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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Beschluss verkündet am 20.05.2005
Aktenzeichen: 3 Ws 343/05
Rechtsgebiete: MRK, StGB


Vorschriften:

MRK § 6
StGB § 57
1. Es stellt keinen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung dar, wenn das Vollstreckungsgericht bei der Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes das Bestehen einer ungünstigen Sozialprognose auch auf einen Sachverhalt stützt, der Gegenstand eines Strafverfahrens gegen den Gefangenen war, das mit einem Freispruch endete.

2. Der Freispruch entfaltet keine Bindungswirkung hinsichtlich seiner tatsächlichen Feststellungen, das Vollstreckungsgericht ist vielmehr seiner Beweiswürdigung bei der Feststellung der prognoserelevanten Umstände frei.


Gründe:

Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt keine andere Beurteilung.

Der Sachverständige hat in überzeugender und nachvollziehbarer Weise dargelegt, dass die Gefährlichkeit des Verurteilten fortbesteht.

Diese resultiere, so der Sachverständige zusammenfassend, aus der egozentrischen Bereitschaft, Kränkungen, insbesondere von Frauen, aggressiv zu beantworten. Hinsichtlich der abgeurteilten Tat sei es nicht zu einem Prozess der Verinnerlichung gekommen. Weder gebe es Einsicht in eigene Schuld noch empfinde er eigenes Mitleid mit dem Opfer und den anderen Geschädigten. Die Verlegung in die sozialtherapeutische Anstalt in ... lehne der Verurteilte konsequent ab, an einer Intensivierung therapeutischer Bemühungen bestehe kein Interesse, obwohl er nach wie vor nicht ansatzweise einen Blick für eigene Schwächen, eigene Gefährdung und kein Konzept dafür habe, wie er in Zukunft kritische Situationen vermeiden könne.

Der Verurteilte hat sich zwar nunmehr in der Anhörung vor der Kammer einverstanden erklärt, in die sozialtherapeutische Anstalt zu gehen, angesichts der beschriebenen Persönlichkeitsstruktur verbietet es sich jedoch, die bedingte Entlassung des Verurteilten auch nur zu erwägen, bevor nicht seine Behandlung zumindest begonnen wurde und Lockerungen erfolgreich durchgestanden worden sind.

Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers stellt es keinen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung (vgl. Art. 6 Abs. 2 MRK) dar, dass das Vollstreckungsgericht seine Prognoseentscheidung nach § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB auch auf die Vorfälle mit Y vom Januar und März 1997 gestützt hat, obwohl der Verurteilte diesbezüglich vom Amtsgericht Frankfurt freigesprochen worden ist. Der Senat hat dies bereits in seinen Entscheidungen vom 28.06.1999 - 3 Ws 516/99 - und vom 30.11.2001 - 3 Ws 1172-1173/01 - eingehend dargelegt.

Der Senat hält an dieser Auffassung auch im Hinblick auf die Entscheidung des EGMR vom 03.10.2002 (NJW 2004, S. 43) fest, wonach die Unschuldsvermutung die Schuldfeststellung in einem Strafverfahren ausschließt, das nicht von dem für die Aburteilung zuständigen Gericht geführt wird. Der vom EGMR entschiedene Fall betraf den Bewährungswiderruf gem. § 56 f Abs. 1 Nr. 1 StGB und ist daher mit dem vorliegenden Sachverhalt nicht vergleichbar. Während § 56 f Abs. 1 Nr. 1 StGB als Tatbestandsvoraussetzung die Feststellung einer neuen Straftat erfordert und hieran - bei Vorliegen weiterer Voraussetzungen - die Rechtsfolge der Freiheitsentziehung knüpft, ist die bedingte Reststrafenaussetzung (nur) vom Vorliegen einer günstigen Sozialprognose abhängig; zudem geht es hierbei nicht um die Anordnung einer Freiheitsentziehung wegen einer weiteren Straftat, sondern allein um die Frage der Fortsetzung der Vollstreckung einer bereits rechtskräftig erkannten Strafe wegen ungünstiger Prognosebeurteilung (OLG Düsseldorf StV 1992, 287; OLG Hamm NStZ 2004, 685). Damit betrifft die Entscheidung nach § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB einen anderen Lebenssachverhalt (Sozialprognose) und verfolgt eine andere Zielrichtung (Fortdauer der Vollstreckung).

Im übrigen stützt sich zwar vorliegend die ungünstige Prognose auch auf die Begehung einer Straftat zum Nachteil von Frau Y, diese Feststellung erfolgt jedoch nur inzidenter im Rahmen der Prognosebeurteilung und dient lediglich als ein Element zur Begründung der negativen Sozialprognose.

Nach ständiger Rechsprechung des Senats reicht sogar bei der nach § 57 StGB zu treffenden Prognoseentscheidung bereits der dringende Verdacht, dass ein Verurteilter aus dem Vollzug heraus Straftaten begangen hat, aus , ihm - ohne Verstoß gegen die Unschuldsvermutung - die bedingte Entlassung aus der Strafhaft zu verweigern (vgl. BverfG, NStZ 1988, 1715, 1716; NJW 1994, 377; Senat, Beschluss vom 26.02.2002 - 3 Ws 196/02 m.w.N.; vom 28.10.2004 - 3 Ws 988-990/04). Denn die anzustellende Prognose kann bereits ungünstig erscheinen, wenn "die hohe Wahrscheinlichkeit einer zwischenzeitlich begangenen weiteren Tat des Verurteilten" besteht. Die negative Prognoseentscheidung erfordert demgemäß nicht, dass Feststellungen über das Vorliegen einer neuerlich begangenen Straftat im Sinne einer Schuldspruchreife getroffen werden (BVerfG, NStZ 94, 377 [378]).

Der Berücksichtigung des strafbaren Verhaltens zum Nachteil der Zeugin Y bzw. des dringenden Verdachts einer strafbaren Handlung steht der Freispruch durch das Amtsgericht Frankfurt nicht entgegen. Zwar wirkt die Unschuldsvermutung in die Nebenentscheidungen hinein, wenn es durch Freispruch zu keiner Verurteilung kommt, mit der Folge, das es ausgeschlossen ist, dem Angeklagten, dessen Schuld nicht erwiesen ist, wegen eines fortbestehenden Verdachts nachteilige Rechtsfolgen aufzuerlegen, sofern diese wegen ihres Zusammenhangs mit dem Strafverfahren sozial ähnlich stigmatisierend wirken wie das sozialethische Unwerturteil der eigentlichen Strafsanktion (vgl. LR-Gollwitzer, StPO, 25. Auflage, MRK Art. 6 Rdnr. 129 m.w.N.), jedoch handelt es sich vorliegend nicht um eine mit dem Strafverfahren vor dem Amtsgericht Frankfurt im Zusammenhang stehende Nebenentscheidung des dortigen Freispruchs. Im Verfahren nach § 57 StGB geht es um einen gänzlich anderen Sachverhalt, nämlich um die Frage, ob die bereits begonnene Vollstreckung einer in einem (anderen) Strafverfahren rechtskräftig erkannten Strafe wegen fortbestehender Gefährlichkeit fortzusetzen ist.

Der Freispruch durch das Amtsgericht Frankfurt entfaltet auch keine Bindungswirkung hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen in diesem Urteil (zur Bindungswirkung vgl. OLG Düsseldorf, MDR 1990, 1133; LR-Rieß, a.a.O., Einleitung Abschnitt J Rdnr. 103 f m.w.N.;KK-Pfeiffer, StPO, 5. Auflage, Einleitung Rdnr. 167). Die Prognoseentscheidung nach § 57 StGB verlangt, dass der Richter die Grundlagen seiner Prognose selbständig bewertet, verbietet mithin, dass er die Bewertung einer anderen Stelle überlässt. Darüber hinaus fordert sie vom Richter, dass er sich ein möglichst umfassendes Bild über die zu beurteilende Person verschafft (BVerfG NJW 2000, 501; 2 BvR 517/97 - in Juris veröff.). Das Vollstreckungsgericht ist daher weder an ein freisprechendes noch an ein verurteilendes anderes Erkenntnis gebunden (vgl. OLG Düsseldorf a.a.O.; LR - Gollwitzer, a.a.O., Rdnr. 157 ff.). Die in einer solchen Entscheidung getroffenen Tatsachenfeststellungen haben vielmehr lediglich die Bedeutung eines Beweisgrundes (vgl. auch KG, NStZ - RR 2005 S. 94; OLG Düsseldorf a.a.O.). Die Strafvollstreckungskammer hat daher in freier Beweiswürdigung eigenverantwortlich die Grundlagen der Prognose festzustellen. Käme dem Freispruch durch das Amtsgericht Frankfurt für die jetzt zu treffende Prognoseentscheidung präjudizierende Bindungswirkung zu, so müsste die Strafvollstreckungskammer die allein von ihr zu vertretende und zu verantwortende Entscheidung wider besseres Wissen und gegen ihre Überzeugung treffen.

Im Hinblick darauf, dass die lebenslange Freiheitsstrafe nur dann als verfassungsrechtlich unbedenklich anzusehen ist, wenn mit ihr ein sinnvoller Behandlungsvollzug einhergeht (vgl. BVerfG NStZ 1996, 614; OLG Karlsruhe, NStZ - RR 2004, 287) sind angesichts der vom Verurteilten nunmehr erklärten Bereitschaft, sich in die sozialtherapeutische Anstalt verlegen zu lassen, zeitnah Maßnahmen zur Behandlung veranlasst.

Ende der Entscheidung

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