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Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Beschluss verkündet am 16.02.2006
Aktenzeichen: 8 U 107/03
Rechtsgebiete: GG, ZPO


Vorschriften:

GG Art. 100 II
ZPO § 148
ZPO § 150
Die gegen die Republik Argentinien anhängigen Zivilverfahren aus Staatsanleihen, die vor dem sog. "Default" herausgegeben wurden, werden wieder aufgenommen, weil sich die Republik Argentinien nicht mehr auf Staatsnotstand berufen kann.
Gründe:

I.

Der Senat hat mit Beschluss vom 29.07.2003 (Bl. 471/473 d. A.) den Rechtsstreit in analoger Anwendung von § 148 ZPO ausgesetzt, um zunächst das in den Parallelverfahren 8 U 59/03 und 8 U 60/03 eingeleitete Normenverifikationsverfahren nach Art. 100 Abs. 2 GG vor dem Bundesverfassungsgericht durchführen zu lassen. Dort geht es um die Frage, ob es eine Regel des Völkerrechts gibt, die unmittelbar auf den Anspruch des Klägers dahin einwirkt, dass er ihn bis zur Beendigung des von der Beklagten erklärten Staatsnotstandes nicht bei Gericht durchsetzen kann (vgl. Senat NJW 2003, 2688, 2689).

Die Kläger beantragen, die Aussetzung aufzuheben, weil ihrer Auffassung nach der Staatsnotstand mittlerweile beendet ist.

Die Beklagte weist darauf hin, dass das ... Notstandsgesetz erneut, diesmal bis zum 31.12.2006, verlängert worden ist. Die finanzielle Lage der Beklagten sei im Wesentlichen unverändert und erlaube es ihr nicht, die hier streitgegenständlichen Staatsanleihen zurückzuzahlen.

II.

Der Aussetzungsbeschluss war aufzuheben, weil das Normenverifikationsverfahren für den vorliegenden Rechtsstreit nicht mehr vorgreiflich ist (§§ 150, 148 ZPO).

1. Der Senat hielt sich seinerzeit für verpflichtet, die Verfahren 8 U 52/03, 8 U 59/03 und 8 U 60/03 dem Bundesverfassungsgericht zur Normenverifikation über den von der Beklagten eingewandten Staatsnotstand vorzulegen (Art. 100 Abs. 2 GG). Der Senat ist davon ausgegangen, dass sich die Beklagte damals in einem Staatsnotstand befand. Die Normenverifikation beruhte auf der Überlegung, dass der Verfassungsgesetzgeber die Entscheidung über die Geltung allgemeiner Regeln des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG allein dem Bundesverfassungsgericht übertragen hat.

Das hiesige Verfahren ist mit den vorgelegten Verfahren gleich gelagert, weil sich die Beklagte auch hier auf den Staatsnotstand als Rechtfertigungsgrund für ihre Zahlungsverweigerung beruft. Unter diesen Umständen durfte der Senat damals auch den vorliegenden Rechtsstreit in analoger Anwendung von § 148 ZPO nach pflichtgemäßem Ermessen aussetzen, ohne ihn ebenfalls dem Bundesverfassungsgericht zur Beantwortung der vorgenannten Frage vorlegen zu müssen (vgl. BVerfG NJW 2004, 501).

Die Aussetzung muss aber aufgehoben werden, wenn die Vorlagefrage für die Entscheidung des hiesigen Rechtsstreits nicht mehr vorgreiflich ist (vgl. Thomas/Putzo-Reichhold, ZPO, 26. Aufl. Rn. 2 zu § 150; BGH NJW 1998, 1957). Dies ist mittlerweile gegeben:

2. Der Prüfungsumfang des Bundesverfassungsgerichts wird durch Art. 100 Abs. 2 GG und durch § 83 Abs. 1 BVerfGG begrenzt. Vorlagegegenstand sind Existenz, Rechtscharakter, Tragweite und Bindungskraft einer allgemeinen Regel des Völkerrechts (vgl. Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, 7. Auflage, Rn 20 zu Artikel 100 GG m. w. N.). Bei der Normenverifikation nach Art. 100 Abs. 2 GG stellt das Bundesverfassungsgericht deshalb lediglich fest, ob der Staatsnotstand als Regel des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts ist und unmittelbar Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugt.

Demgemäß kann die Frage, ob sich die Beklagte tatsächlich in einem Staatsnotstand befindet, vom Bundesverfassungsgericht gar nicht überprüft werden (vgl. dazu Maunz/ Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethke, BverfGG - Kommentar, Stand Januar 2005, Anm. 4 zu § 83 BverfGG). Diese Frage ist der Normenverifikation quasi vorgeschaltet (vgl. Jarass/Pieroth aaO., Rn 14 zu Artikel 100 GG). Liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen der Völkerrechtsregel nicht (mehr) vor, dann kann sich die Normenverifikation auf das Ausgangsverfahren nicht auswirken.

3. Das ist vorliegend der Fall. Der Senat ist zu der Überzeugung gelangt, dass sich die Beklagte nicht mehr auf den Staatsnotstand berufen kann, so dass die Vorlageverfahren für den hier zu entscheidenden Rechtsstreit nicht mehr vorgreiflich sind.

a) Der völkerrechtliche Notstand, der es einem Staat erlauben könnte, eine völkerrechtliche Pflicht nicht zu erfüllen, setzt nach Art. 25 Abs. 1 (a) des Regelungsentwurfs der International Law Commission (ILC) voraus, dass andernfalls eine schwerwiegende und nahe bevorstehende Gefahr für bedeutende Interessen des Staates gegeben ist. Dabei wird "nahe bevorstehen" restriktiv im Sinne von "unmittelbar bevorstehen" ausgelegt (vgl. LG Frankfurt am Main, JZ 2003, 1010, 1011).

Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme vom 30.12.2003 zu den o. g. Vorlageverfahren überzeugend dargelegt, dass eine Gefahr für wesentliche Staatsinteressen bestenfalls dann vorliegen kann, wenn wegen des Schuldendienstes grundlegende staatliche Funktionen (Gesundheitsversorgung, Rechtspflege, Schulbildung) nicht mehr erfüllt werden könnten. Dies lässt sich mittlerweile ausschließen, weil sämtliche "Anknüpfungspunkte", die von der Beklagten dafür angeführt wurden, nicht mehr gegeben sind.

b) Der Staatsnotstand ist von der Beklagten Ende 2001 damit begründet worden, dass sich das Land in einer schweren Wirtschaftskrise mit einer alle Wirtschaftszweige berührenden Depression befand. Daneben wurden der Staatsbankrott und die sozialen Unruhen zitiert. Als Eckdatum hat die Beklagte u. a. ihre Verschuldung genannt, die zum 30.06.2002 bei über 130 % des Bruttosozialprodukts liege. Sie arbeite gemeinsam mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) an einem wirtschaftlichen Programm, das als Basis einer Umstrukturierung dienen könne. Die Vollstreckung einzelner Privatgläubiger könne eine Sogwirkung auf den internationalen Kapitalmärkten auslösen, die einen Erfolg der Umschuldung und damit auch der wirtschaftlichen Konsolidierung gefährde.

c) Nach der Umschuldung der Beklagten im Frühjahr 2005 hat der ... Staatspräsident A vor dem Kongress die Zahlungsunfähigkeit seines Landes für überwunden erklärt (vgl. Neue Züricher Zeitung (NZZ) vom 2. 3. 2005; Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 06.03.2005). Dieser Pressebericht, wie auch die folgenden, sind von der Beklagten inhaltlich nicht in Abrede gestellt worden. Die Aussage des Staatspräsidenten A deckt sich mit den hier bekannten Fakten:

Die Beklagte hat ihren Privatgläubigern im Umschuldungsverfahren vom Frühjahr 2005 einen Verzicht auf knapp drei Viertel ihrer Gesamtforderungen abverlangt, indem Alt-Anleihen im Wert von 62,2 Milliarden US$ gegen langfristige Schuldverschreibungen umgetauscht worden sind. Etwa 76 % der Privatgläubiger haben das Angebot angenommen (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. 3. 2005). Die Staatsverschuldung ist somit auf maximal 80 % des Bruttoinlandsproduktes gesunken (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 5. 3. 2005 und Financial Times Europe vom 04.03.2005). In der Verschuldungsrelation liegt die Beklagte mittlerweile besser als manche Länder der Europäischen Union und nicht wesentlich über dem Niveau der Bundesrepublik Deutschland. In den vergangenen drei Jahren hat die Beklagte ihr Bruttosozialprodukt durchschnittlich um 6 % bis 8 % erhöht, wozu die erheblichen Exportüberschüsse beigetragen haben.

In ihrem Umtauschangebot vom 28.12.2004 hatte die Beklagte ihren Privatgläubigern mitgeteilt, dass sie den Schuldendienst auf die umtauschberechtigten Wertpapiere auf unbestimmte Zeit aussetzen werde. Anleger, die sich entschieden, ihre umtauschberechtigten Wertpapiere bei diesem Angebot nicht einzureichen, könnten nicht davon ausgehen, dass sie auf diese Papiere zu einem späteren Zeitpunkt Zahlungen erhalten würden. ... beabsichtige, diese Wertpapiere zu entwerten und gegebenenfalls die Notierung dieser Papiere auf den internationalen Finanzmärkten einzustellen, was dazu führe, dass sie auch dort nicht mehr gehandelt werden könnten. Diesen Äußerungen kann ein unbefangener Betrachter entnehmen, dass die Beklagte - unabhängig von ihrer Leistungsfähigkeit - keine Zahlungen auf die hier streitbefangenen Anleihen erbringen wird. Das hat jedoch mit einem Staatsnotstand nichts mehr zu tun.

Hinzu kommt zuletzt, dass auch die oben erwähnte Zusammenarbeit der Beklagten mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zur Umstrukturierung ihrer Finanzlage beendet ist. Der Internationale Währungsfonds hatte u. a. auf Rückzahlung der nach der Umschuldungsaktion noch offenen Privatschulden gedrungen (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.12.2005). Die Beklagte hat schon seit August 2004 auf weitere Währungshilfen des Internationalen Währungsfonds verzichtet, um die Umschuldung weitgehend ohne Einflussnahme abwickeln zu können (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. 3. 2005). Zum Jahreswechsel 2005/2006 hat die Beklagte ihre offenen Verbindlichkeiten gegenüber dem Internationalen Währungsfonds vor Ablauf der Fälligkeit mit insgesamt 9,9 Millarden US$ zurückgezahlt. Diese Zahlung war wirtschaftspolitisch motiviert. Die Beklagte beabsichtigt, sich an den internationalen Kapitalmärkten freier bewegen zu können. Sie hat dies auch durch die versuchte Ausgabe zweier neuer Dollar-Anleihen mit einem Volumen von ca. 800 Millionen US$ gezeigt (Financial Times vom 10.08.2005; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.10.2005). Die Erklärung der Beklagten, warum sie ihre Schulden an den Internationalen Währungsfonds vorzeitig zurückzahlt, kann den Senat nicht davon überzeugen, dass die übrigen Verbindlichkeiten nicht bedient werden können. Die Beklagte hat selbst eingeräumt, dass sie diese Zahlung ihrer Zentralbank durch eine gesetzliche Freigabe ihrer Devisenüberschüsse ermöglicht hat. Sie muss sich die Frage gefallen lassen, wieso es ihr trotz angeblichem Staatsnotstand möglich ist, einzelne Gläubiger mit erheblichen Zahlungen vor Ablauf der Zahlungsfrist zu befriedigen, während die Überschüsse für die Rückzahlung anderer offener Verbindlichkeiten angeblich nicht geeignet seien.

e) Es ist vor diesem Hintergrund unerheblich, dass die Beklagte ihr Notstandsgesetz um ein weiteres Jahr verlängert hat. Das Gericht muss sich aus dem gesamten Vorbringen der Parteien und den allgemein zugänglichen Informationen eine Überzeugung bilden (§ 286 ZPO). Die oben dargelegten Umstände sprechen eindeutig gegen eine Notstandslage der Beklagten.

4. Die Aussetzung war im Beschlusswege aufzuheben (§ 128 Abs. 4 ZPO). Eine mündliche Verhandlung vor der Aufhebungsentscheidung ist nicht erforderlich (vgl. Baumbach-Hartmann, ZPO, 63. Aufl. Rn. 3 zu § 150; Stein-Jonas/Roth, ZPO, 22. Aufl. Rn. 10 zu § 150 ZPO, Thomas/Putzo, ZPO, 26 Aufl. Rn. 2 zu § 150 ZPO).

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