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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Urteil verkündet am 07.02.2003
Aktenzeichen: 25 U 30/01
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 823
Besondere Sicherungsmaßnahmen gegen Selbstschädigungen psychisch Kranker müssen - auch bei Unterbringung in einer betreuten, jedoch offenen Wohneinrichtung - nur ergriffen werden, wenn aufgrund äußerlich erkennbarer Anzeichen von einer akuten Selbstgefährdung auszugehen ist (Anschluss an BGH VersR 2000, 1240).
Oberlandesgericht Frankfurt am Main 25. Zivilsenat in Kassel Im Namen des Volkes Urteil

25 U 30/01

Verkündet am 07.02.2003

In dem Rechtsstreit

...

hat der 25. Zivilsenat in Kassel des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main durch die Richter am Oberlandesgericht ...

aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 7. Februar 2003

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der 8. Zivilkammer des Landgerichts Ks. vom 30.11.2000 wird zurückgewiesen.

Die Kosten der Berufung fallen der Klägerin zur Last.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Beklagten für schwere, schließlich zum Tode führende Brandverletzungen des Sohnes der Klägerin verantwortlich sind und deshalb Schadensersatz sowie Schmerzensgeld schulden.

Der Sohn der Klägerin, M. K. L.-S., litt seit 1989 an einer chronischen psychischen Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis (paranoid halluzinatorische Psychose), wegen der es zu verschiedenen stationären Behandlungen kam. Während eines Aufenthaltes des Sohnes der Klägerin im L-N-Krankenhaus in Ks. wurde durch Beschluß des Amtsgerichts Kassel vom 27.04.1993 (Az.: 12 XVII 142/93; Kopie Bl. 50 bis 52 d. A.) der Beklagte zu 2) - als Mitarbeiter der Betreuungsbehörde der Stadt Ks. - zum Betreuer bestellt. Auf der Grundlage eines Heimvertrages vom 14. Februar 1994, wegen dessen Inhalts auf die bei der Akte befindliche Vertragskopie (Bl. 10 bis 17 d. A.) verwiesen wird, wurde der Sohn der Klägerin schließlich in das "Haus Rk." in Ks. aufgenommen. Hierbei handelt es sich um eine vom Beklagten zu 1) getragene betreute, jedoch offene Wohneinrichtung für psychisch Kranke und seelisch Behinderte. Die Beklagte zu 4) war zur hier interessierenden Zeit beim Beklagten zu 1) als Abteilungsleiterin tätig und in dieser Funktion intern zuständig für das "Haus Rk.". Der Beklagte zu 3) ist ein niedergelassener Arzt für Psychiatrie, der aufgrund einer Konsiliarvereinbarung mit dem Beklagten zu 1) im "Haus Rk." wohnende Patienten behandelte und eine regelmäßige Sprechstunde abhielt.

Am 25. Februar 1997 überschüttete sich der Sohn der Klägerin außerhalb der Wohneinrichtung (in einer Kleingartenanlage in V.) mit Be. in und entzündete dieses.

Dadurch erlitt er schwerste Verbrennungen, an deren Folgen er - trotz Behandlung in einer Spezialklinik für Brandopfer - am 2. Juni 1997 schließlich verstarb.

Ein daraufhin von der Klägerin initiiertes Ermittlungsverfahren, das sich unter anderem gegen die Beklagten zu 3) und 4) sowie den Fachbereichsleiter des Beklagten zu 1) richtete (StA Kassel 317 Js 16300.2/97), wurde eingestellt, weil die Staatsanwaltschaft nach dem Ergebnis der Ermittlungen keinen hinreichenden Verdacht für eine Straftat sah (§ 170 Abs. 2 StPO). Eine dagegen gerichtete Beschwerde der Klägerin blieb erfolglos.

Mit ihrer anschließend erhobenen Klage hat die Klägerin die Beklagten auf Zahlung eines Schmerzensgeldes aus ererbtem Recht ihres Sohnes (Mindestvorstellung:

150.000 DM), auf Zahlung eines Schmerzensgeldes aus eigenem Recht (Mindestvorstellung:

10.000 DM) sowie auf Schadensersatz in Höhe von 4.751 DM für im Zusammenhang mit der Beerdigung des Sohnes angefallene Kosten in Anspruch genommen.

Sie hat die Auffassung vertreten, die Beklagten hätten die zum Tode führende Selbstverbrennung ihres Sohnes zu verantworten, weil sie auf zuvor erkennbar gewordene Anzeichen einer akuten Suizidgefährdung nicht reagiert hätten. Diese Anzeichen hätten sich insbesondere aus dem (unstreitigen) Umstand ergeben, daß sich der Sohn der Klägerin am 16. Februar 1997 seine bis dahin in Form eines sogenannten Irokesenschnitts getragenen Kopfhaare abgeschnitten hat, sowie daraus, daß ihr Sohn - nach von ihr selbst gemachten Beobachtungen - am 18. und am 23. Februar 1997 eine ungewöhnlich gekrümmte und verkrampfte Körperhaltung gezeigt habe. Auch am Arbeitsplatz sowie im Hinblick auf die Teilnahme am Frühstück sei es zu Auffälligkeiten gekommen. Die Klägerin hat ferner behauptet, ihr Sohn habe in der Vergangenheit während der Unterbringungszeit bereits drei Suizidversuche unternommen.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie ein angemessenes Schmerzensgeld sowie 4.751 DM zu zahlen.

Die Beklagten haben beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie haben eine Verletzung von Pflichten und insbesondere die Erkennbarkeit einer Suizidgefahr in Abrede gestellt. Der Beklagte zu 2) hat darüber hinaus die Auffassung vertreten, er könne als sogenannter Amtsbetreuer nicht persönlich in Anspruch genommen werden. Durch das angefochtene Urteil, auf dessen Tatbestand und Entscheidungsgründe wegen der Einzelheiten verwiesen wird (Bl. 85 bis 95 d. A.), hat die 8. Zivilkammer des Landgerichts Kassel die Klage abgewiesen. Zur Begründung wurde im wesentlichen ausgeführt: Den Beklagten zu 2) könne die Klägerin schon deshalb nicht in Anspruch nehmen, weil er als amtlich bestellter Betreuer ein öffentliches Amt ausgeübt habe, so daß die Haftung für etwaige Pflichtverletzungen allein die Anstellungskörperschaft treffe. Auch im übrigen sei die Klage unbegründet, weil bereits nach dem eigenen Vortrag der Klägerin nicht angenommen werden könne, daß die selbstschädigende Handlung ihres verstorbenen Sohnes auf einem schuldhaften Verhalten der Beklagten beruhe. Denn es habe, was die Kammer auch ohne Einholung eines Sachverständigengutachtens beurteilen könne, keinen Anlaß gegeben, von der Möglichkeit eines bevorstehenden Selbsttötungsversuchs auszugehen.

Mit der dagegen gerichteten Berufung verfolgt die Klägerin ihre Klageanträge in vollem Umfang weiter. Sie beanstandet in verfahrensrechtlicher Hinsicht, daß das Landgericht ohne sachverständige Beratung Anzeichen für eine Suizidgefährdung verneint hat. Im übrigen wiederholt sie unter Vertiefung ihres bisherigen Vorbringens die Auffassung, daß die Selbstverbrennung ihres Sohnes von den Beklagten hätte verhindert werden können und müssen.

Die Beklagten stellen dies weiterhin in Abrede und verteidigen das angefochtene Urteil. Im Berufungsrechtszug sind die Klägerin sowie die Beklagten zu 3) und 4) persönlich angehört worden (Sitzungsniederschrift des Einzelrichters des Senats vom 31. Juli 2001, Bl. 152 bis 160 d. A.). Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen Dr. med. Be. (Arzt für Neurologie und Psychiatrie) vom 19.06.2002 (Bl. 185 bis 190 d. A.) nebst schriftlicher Ergänzung vom 21. August 2002 (Bl. 207 bis 213 d. A.). Im Senatstermin am 7. Februar 2003 hat der Sachverständige sein Gutachten mündlich erläutert und ergänzt (Sitzungsniederschrift vom 7. Februar 2003, Bl. 233 bis 237 d. A.). Die Akten der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Kassel 317 Js 16300.2/97 und des Amtsgerichts Kassel (12) XVII 142/93 waren beigezogen und zu Informationszwecken Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist an sich statthaft und auch im übrigen zulässig, insbesondere wurde sie form- und fristgerecht eingelegt und begründet. In der Sache bleibt das Rechtsmittel jedoch ohne Erfolg, weil das Landgericht die Klage zumindest im Ergebnis zu Recht abgewiesen hat. Den von der Klägerin unter anderem weiterverfolgten Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes aus eigenem Recht (Mindestvorstellung 10.000 DM) sieht der Senat als nicht schlüssig begründet an. Daß die Klägerin unter der Selbstverbrennung ihres Sohnes und seinem anschließenden Todeskampf gelitten hat, liegt zwar ohne weiteres nahe. Daraus allein folgt aber - selbst bei unterstellter Verantwortung der Beklagten für die Selbstverbrennung - noch nicht, daß die Beklagten der Klägerin ein Schmerzensgeld nach den §§ 823 Abs. 1, 847 Abs. 1 BGB (in der hier noch maßgeblichen alten Fassung) schulden. Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung müßte insoweit vielmehr als weitere Haftungsvoraussetzung hinzutreten, daß die Klägerin selbst eine Gesundheitsschädigung erlitten hat, die über diejenigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgeht, denen nahe Angehörige bei Unglücks- oder Todesfällen erfahrungsgemäß ausgesetzt sind (vgl. z. B. BGHZ 56, 163 ff; BGHZ 93, 351, 356). Das Vorliegen dieser Haftungsvoraussetzung vermag der Senat dem Vorbringen der Klägerin - auch soweit sie es aufgrund der ihr im Einzelrichtertermin vom 31. Juli 2001 erteilten Hinweise noch ergänzt hat - nicht zu entnehmen. Vielmehr ergibt der Tatsachenvortrag der Klägerin nur solche Belastungen und Beeinträchtigungen, die sich in vergleichbaren Situationen noch im Rahmen des Üblichen halten, und die deswegen als allgemeines Lebensschicksal ohne Entschädigung hinzunehmen sind (vgl. BGH a.a.O.).

Auch im Hinblick auf die weiteren von der Klägerin erhobenen Forderungen bestehen - teilweise - bereits Bedenken gegen die Schlüssigkeit des Klagevorbringens. So scheint eine genügende Grundlage für die u. a. geltend gemachte Haftung des Beklagten zu 2) nicht dargetan. Ob sich der Beklagte zu 2) als Betreuer auf das Haftungsprivileg des Artikel 34 GG berufen kann, mag zwar durchaus fraglich sein (vgl. dazu: BGHZ 100, 313, 314; Staudinger-Bienwald, BGB, 1999, § 1908 i Rdn. 233; Münchener Kommentar, BGB, 3. Aufl., § 1908 i Rdn. 20). Unabhängig davon käme jedoch eine Haftung des Beklagten zu 2) jedenfalls nur in Betracht, wenn ihm ein schuldhaftes Handeln oder Unterlassen anzulasten wäre. Worin konkret ein schuldhaftes Fehlverhalten in diesem Sinne bestanden haben soll, erschließt sich aber bereits aus dem Vorbringen der Klägerin nicht hinreichend. Daß etwa die Entscheidung, ihren Sohn in der Wohneinrichtung des Beklagten zu 1) unterzubringen, von vornherein falsch gewesen sei, macht die Klägerin selbst nicht geltend. Der Senat hat deshalb zugrundezulegen, daß der Beklagte zu 2) grundsätzlich davon ausgehen durfte, daß der von ihm betreute Sohn der Klägerin "in den richtigen Händen" sei. Eine Verantwortung des Beklagten zu 2) für die Selbstverbrennung am 25. Februar 1997 käme daher allenfalls dann in Betracht, wenn der Beklagte zu 2) eine signifikante Veränderung der Gegebenheiten, namentlich nach außen erkennbare Anzeichen einer Suizidgefährdung, schuldhaft nicht erkannt und/oder schuldhaft nicht darauf reagiert hätte. Dabei kann - nachdem gegenteilige Anhaltspunkte nicht vorgetragen worden sind - nicht vorausgesetzt werden, daß der Beklagte zu 2) etwa über spezielle medizinische (psychiatrische) Kenntnisse verfügte. Konkrete Tatsachen, die unter diesen Prämissen einen Schuldvorwurf gegen den Beklagten zu 2) tragen könnten, sind dem Vortrag der Klägerin nicht zu entnehmen. Dieser ergibt nicht einmal, daß die Vorgänge, welche die Klägerin als Anzeichen einer akuten Suizidgefährdung deutet, dem Beklagten zu 2) überhaupt zur Kenntnis gelangt waren. Nach ihren eigenen Angaben hat die Klägerin über die nach ihrer Ansicht beunruhigenden Beobachtungen nur mit der Beklagten zu 4) gesprochen. Auch im Hinblick auf den Beklagten zu 3), den Konsiliararzt der Wohneinrichtung, gibt das Vorbringen der Klägerin nicht klar zu erkennen, aus welchen Tatsachen sie den von ihr erhobenen Verschuldensvorwurf ableiten will. Das gilt jedenfalls unter Berücksichtigung der von der Klägerin widerspruchslos hingenommenen Ergebnisse der persönlichen Anhörung des Beklagten zu 3) in der mündlichen Verhandlung vom 31. Juli 2001. Denn danach hat der Beklagte zu 3) den Sohn der Klägerin zuletzt am 21. Februar 1997 in der Sprechstunde gesehen, dabei aber einen vergleichsweise eher günstigen Eindruck gehabt und jedenfalls keine Verhaltensauffälligkeiten im Sinne einer akuten Selbstgefährdung feststellen können. Ob der Beklagte zu 3) anläßlich der Sprechstunde am 21. Februar 1997 wahrgenommen hat, daß sich der Sohn der Klägerin die Haare abgeschnitten hatte, oder ob vielmehr die nunmehr ganz kurz geschnittenen Haare unter eine Baseballkappe verborgen waren, ist offen.

Das Gespräch, das der Beklagte zu 3) mit dem Betreuungspersonal der Wohneinrichtung führte und bei dem das Abschneiden der Haare thematisiert wurde, hat erst am Tag nach der Selbstverbrennung stattgefunden. Daß der Beklagte zu 3) noch vor dem 25. Februar 1997 davon informiert worden war, daß die Klägerin (angeblich) am 18. und 23. Februar 1997 von ihr als beunruhigend empfundene Beobachtungen gemacht hatte, kann dem Parteivorbringen ebenfalls nicht entnommen werden. Letztlich ist deshalb nicht erkennbar, an welche konkreten Tatsachen sich ein Verschuldensvorwurf gegen den Beklagte n zu 3) knüpfen könnte. Unabhängig von alledem lassen sich im Hinblick auf sämtliche Beklagten die Voraussetzungen für die von der Klägerin geltend gemachte Haftung jedenfalls wegen der Ergebnisse der im Berufungsrechtszug durchgeführten Beweisaufnahme nicht feststellen. Denn nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr. med. Be. in seinem schriftlichen Gutachten sowie bei seiner Anhörung durch den Senat gibt es keine tragfähige Grundlage für die Annahme, daß die Beklagten aufgrund äußerer Anzeichen mit einer erhöhten bzw. akuten Selbstschädigungsgefahr hätten rechnen und deswegen mit entsprechenden Sicherungsmaßnahmen hätten reagieren müssen. Das aber wäre Voraussetzung für einen haftungsrechtlich relevanten Verschuldensvorwurf.

Denn nach praktisch einhelliger Auffassung in der Rechtsprechung - und insbesondere nach gesicherter höchstrichterlicher Rechtsprechung - besteht (sogar) im Rahmen der stationären Behandlung in psychiatrischen Krankenhäusern eine Pflicht zu speziellen Sicherungsvorkehrungen gegen Selbstschädigungen psychisch Kranker, insbesondere zu freiheitsbeschränkenden Maßnahmen, nur beim Vorliegen besonderer Umstände, wobei auf die Gegebenheiten im Einzelfall abzustellen ist. Allein die latente Gefahr eines Suizids löst noch nicht die Verpflichtung aus, besondere Sicherheitsvorkehrungen zu ergreifen. Vielmehr entstehen verstärkte Sicherungspflichten erst, wenn von einer akuten Selbstmordgefahr auszugehen ist. Das Vorliegen dieser Voraussetzung wiederum ist - kommt es wie im vorliegenden Fall wirklich zu einer Selbstschädigung - nicht rückblickend ("ex post") zu beurteilen, sondern nach den vor der Selbstschädigung ("ex ante") für die Sicherungspflichtigen erkennbaren Umständen.

Maßstab für die einzuhaltende Sorgfalt ist - mit anderen Worten - das Erkennbarsein eines aktuellen Anlasses zu präventiven Maßnahmen.

Ferner beschränken sich die Sicherungspflichten auf das jeweils Erforderliche und das für das Krankenhauspersonal und den Patienten Zumutbare. Insoweit kommt es auch darauf an, inwieweit Sicherungsmaßnahmen therapeutisch vertretbar sind bzw. ob eine Beeinträchtigung der Therapie im Einzelfall in Kauf genommen werden darf (und muß), weil sie zum Wohl des Patienten erforderlich ist. Dabei ist zu berücksichtigen, daß insbesondere entwürdigende Überwachungs- und Sicherungsmaßnahmen, soweit sie überhaupt zulässig sind, nach heutiger medizinischer Erkenntnis eine erfolgversprechende Therapie gefährden können. Eine lückenlose, jegliche Gefahr ausschließende Überwachung und Sicherung kann ohnehin nicht erwartet werden. Ob nach diesen Grundsätzen eine Verletzung von Sorgfaltspflichten angenommen werden kann, darf das Gericht regelmäßig nicht ohne die Hinzuziehung eines medizinischen (psychiatrischen) Sachverständigen beurteilen (vgl. zu allem: BGH VersR 2000, 1240 f mit zahlreichen Nachweisen; BGH VersR 1994, 50 ff).

Danach ist zwar das angefochtene Urteil verfahrensfehlerhaft zustande gekommen, weil das Landgericht sich bei der Entscheidungsfindung nicht sachverständig hat beraten lassen und das angefochtene Urteil auch nicht zu erkennen gibt, daß etwa die Mitglieder der Zivilkammer selbst über Fachkenntnisse auf dem psychiatrischen Gebiet verfügten. Ungeachtet dieses Verfahrensfehlers erweist sich das angefochtene Urteil aber im Ergebnis als richtig. Denn auch nachdem die gebotene Hinzuziehung eines Sachverständigen im Berufungsrechtszug nachgeholt worden ist, läßt sich eine Grundlage für die geltend gemachte Haftung der Beklagten nicht feststellen, was zu Lasten der insoweit beweisbelasteten Klägerin gehen muß.

Dabei kann dahingestellt bleiben, ob an den Beklagten zu 1) als Träger einer betreuten Wohneinrichtung und an sein Personal dieselben Sorgfaltsanforderungen gestellt werden dürfen wie an ein psychiatrisches Fachkrankenhaus. Denn jedenfalls kann kein strengerer Sorgfaltsmaßstab angelegt werden als bei der stationären Behandlung eines psychisch Kranken in einer psychiatrischen Klinik, und der Nachweis eines speziellen Sicherungsbedürfnisses wegen einer akuten und ex ante erkennbaren Selbstmordgefährdung ist nicht erbracht worden.

Dabei war zu bedenken, daß der Sohn der Klägerin in einer "offenen" Wohneinrichtung untergebracht war, deren erklärtes therapeutisches Ziel es ausweislich des geschlossenen Heimvertrages (Bl. 10 ff d. A.) ist, Hilfe und Betreuung zu verbinden mit einem vertrauensvollen Umgang (der nach moderner medizinischer Auffassung bei psychisch Kranken angezeigt ist, vgl. BGH VersR 1994, 50 ff) sowie mit der Förderung der größtmöglichen Selbständigkeit sowie der persönlichen Zufriedenheit der Bewohner. Die von der Klägerin als Haftungsgrundlage geltend gemachte Selbstverbrennung hat sich außerhalb der Wohneinrichtung des Beklagten zu 1) zugetragen, mithin zu einem Zeitpunkt bzw. bei einer Gelegenheit, als der Sohn der Klägerin nicht unter der unmittelbaren Aufsicht des Betreuungspersonals war. Es ist deshalb davon auszugehen, daß die Selbstschädigung vom 25. Februar 1997 nur zu verhindern gewesen wäre, wenn man dem Sohn der Klägerin die in der Wohneinrichtung des Beklagten zu 1) grundsätzlich gewährten und zum therapeutischen Konzept gehörenden Freiheiten - jedenfalls vorübergehend - genommen hätte, sei es durch eine (geschlossene) Unterbringung auf der Grundlage des Hessischen Freiheitsentziehungsgesetzes (HFEG) oder durch freiheitsentziehende Maßnahmen im Sinne von § 1906 BGB. Davon geht auch die Klägerin nach ihrem Vorbringen offensichtlich aus.

Aus dem Absehen von freiheitsentziehenden Maßnahmen bzw. von darauf gerichteten Bemühungen (z. B. von einem Unterbringungsantrag nach dem HFEG) könnte den Beklagten aber nur dann ein haftungsrechtlich relevanter Schuldvorwurf gemacht werden, wenn sich feststellen ließe, daß sich der Sohn der Klägerin in der Zeit vor dem 25. Februar 1997 erkennbar in einem so gefährdeten Zustand befand, daß freiheitsentziehende Maßnahmen einerseits als aus fachlicher Sicht - unter Abwägung gegen das therapeutische Anliegen - angezeigt schienen, andererseits aber auch als rechtlich zulässig.

Bei der Beurteilung der Frage, ob nach dem Kenntnisstand der Beklagte n bis zum 25. Februar 1997 von einer akuten Suizidgefährdung auszugehen war, hatte der Senat weiter zu beachten, daß die ursprüngliche Behauptung der Klägerin in der Klageschrift, ihr Sohn habe bereits drei Suizidversuche "während der Unterbringungszeit" unternommen, sich als aus der Luft gegriffen erwiesen hat. Daß in den Krankenunterlagen ihres Sohnes keine früheren Suizidversuche dokumentiert sind, hat die Klägerin nach mit der Berufung nicht angegriffener Feststellung im angefochtenen Urteil bereits in der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht zugestanden. Die Anhörung der Klägerin durch den Einzelrichter des Senats am 31. Juli 2001 hat darüber hinaus ergeben, daß es in der Vergangenheit allenfalls ein einziges Ereignis gegeben hat, das - zumindest aus der subjektiven Sicht der Klägerin - als Suizidversuch gedeutet werden konnte. Für eine Haftung der Beklagten läßt sich daraus jedoch nichts gewinnen, weil sich dieses Ereignis entgegen den ursprünglichen Behauptungen der Klägerin nicht "während der Unterbringungszeit" zugetragen hat, sondern nach dem Ergebnis der Anhörung der Klägerin vielmehr zu einem Zeitpunkt, als sie ihren Sohn noch zu Hause betreute. Daß die Beklagten gleichwohl Kenntnis von diesem Ereignis gehabt hätten, ist nicht dargetan.

Letzteres gilt im übrigen auch, soweit die Klägerin noch darauf verwiesen hat, sie habe von einem Mitbewohner der Einrichtung erfahren, daß ihr Sohn auf eine Lebensmüdigkeit hindeutende Äußerungen von sich gegeben habe. Denn inwieweit diese angeblichen Äußerungen auch den Beklagten (bzw. welchen von ihnen) zur Kenntnis gelangt sind, ist schon nach dem eigenen Vorbringen der Klägerin völlig offen. Bei der Beurteilung der Frage, ob und inwieweit sich die Beklagten zu Sicherungsmaßnahmen hätten veranlaßt sehen müssen, konnte der Senat nach alledem nicht zugrundelegen, daß den Beklagten frühere Suizidversuche oder zumindest dahingehende (verbale) Ankündigungen bekannt waren und deswegen Anlaß zu besonderer Vorsicht bestand. Anknüpfungspunkt für die Frage nach einer durch äußere Anzeichen erkennbar hervorgetretenen akuten Gefährdung konnten danach - neben der als gesichert anzusehenden Grunderkrankung - allein die teils unstreitigen, teils aber auch nur von der Klägerin behaupteten Verhaltensweisen ihres Sohnes in der Zeit vor dem 25. Februar 1997 sein. Dabei kann im Ergebnis offen bleiben, ob die Beobachtungen, welche die Klägerin nach ihrer Darstellung am 18. und am 23. Februar 1997 gemacht hat, zutreffen und - wenn ja - als wie verläßlich der von der Klägerin geschilderte subjektive Eindruck, ihr Sohn habe bei diesen Gelegenheiten ein desolates bzw. erschreckendes Erscheinungsbild gezeigt, angesehen werden könnte angesichts des Umstands, daß die Klägerin ihren Sohn nach eigenen Angaben bei beiden Gelegenheiten nur aus mehr oder weniger großer Entfernung, am 23. Februar 1997 zudem nur flüchtig im Vorbeifahren am Bahnhof Wilhelmshöhe gesehen und nicht mit ihm gesprochen hat. Denn auch wenn man die von der Klägerin vorgetragenen Beobachtungen und Eindrücke als zutreffend unterstellt, läßt sich aus ihnen - wie auch aus dem unstreitigen Abschneiden der Haare - nach den Ergebnissen der durchgeführten Beweisaufnahme nicht die Schlußfolgerung ziehen, es hätten konkrete Hinweise auf eine akute Suizidgefährdung vorgelegen. Denn der Sachverständige ist auch bei seiner Anhörung durch den Senat mit Bestimmtheit bei seinem - bereits im schriftlichen Gutachten zum Ausdruck gekommenen - Standpunkt geblieben, daß den von der Klägerin aus ihrer Sicht als alarmierend gewerteten Vorkommnissen objektiv keine solche Bedeutung beigemessen werden kann. Hierzu hat der Sachverständige einleuchtend darauf hingewiesen, daß Verhaltensweisen und Ereignissen, die gemessen am "normalen" Maßstab eines geistig gesunden Menschen durchaus als signifikant und besorgniserregend zu bewerten wären, in dem hier gegebenen Kontext einer chronischen Schizophrenie nicht derselbe Stellenwert beigemessen werden kann, weil Verhaltensauffälligkeiten und Normabweichungen - sei es beim Haarschnitt oder in anderer Hinsicht - zwangsläufige Folgeerscheinungen der Grunderkrankung sind und deshalb nicht per se einen Hinweis auf eine akute Suizidgefährdung liefern. Der Sachverständige hat weiter ausgeführt, daß eine auf jeden Einzelfall übertragbare Typisierung von Warnhinweisen nicht möglich sei. Vielmehr hänge die konkrete Bedeutung äußerlich wahrnehmbarer Auffälligkeiten jeweils von der individuellen Krankengeschichte und der Persönlichkeit des Betroffenen ab. Nach dem Bild, das er sich insoweit anhand der ihm zugänglichen Krankenunterlagen vom Sohn der Klägerin habe machen können, lasse sich nicht feststellen, daß die von der Klägerin angeführten Verhaltensauffälligkeiten signifikante Hinweise auf eine akute Suizidgefahr geliefert und ausgereicht hätten, um im damaligen Zeitpunkt in rechtlich zulässiger Weise freiheitsentziehende Maßnahmen gegen den Sohn der Klägerin anzuordnen. Der Sachverständige hat schließlich deutlich gemacht, daß bereits die Vorstellung, selbstschädigende Handlungen kündigten sich vorher durch besondere Auffälligkeiten an, jedenfalls im Hinblick auf an Schizophrenie leidende Patienten so nicht zutrifft. Er hat hierzu einleuchtend darauf hingewiesen, daß nach statistischen Erkenntnissen Selbsttötungen von an Schizophrenie Erkrankten keineswegs nur in akut psychotischen Phasen erfolgen, sondern gerade auch dann vorkommen, wenn sich der Kranke in einer relativ ruhigen und "normalen" Verfassung befindet; es könne dann zu sogenannten "Bilanz-Selbsttötungen" kommen, weil der Patient in relativ klaren Momenten in der Lage ist, seine Krankheit zu erfassen, und daraus unter Umständen die Schlußfolgerung zieht, daß das Leben für ihn keinen Wert mehr habe. Ob das auch beim Sohn der Klägerin so gewesen ist, konnte der Sachverständige auf der Grundlage der ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisse zwar im Nachhinein nicht sicher beantworten. Andererseits läßt sich diese Möglichkeit jedoch auch nicht ausschließen, zumal der Sohn der Klägerin nach den unwidersprochen gebliebenen Angaben des Beklagten zu 3), die sich insoweit auch mit dessen Aufzeichnungen in der ärztlichen Dokumentation (Bl. 53) decken, beim letzten Sprechstundenbesuch wenige Tage vor der Selbstverbrennung sich vergleichsweise zugewandt und ausgeglichen zeigte.

Nach alledem hat die Beweisaufnahme keine tragfähige Grundlage für die Feststellung ergeben, daß die Beklagten aufgrund von nach außen erkennbar gewordenen konkreten Hinweisen auf eine akute Suizidgefährdung zu verstärkten Sicherheitsvorkehrungen verpflichtet gewesen wären. Insbesondere läßt sich auch nicht feststellen, daß die Beklagten freiheitsentziehende Maßnahmen, die nur beim Vorliegen einer konkreten und ernsthaften Selbstgefährdung zulässig gewesen wären (§ 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB, § 1 Abs. 2 HFEG), hätten ergreifen oder veranlassen können. Von schuldhaften Versäumnissen oder Pflichtverletzungen seitens der Beklagten im Sinne von unerlaubten Handlungen (§ 823 BGB) oder auch - im Hinblick auf die Beklagten zu 1) und 3) - im Sinne von zu verantwortenden Vertragsverletzungen (§ 276 BGB) kann daher im Ergebnis nicht ausgegangen werden. Deshalb ist weder hinsichtlich des materiellen noch hinsichtlich des immateriellen Schadens eine Grundlage für die von der Klägerin erhobenen Ansprüche feststellbar.

Da das Rechtsmittel somit ohne Erfolg bleiben muß, hat die Klägerin die Kosten der Berufung zu tragen (§ 97 Abs. 1 ZPO).

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit hat ihre Grundlage in § 708 Nr. 10 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2 ZPO in der seit dem 1. Januar 2002 geltenden Fassung) sind nicht ersichtlich. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung, und eine Entscheidung des Revisionsgerichts ist auch nicht zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich.

Insbesondere sind für die Beurteilung der Sache weder ungeklärte Rechtsfragen noch eine Abweichung von sonst in der Rechtsprechung vertretenen Auffassungen maßgeblich. Was die rechtlichen Grundlagen der Haftung für Selbstschädigungen psychisch Kranker angeht, ist der Senat bei seiner Entscheidung von durch die höchstrichterliche Rechtsprechung bereits geklärten Maßstäben ausgegangen.

Streitentscheidend ist letztlich, ob sich die nach diesen Maßstäben in tatsächlicher Hinsicht erforderlichen Haftungsvoraussetzungen nach den konkreten Umständen des unterbreiteten Sachverhalts feststellen lassen. Eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung kommt der Sache deshalb nicht zu.

Ende der Entscheidung

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