rechtlichen Gehörs im Sinne von Art. 103 Abs. 1 GG soll sicherstellen, dass die erlassene Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. Es bietet indessen keinen Schutz vor Entscheidungen, die den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts unberücksichtigt lassen (vgl. BVerfG aaO; BVerfGE 21, 191, 194 ). So liegt die Sache hier aber. Das Amtsgericht hat den Entbindungsantrag beschieden und dabei kein für die Frage der Entbindung relevantes Vorbringen des Betroffenen übergangen. Nach dem rechtlichen Ansatz des Amtsgerichts kam es vielmehr auf die zur Entbindung vorgebrachten Gründe nicht mehr an (vgl. auch OLG Karlsruhe VRS 109, 282). Ob das einfache Recht zur Frage der Rechtzeitigkeit des Entbindungsantrages dabei richtig angewendet worden ist braucht hier nicht entscheiden zu werden. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtete das Amtsgericht nicht, dem Betroffenen darin zu folgen, dass der Entbindungsantrag noch zu Beginn der Hauptverhandlung gestellt werden könne (vgl. BVerfGE 64, 1 , 12; BVerfGE 60, 305; BVerfG, Beschlüsse vom 3. August 1989 - 1 BvR 1178/88 und vom 14. Januar 2002 - 2 BvR 2189/00 zit. nach j u r i s). Dass aufgrund der Verwerfung des Einspruchs die Einlassung des Betroffenen zur Sache unberücksichtigt geblieben ist, stellt unter diesen Umständen keine Versagung des rechtlichen Gehörs dar (vgl. OLG Karlsruhe aaO; siehe auch OLG Köln VRS 96, 451).

Anders läge es, wenn das Amtsgericht unter gleichsam willkürlich rechtfehlerhafter Anwendung von § 74 Abs. 2 OWiG das unabdingbare Mindestmaß verfassungsrechtlich verbürgten rechtlichen Gehörs verletzt hätte (vgl. BVerfG NJW 1992, 2811). Auch dies ist aber nicht der Fall. Die Auffassung des Amtsgerichts, wonach der Entbindungsantrag im Hinblick auf den Wortlaut von § 74 Abs. 2 OWiG ("entbunden war") und die Gesetzesmaterialien vor der Hauptverhandlung gestellt werden müsse, wird in der einschlägigen Kommentarliteratur vertreten (Göhler, aaO § 73 Rdn. 4). Der Gegenansicht von Senge (KK-OWiG, 5. Aufl. § 73 Rdn. 18) haben sich in neueren Entscheidungen zwar inzwischen einige Oberlandesgerichte angeschlossen (z.B. OLG Naumburg ZfSch 2002, 595; OLG Brandenburg ZfSch 2004, 235; vgl. auch OLG Karlsruhe VRS 109, 282). Eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main, die das Amtsgericht hier besonders zu beachten hätte, liegt dazu jedoch bislang noch nicht vor. Die Auffassung des Amtsgerichts war nach alledem jedenfalls vertretbar.

Hinzu kommt, dass der Betroffene auf die Folgen unentschuldigten Ausbleibens hingewiesen worden war, und er damit das Risiko der Verwerfung seines Einspruchs im Falle der Zurückweisung seines erst mit Beginn der Hauptverhandlung gestellten Entbindungsantrages zu tragen hat (vgl. Senge aaO). Dazu gehört auch, dass infolge der Verwerfung seine Sacheinlassung unberücksichtigt blieb. Der Betroffene hatte es selbst in der Hand, seinem Verteidigungsvorbringen, sei es durch Anwesenheit in der Hauptverhandlung, sei es durch einen rechtzeitig gestellten Entbindungsantrag, Gehör zu verschaffen.

3. Soweit damit von der in ZfSch 2004, 235 abgedruckten Entscheidung des OLG Brandenburg, der im Wesentlichen die gleiche Fallgestaltung zugrunde lag, abgewichen wird, ist eine Vorlage an den Bundesgerichtshof gemäß § 121 Abs. 2 GVG durch den Einzelrichter ausgeschlossen (BGHSt 44, 144; Senge aaO § 80a Rdn. 10). Eine Übertragung an den Senat kam ebenfalls nicht in Betracht, weil dies im Verfahren über die Zulassung der Rechtsbeschwerde wegen Versagung rechtlichen Gehörs nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG nach dem klaren Willen des Gesetzgebers, der in der Regelung des § 80a Abs. 3 Satz 2 OWiG zum Ausdruck gekommen ist, nicht vorgesehen ist (vgl. dazu BGHR OWiG § 80a Besetzung 2).

Im übrigen hat eine informelle Anfrage bei den übrigen Mitgliedern des Senats ergeben, dass sie die hier vertretene Rechtsauffassung teilen.

Ende der Entscheidung

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