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Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Beschluss verkündet am 04.04.2005
Aktenzeichen: 3 Ws 224/05
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 44
StPO § 45
StPO § 329 I
StPO § 329 III
1. Derjenige, der wegen einer fehlenden Zustellung oder eines der Ladung zur Berufungshauptverhandlung anhaftenden Mangels nicht säumig war, aber zu Unrecht als säumig behandelt wird, ist einem schuldlos Säumigen gleichzustellen.

2. Deshalb muss auch demjenigen Angeklagten Wiedereinsetzung gem. § 329 III StPO analog ohne Rücksicht auf sein etwaiges Verschulden gewährt werden, der zwar infolge Trunkenheit verhandlungsunfähig ist, bei dem dieser Sachverhalt sich aber nicht zu Beginn der Hauptverhandlung, sondern erst während der Beweisaufnahme herausstellt, und dennoch eine Verwerfung seiner Berufung nach § 329 StPO erfolgt.


Gründe:

Der Angeklagte wurde vom Amtsgericht Kassel am 5. 8. 2004 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten verurteilt. Hiergegen haben der Angeklagte form- und fristgerecht unbeschränkt, die Staatsanwaltschaft auf das Strafmaß beschränkt Berufung eingelegt. Nachdem die erste Berufungshauptverhandlung im November 2004 wegen der Erkrankung eines Schöffen ausgesetzt werden musste, wurde durch Verfügung des Vorsitzenden vom 29. 11. 2004 neuer Termin zur Berufungshauptverhandlung auf Dienstag, den 18. 1. 2005 um 10.30 Uhr bestimmt. Da der Angeklagte unter der zuletzt von ihm angegebenen Anschrift nicht geladen werden konnte, verfügte der Vorsitzende am 15. 12. 2004 die öffentliche Zustellung der Ladung. Zum Hauptverhandlungstermin am 18. 1. 2005 erschien der Angeklagte im Beistand seines Verteidigers. Ausweislich des Protokolls der Hauptverhandlung begann die Sitzung um 10.43 Uhr. Nachdem u. a. das Urteil 1. Instanz auszugsweise verlesen worden war und der Angeklagte sich zur Sache geäußert hatte sowie verschiedene Urkunden zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht worden waren, wurde die Verhandlung erstmals um 11.08 Uhr unterbrochen, da dem Gericht zwischenzeitlich eine erhebliche Alkoholisierung des Angeklagten aufgefallen war. Nach Hinzuziehung eines Amtsarztes, der nach der Untersuchung des Angeklagten zu dem Schluss kam, dieser sei nicht in der Lage, die Folgen einer längeren Verhandlung zu übersehen, verwarf die Strafkammer nach Fortsetzung der Verhandlung um 12.52 Uhr die Berufung des Angeklagten gemäß § 329 Abs. 1 StPO, da sich der Angeklagte schuldhaft in einen die Verhandlungsunfähigkeit begründenden Zustand versetzt habe und bei dieser Sachlage als geistig abwesend anzusehen sei.

Mit fristgerecht eingegangenem Schriftsatz seines Verteidigers vom 24. 1. 2005 hat der Angeklagte um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung nachgesucht. Er habe versucht, der Aufregung vor dem anstehenden Termin durch den Konsum von Alkohol und Beruhigungsmitteln zu begegnen. Er sei davon ausgegangen, dass es im Gerichtstermin, in dem er anwaltlich vertreten war, nur auf seine - körperliche - Anwesenheit ankomme. Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Landgericht diesen Antrag zurückgewiesen, da keine neuen Tatsachen vorgetragen worden seien, aus denen sich ergeben könnte, dass er ohne Verschulden an der Wahrnehmung des Termins gehindert gewesen wäre. Hiergegen richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde des Angeklagten, die auch in der Sache Erfolg hat.

Dem Angeklagten war in entsprechender Anwendung des § 329 Abs. 3 StPO Wiedereinsetzung ohne Rücksicht auf ein Verschulden bei der Terminsversäumung zu gewähren.

Nach herrschender Meinung, der sich der Senat angeschlossen hat, ist einem Angeklagten ohne Rücksicht auf ein Verschulden in entsprechender Anwendung des § 329 Abs. 3 i. V. mit §§ 44, 45 StPO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung zu gewähren, wenn er hierzu nicht ordnungsgemäß geladen worden ist, dieser Ladungsmangel kausal für sein Nichterscheinen war und der fristgerecht eingegangene Wiedereinsetzungsantrag die nach den §§ 44, 45 StPO erforderlichen Tatsachenangaben enthält ( vgl. BGH, Beschl. v. 11. 11. 1986, NJW 1987, 1776 m. w. N.; OLG Frankfurt, Beschl. v. 4. 12. 1995, 3 Ws 781/95; OLG Köln, Beschl. v. 14. 3. 2000; NStZ-RR 2002, 142 ). Nach ständiger Rechtsprechung des Senats ist ferner § 44 StPO entsprechend anzuwenden, wenn das Landgericht zu Unrecht von einer wirksamen Zustellung einer mit der sofortigen Beschwerde anfechtbaren Entscheidung des Amtsgerichts ausgegangen ist und deshalb irrig die Einlegungsfrist als versäumt angesehen hat. In diesem Fall führt die sofortige Beschwerde gegen die Verwerfung des Antrags auf Wiedereinsetzung gegen die - vermeintlich - versäumte Frist ohne jede weitere Sachprüfung zur Wiedereinsetzung ( vgl. OLG Frankfurt, Beschl. v. 18. 1.1980, 1 Ws (B) 4/80 OwiG, MDR 1980, 513; Senatsbeschluss vom 21. 6. 1999, 3 Ws 712/99 ). Die Gewährung der Wiedereinsetzung in diesen Fällen beruht auf der Überlegung, dass derjenige, der zwar wegen einer fehlerhaften Zustellung oder eines der Ladung selbst anhaftenden Fehlers nicht säumig war, aber zu Unrecht als säumig behandelt worden ist, einem schuldlos Säumigen gleichgestellt werden müsse ( vgl. Meyer - Goßner, StPO, 47. Auflage, Rdnr. 41 zu § 329 ).

Ein gleichgelagerter Fall ist auch hier anzunehmen. Nach § 329 Abs. 1 StPO rechtfertigt nur das Ausbleiben des Angeklagten bei Beginn der Berufungshauptverhandlung die Verwerfung seines Rechtsmittels. § 329 StPO ist eine auf das Engste auszulegende Ausnahmebestimmung von dem Grundsatz, dass gegen einen abwesenden Angeklagten nach §§ 230 Abs. 1, 332 StPO kein Urteil erlassen werden darf ( BGHSt 17, 188, 189 ). Zwar umfasst der Begriff des Nichterscheinens auch die geistige Abwesenheit des Angeklagten bei Verhandlungsunfähigkeit infolge schuldhafter Trunkenheit ( vgl. Meyer-Goßner, a. a. O., § 329 Anm. 14 m. w. N. ), dies gilt jedoch aufgrund des Ausnahmecharakters des § 329 Abs. 1 StPO nicht für den Fall, dass sich dieser Sachverhalt erst im Lauf der Verhandlung während der Beweisaufnahme herausstellt ( OLG Celle, StV 1994, 365; OLG Karlsruhe, NStZ 1990, 297 ). Da das Landgericht erst nach der Einlassung des Angeklagten zur Sache und etlichen Beweiserhebungen auf dessen Alkoholisierung und daraus resultierenden Verhandlungsunfähigkeit aufmerksam geworden ist, durfte der Angeklagte nicht mehr als nicht erschienen und somit säumig behandelt werden. Dies hat das Landgericht verkannt. Der Angeklagte hat ferner rechtzeitig ein Wiedereinsetzungsgesuch gestellt. Die Tatsachen, die den Verstoß gegen § 329 Abs. 1 StPO begründen, ergeben sich aus dem Urteil vom 18. 1. 2005. Mithin war dem Angeklagten nach den für Ladungs- und Zustellungsmängel entwickelten Grundsätzen in entsprechender Anwendung des § 329 Abs. 3 StPO - ohne dass es auf ein Verschulden seinerseits ankäme - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Berufungshauptverhandlung zu gewähren.

Die Gewährung der Wiedereinsetzung führt nicht zu einer Kostenbelastung des Angeklagten gemäß § 473 Abs. 7 StPO. Vielmehr war wegen der unrichtigen Behandlung der Sache durch das Landgericht gemäß § 21 Abs. 1 S. 1 GKG von der Auferlegung der Kosten abzusehen. Die Kosten - und Auslagenentscheidung für das Beschwerdeverfahren ergibt sich aus §§ 467, 473 Abs. 3 StPO analog.

Ende der Entscheidung

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