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Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Beschluss verkündet am 08.08.2008
Aktenzeichen: 24 U 80/08
Rechtsgebiete: GKG


Vorschriften:

GKG § 47

Entscheidung wurde am 06.04.2009 korrigiert: der Volltext der Entscheidung wurde wegen fehlerhafter Konvertierung nicht unterstützter Zeichen komplett ersetzt
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

Der Kläger hat die Bekl. vor dem Landgericht auf Zahlung von € 9.486,91 verklagt. In der mündlichen Verhandlung vom 6. 3. 2008 (Sitzungsniederschrift Bl. 136 ff. d. A.) hat die Bekl., wie sich aus dem Tatbestand des angefochtenen Urteils (S. 4, Bl. 180 d. A.) ergibt, Klageabweisung beantragt. Das Landgericht hat Verkündungstermin auf den 17. 4. 2008 bestimmt. Mit Schriftsatz vom 4. 4. 2008 (Bl. 169 d. A.) hat die Bekl. vorgetragen, sie habe der Kl. auf deren klagegegenständlichen Zahlungsanspruch unter dem 3. 4. 2008 den Teilbetrag von € 1.294,54 überwiesen; insoweit erkenne sie den Klageanspruch an. Am Verkündungstermin hat das Landgericht Teilanerkenntnis- und Schlussurteil über eine Zahlungsverpflichtung der Bekl. von € 9.486,91 erlassen, davon über € 1.294,54 aufgrund des Teilanerkenntnisses. Gegen dieses Urteil hat die Beklagte, ohne Anträge anzukündigen, Berufung eingelegt und diese, ohne sie zu begründen, zurückgenommen.

Der Gegenstandswert des zweiten Rechtszuges war auf bis zu € 9.000.- festzusetzen. Nicht zu berücksichtigen war der auf das Teilanerkenntnisurteil entfallende Betrag. Denn bei der Beschwer, auf die für die Wertfestsetzung - sie erfolgt in Ermangelung einer Berufungsbegründung nach § 47 Abs. 1 Satz 2 GKG - abzustellen ist, handelt es sich um die formelle, nicht die materielle Beschwer. Es kommt darauf an, in welchem Umfang das Landgericht den von der Bekl. als Rechtsmittelführerin gestellten Anträgen nicht entsprochen hat; es kommt hingegen nicht darauf an, welche materielle Beschwer für die Bekl. aus diesem Urteil erwachsen ist.

1. Die Frage, ob unter "Beschwer" iSv § 47 Abs. 1 Satz 2 GKG die formelle oder die materielle Beschwer zu verstehen sei, ist umstritten.

a) Nach wohl überwiegender Auffassung, die der Senat nicht teilt, ist die materielle Beschwer maßgebend.

aa) Diese Auffassung geht auf eine ständige Rechtsprechung des Reichgerichts (z. B. Urteil vom 2. 2. 1942, RGZ 170, 346 ff., 348) zurück, die die als Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels erforderliche Beschwer, den Rechtsmittelstreitwert, auch für den Beklagten nicht an dessen in der Vorinstanz erfolglos gestellte Anträge, sondern an den dem Beklagten als Rechtsmittelführer nachteiligen Inhalt der angefochtenen Entscheidung knüpft.

bb) Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom 5. 1. 1955 (NJW 1955, 545f.) - ebenfalls für den Rechtsmittelstreitwert - an der reichsgerichtlichen Rechtsprechung festgehalten und ist, entgegen einer verbreiteten Literaturmeinung (vgl. die vom BGH aaO. zitierten Belege), der Kommentierung bei Stein/Jonas/Schönke, 18. Aufl., § 511 Anm. II A 2 zur ZPO gefolgt, wonach es auf die in der Vorinstanz gestellten Anträge nicht ankomme, sondern lediglich darauf, ob die ergangene Entscheidung dem berufungsführenden Bekl. nachteilig sei und deshalb für ihn die Möglichkeit bestehe, in einem höheren Rechtszug eine abweichende Entscheidung zu seinen Gunsten zu erlangen. Als zentrales Argument hat der BGH angeführt, die von einem Bekl. zur Sache gestellten Anträge seien für die Beschwer unerheblich, weil nicht über sie, sondern über die Anträge des Klägers entschieden werde. Abschließend hat der BGH in jenem Urteil ausgeführt, auf der vorgenannten Erwägung beruhe es auch zutreffender Weise, dass das Reichsgericht eine Berufung stets als zulässig behandelt habe, obwohl der Bekl. den Klaganspruch im ersten Rechtszug vollumfänglich anerkannt hatte.

cc) Das vorzitierte Urteil des BGH ist von dem OLG Karlsruhe in seinem Urteil vom 18. 12. 1981 (MDR 1982, 417f.) für den Gebührenstreitwert aufgegriffen worden. Es hatte - wie hier - über den Gebührenstreitwert einer vor Begründung zurückgenommenen Berufung des Bekl. gegen ein Teilanerkenntnis- und Schlussurteil zu befinden. Es hat dahin erkannt, der Wert sei auch aus dem anerkannten Teil zu nehmen. Dies hat es, im Anschluss an den BGH aaO., damit begründet, auf die Antragstellung des Bekl. könne es deswegen nicht ankommen, weil diese Anträge unerheblich seien, wie sich daran zeige, dass eine unschlüssige Klage auch bei fehlendem Beklagtenantrag zurückgewiesen werden müsse (aaO., S. 418).

dd) Das OLG Rostock ist dem OLG Karlsruhe noch mit Beschluss vom 19. 4. 04 (OLGR 2005, 17ff.) gefolgt; ebenso äußern sich Schneider/Herget, "Streitwertkommentar", 12., 2007, Rn 4536, sowie Stein/Jonas, 22. Aufl. 2003, Stichwort "Gebührenstreitwert in der Rechtsmittelinstanz" - alle nennen als Beleg allein die dargestellte Entscheidung des OLG Karlsruhe.

b) Nach anderer Auffassung (vgl. Zöller/Herget, 26. Aufl. 2007, Rn 16 Stichwort "Berufung" zu § 3 ZPO; Hartmann, Kostengesetze, 38. Aufl. 2008, Rn 7 zu § 47 GKG: "Die Beschwer ergibt sich aus dem Vergleich der Anträge des Rechtsmittelführers im vorigen Rechtszug und aus dem dort erzielten Ergebnis.", dort auch mwN.; zur älteren Literatur vgl. auch die Nachweise für diese, vom BGH abgelehnte, Meinung im oben zitierten Urteil des BGH vom 5. 1. 1955, S. 546 oben, sowie im zitierten Beschluss des OLG Karlsruhe von 1981) ist der Berufungskläger nur beschwert, soweit das Erstgericht seinen Anträgen nicht stattgegeben hat. Auch das OLG Jena (Beschluss vom 5. 11. 2001, MDR 2002, 480f.) stellt auf die formelle Beschwer als Obergrenze des Gebührenstreitwertes ab, und dies auch für dessen Bestimmung nach Rücknahme bei fehlender Begründung gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2 GKG a. F. (entspricht dem jetzigen § 47 Abs. 1 Satz 2 GKG n. F.).

c) Der Senat schließt sich aus den nachfolgenden Erwägungen der letztgenannten Auffassung an:

aa) Der Gesetzeswortlaut der für die Festsetzung des Gebührenstreitwerts maßgebenden Bestimmung in § 47 Abs. 1 Satz 2 GKG gebietet keine Anknüpfung an die materielle Beschwer, denn er unterscheidet nicht zwischen materieller und formeller Beschwer (vgl. dazu auch OLG Stuttgart, noch zu § 14 Abs. 1 Satz 2 GKG a. F., Beschluss vom 21. 9. 2000, MDR 2001, 112f.). Daher ist § 47 Abs. 1 Satz 2 GKG auszulegen.

bb) Für diese Auslegung ist vor allem die grundlegende Funktion der Gebührenwertfestsetzung maßgebend. Diese besteht darin, den Gerichten und Prozessbevollmächtigten einen, im Großen und Ganzen, am Wert des Streitgegenstandes orientierten und dadurch dem mit der Sachbehandlung verbundenen Aufwand Rechnung tragenden Gebührenanspruch zu verschaffen. Es liegt auf der Hand, dass eine Klageforderung, die vom Bekl. erstinstanzlich anerkannt - und bezahlt - ist, in der zweiten Instanz mit hoher Wahrscheinlichkeit weder für das Gericht noch für die Parteivertreter irgendeinen Arbeitsaufwand mehr nach sich zieht. Die grundsätzlich gegebene Möglichkeit, ein prozessuales Anerkenntnis anzufechten und das Berufungsverfahren darauf zu erstrecken, liegt praktisch so fern, dass sie einer Streitwertbemessung nur dann zugrunde gelegt werden kann, wenn besondere Umstände vorliegen. Die Gebührenwertfestsetzung nach § 47 Abs. 1 Satz 2 GKG hat zudem praktisch stets erst zu einem Zeitpunkt zu erfolgen, an dem feststeht, dass die Berufung nicht weiterverfolgt wird. Dann aber steht auch fest, ob - wie vorliegend nicht - eine Anfechtung des Teilanerkenntnisses erfolgen wird oder nicht. Daher wäre es vorliegend wenig sinnvoll, dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten für einen niemals zu treibenden Arbeitsaufwand höhere Gebühren zuzuerkennen.

cc) Der in der Rechtsprechung als einzige "Quelle" der gegenteiligen Auffassung fungierende und stets ohne eigene Begründung der Kommentatoren zitierte Beschluss des OLG Karlsruhe von 1981 überzeugt im Kern deswegen nicht, weil er aus der vom Reichsgericht und vom BGH für den Prozess- bzw. Rechtsmittelstreitwert gefundenen Ergebnis zu Unrecht Konsequenzen für den Gebührenstreitwert zieht. Dabei verkennt er den wesentlichen Unterschied zwischen beiden Wertfestsetzungen.

Der Prozess- oder Beschwerdestreitwert muss zu Beginn der Instanz sicher feststehen, weil von ihm Zuständigkeit und Zulässigkeit des Rechtsmittels abhängen. Dies wird durch eine summarische, an der materiellen Beschwer des vom Kl. erstrittenen und den Bekl. belastenden Urteils anknüpfende Wertfestsetzung erleichtert und mag deshalb erforderlich sein.

Hingegen hat der Gebührenstreitwert für ein vernünftiges Verhältnis zwischen Streitobjekt und Streitkosten zu sorgen; er ist im Lauf des Verfahrens korrigierbar (vgl. zu allem ausführlich und mit vielen Nachweisen Lappe NJW 1983, 1467ff., 1468 li Sp.), und kann deswegen unter Berücksichtigung des prozessualen Verhaltens auch des Bekl. festgesetzt werden.



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