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Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Urteil verkündet am 13.06.2006
Aktenzeichen: 8 U 251/05
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 280
BGB § 823
BGB pVV
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I.

Der Kläger nimmt den Beklagten, einen niedergelassenen Zahnarzt, auf Schadensersatz aus einer Behandlung im Jahre 1997 in Anspruch, bei der dieser ihm die Weisheitszähne rechts (oben und unten) entfernt hat.

Bereits 1992 hatte er dem Kläger die Weisheitszähne links (oben und unten) entfernt, damals noch im Rahmen einer Klinikbehandlung. Dort hatte der Beklagte den Kläger am 24.2.1992 auch über Risiken aufgeklärt. Es liegt insoweit eine schriftliche Einverständniserklärung des Kläger vom 24.2.1991 vor (Bl. 48 d.A.).

Am 27.2.1997 führte der Beklagte die Extraktionen durch. Zur Narkose durch Leitungsanästhesie setzte er nacheinander vier Injektionen, durch deren letzte, die endlich den erwünschten Betäubungseffekt erbrachte, er den Nervus mandibularis schädigte. Die anschließende Extraktion der Weisheitszähne verlief regelgerecht. Nach Abklingen der Betäubung verblieben bei dem Kläger Taubheitsgefühle im Bereich des rechten Unterkiefers, des dortigen Zahnfleischs und der Unterlippe als Folge der Nervenverletzung, die sich nicht zurückgebildet haben.

Der Kläger hat in erster Instanz einen Behandlungsfehler im Hinblick auf die Vorbereitung und Durchführung der Anästhesie sowie eine mangelhafte Risikoaufklärung im Hinblick auf die Risiken der Leitungsanästhesie behauptet.

Der Kläger hat Klage erhoben auf ein Schmerzensgeld von mindestens 12.782,30 € sowie Feststellung der Ersatzpflicht für zukünftigen materiellen und immateriellen Schaden.

Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt.

Er habe keinen Behandlungsfehler begangen. Ein Aufklärungsversäumnis liege nicht vor, weil er in seiner Praxis ausnahmslos alle Patienten über das Risiko einer Nervenverletzung sowohl durch die Anästhesie als auch durch den Eingriff selbst aufkläre. Selbst wenn aber die Aufklärung nicht ausreichend gewesen wäre, hätte der Kläger in die Anästhesie und in die Extraktion eingewilligt.

Das Landgericht hat ein schriftliches Gutachten und ein schriftliches Ergänzungsgutachten der Sachverständigen Dr. Dr. A eingeholt und diese mündlich angehört. Das Landgericht hat ferner eine Sprechstundenhilfe des Beklagten als Zeugin vernommen. Es hat schließlich den Kläger persönlich angehört.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Gestützt auf die Äußerungen der Sachverständigen hat das Landgericht die Durchführung der Leitungsanästhesie nicht als behandlungsfehlerhaft gewertet. Insbesondere habe der Kläger nicht zu beweisen vermocht, dass die Nervenverletzung auf einem unsorgfältigem Vorgehen des Beklagten beruhe. Auch bei sorgfältigem Vorgehen sei ein solcher Schaden nicht sicher zu vermeiden.

Das Landgericht hat einen Aufklärungsmangel angenommen, weil der Beklagte den Kläger nicht über das mit der Leitungsanästhesie verbunden aufklärungspflichtige Risiko einer auch dauerhaften Nervschädigung aufgeklärt habe. Die Vernehmung der Zeugin habe die entgegenstehende Behauptung des Beklagten nicht bestätigt. Der schriftlichen Einverständniserklärung des Klägers im Rahmen der Behandlung 1992 lasse sich eine Aufklärung über dieses Risiko nicht entnehmen.

Das Landgericht hat eine Haftung des Beklagten dennoch verneint. Dem Kläger sei es nicht gelungen plausibel darzulegen, dass er sich bei ordnungsgemäßer Aufklärung in einem echten Entscheidungskonflikt befunden hätte. Seine Darlegung, er hätte in Kenntnis des mit der Leitungsanästhesie verbundenen Risikos zunächst von dem Eingriff Abstand genommen, hat das Landgericht nicht überzeugt. Im Wesentlichen stützt das Landgericht diese Wertung darauf, dass der Kläger über das Risiko der Nervenschädigung durch den eigentlichen Eingriff (Extraktion) unstreitig aufgeklärt war. Das Landgericht hat nicht nachvollzogen, weswegen der Beklagte angesichts dessen in einen Entscheidungskonflikt geraten wäre, wenn er gewusst hätte, dass das gleiche Risiko auch im Hinblick auf die Leitungsanästhesie bestand. Es hat den Kläger ferner auf Grund der eingetretenen Schädigung als derart persönlich "befangen" angesehen, dass er sich nicht mehr in die damalige Situation zurückversetzen könne und deshalb zu einer "beliebigen Darstellung eines Entscheidungskonflikts bereit" sei.

Der Kläger hat Berufung eingelegt. Mit der Berufung begehrt er nurmehr ein Schmerzensgeld von 6.000 €, das Feststellungsbegehren wird nicht weiter verfolgt. Mit der Berufung nicht angegriffen wird ferner die Annahme des Landgerichts, dass ein Behandlungsfehler nicht vorliege.

Die Berufung wird nur auf den Gesichtspunkt des Aufklärungsversäumnisses gestützt. Hierzu rügt der Beklagte vor allem, dass das Landgericht die Klageabweisung auf eine hypothetische Einwilligung gestützt hat, obwohl der Beklagte eine entsprechenden Einwand in erster Instanz nicht erhoben habe. Er trägt ferner vor, in Kenntnis des zusätzlichen Risikos, das mit der Anästhesie verbunden war, hätte er in diese Behandlung nicht eingewilligt. Er hätte in voller Kenntnis der Risiken zumindest die Behandlung abgebrochen, als der Beklagte auch nach der zweiten Injektionssetzung keine befriedigende Betäubung hatte herbeiführen können.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 6.000 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte bringt vor, den Einwand der hypothetischen Einwilligung sehr wohl erhoben zu haben. Er stützt dies auf zwei Zitate aus erstinstanzlichen Schriftsätzen und auf den Umstand, dass das Landgericht ihn im Hinblick auf die damit in Verbindung stehenden Fragen persönlich angehört hat. Wegen der Einzelheiten wird auf den Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 5.5.2006 (Bl. 313 ff, 316 d.A.) Bezug genommen. Ergänzend weist die Berufung auf ein Urteil des LG Frankfurt am Main vom 27.1.2006 (Bl. 319 f d.A.) hin, in dem für den dort zu entscheidenden Fall eine Aufklärungspflicht wegen des geringen Risikos einer Leitungsanästhesie und der gebotenen Behandlung eines erkrankten Zahns verneint wurde.

Der Senat hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 23.5.2006 zur Frage eines Entscheidungskonflikts und zu den erlittenen Beeinträchtigungen angehört.

II.

Die auf Zahlung eines Schmerzensgeldes beschränkte Berufung hat zum Teil Erfolg. Im übrigen verbleibt es bei der Klageabweisung; die weitergehende Berufung unterliegt der Zurückweisung als unbegründet.

Dem Kläger steht ein Schmerzensgeld zu, allerdings nur in Höhe von 4.000 €.

Der Beklagte schuldet dem Kläger dieses Schmerzensgeld, weil der Kläger über die mit der Leitungsanästhesie einhergehenden Risiken nicht genügend aufgeklärt war, der Einwand der hypothetischen Einwilligung nicht durchgreift und sich das Risiko verwirklicht hat, über das der Kläger nicht aufgeklärt war.

Das Landgericht hat diese Aufklärungspflicht nachvollziehbar und gestützt auf sachverständige Äußerungen angenommen. Die Sachverständige hat dazu letztlich unwidersprochen ausgeführt, es handele sich um eine typische, sehr seltene Komplikation bei der mit einer Wahrscheinlichkeit zwischen 1:200.000 bis 1:400.000 ein bleibender Schaden auftrete (Bl. 108 d.A.). Eine schematische Bewertung nur im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit kommt nach neuerer Rechtsprechung insoweit nicht in Betracht (hierzu und für das Folgende Nachweise bei Greiner/Geiß S. 181 ff, Rdnr. 43 ff). Danach sind nicht aufklärungspflichtig eingriffsspezifische Risiken, die so außergewöhnlich und nicht vorhersehbar sind, dass sie für den Entschluss des Patienten, ob er einwilligt, keine Bedeutung haben. Umgekehrt kann eine ärztliche Aufklärungspflicht auch bei Risiken mit einer äußerst geringen Komplikationsdichte bestehen, wenn es sich um ein Risiko handelt, das bei seiner Verwirklichung die Lebensführung des Patienten besonders belastet (BGH, Urteil vom 30.11.2004 - VI ZR 209/04 - MedR 2005, 159). In diesem Sinne ist auch für das Risiko eines dauerhaften Nervschadens nach Leitungsanästhesie abzuschichten. Dabei ist auf die konkret in Frage stehende Behandlung abzustellen, wobei hier eine Rolle spielt, dass die Extraktion des unteren rechten Weisheitszahns (bei dessen Anästhesie der Schaden eingetreten ist) nicht dringlich war und der Kläger keine Beschwerden an diesem Zahn hatte. Der Kläger hat in erster Instanz im übrigen selbst den Standpunkt eingenommen, "selbstverständlich" sei über das Risiko der Nervenverletzung vollständig aufgeklärt worden, auch im Hinblick auf die Anästhesie. Diese Aufklärung war Gegenstand der weiteren Beweisaufnahme durch das Landgericht (Zeugenvernehmung), die den Beweis jedoch nicht erbracht hat. Mit der Berufungserwiderung wird (mit Ausnahme eines kurzen Verweises auf die Entscheidung des LG Frankfurt, der nicht näher ausgeführt wird) das Bestehen einer Aufklärungspflicht auch nicht substantiell in Abrede gestellt.

Dass der Beklagte den Kläger über das Risiko einer dauerhaften Nervenschädigung durch die Leitungsanästhesie nicht aufgeklärt hat, ist mit dem erstinstanzlichen Urteil anzunehmen, weil der Beklagte - was er auch einräumt - insofern den ihm obliegenden Beweis nicht erbracht hat. Dass die Inhalte der fünf Jahre zuvor (1992) - mit heute streitigem Inhalt - erfolgten Aufklärung nicht genügen würden, den Kläger als insofern ausreichend aufgeklärt anzusehen, steht außer Zweifel.

Der Einwand der hypothetischen Einwilligung war in erster Instanz erhoben. Das Landgericht hat die diesbezügliche Verteidigung des Beklagten im streitigen Tatbestand des angefochtenen Urteils erwähnt. Das vom Beklagten dafür herangezogene schriftsätzliche Vorbringen und der Umstand, dass das Landgericht sich durch Anhörung des Klägers mit genau dieser Frage befasst hat, belegen ferner eindeutig, dass der Beklagte sich in erster Instanz tatsächlich mit der Behauptung verteidigt hat, der Kläger hätte auch bei gehöriger Aufklärung in die Behandlungsmaßnahme und damit auch in die Leitungsanästhesie eingewilligt. Anders war die diesbezügliche Verteidigungsposition des Beklagten in erster Instanz nicht zu verstehen.

Der Einwand der hypothetischen Einwilligung (vgl. grundlegend BGH, Urteil vom 14.6.1994 - VI ZR 260/93 - VersR 1994, 1302 ff) greift allerdings nicht durch. Den Beklagten trifft die Beweislast dafür, dass sich der Kläger auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung zu dem vorgenommenen Eingriff bereit erklärt hätte.

Denn der Kläger hat zur Überzeugung des Senats plausibel gemacht, dass er bei ordnungsgemäßer Aufklärung vor einem echten Entscheidungskonflikt gestanden hätte. Er hat dargelegt, dass er der Entscheidung für die Extraktion der Weisheitszähne im Jahre 1997 zögerlich gegenüberstand, weil er auf Grund der Erfahrungen aus der Vorbehandlung von 1992 Angst vor den damit einhergehenden Schmerzen und Beeinträchtigungen hatte. Nach seinem Bekunden hat er insbesondere die Notwendigkeit einer Extraktion des rechten unteren Weisheitszahns weniger aus eigener Überzeugung, sondern vor allem auf Grund des Rates des Beklagten gesehen. Er habe nämlich keinerlei Beschwerden an und mit diesem Zahn gehabt. In Kenntnis des Umstands, dass nicht nur die Extraktion, sondern schon die Leitungsanästhesie ein - wenn auch geringes - Risiko einer dauerhaften Nervenschädigung mit sich bringen würde, hätte er sich wohl für ein Zuwarten entschieden und der Behandlung des Zahns rechts unten widersprochen, weil es sich ja um ein doppeltes Risiko gehandelt hätte. Jedenfalls hätte er sich in Kenntnis des Anästhesierisikos für einen Abbruch der Maßnahme entschieden, nachdem für ihn nach den ersten beiden erfolglosen Spritzen erkennbar wurde, dass der Beklagte Schwierigkeiten hatte, den Narkoseerfolg herbeizuführen. Diese Darlegung, gewonnen aus der persönlichen Anhörung des Klägers, hält der Senat für durchaus plausibel. Das gilt insbesondere für die Erwägung, dass es zwar um gleichgerichtete Risiken ging, der Kläger aber bei gehöriger Aufklärung über das zusätzlich bestehende Risiko der Leitungsanästhesie nachvollziehbarerweise darüber zu reflektieren hatte, ob er das gleiche Risiko zweifach eingehen wollte oder nicht. Der Senat hat im übrigen den Kläger bei seinen Darlegungen zum Entscheidungskonflikt durchaus in der Lage gesehen, seine hypothetischen Erwägungen ausreichend distanziert zum eigenen Schicksal zu entwickeln und darzulegen.

Bei dieser Sachlage hätte der Beklagte den Beweis führen müssen, dass der Kläger sich dennoch für die Durchführung oder Fortsetzung der Behandlung entschieden hätte. Diesen Beweis hat er nicht angetreten.

Das dem Kläger zukommende Schmerzensgeld ist auf 4.000 € zu bemessen. Der Senat hat den Kläger zu den verbliebenen Beeinträchtigungen gehört. Er hat ohne feststellbare Aggravationstendenzen eine dauerhaft herabgesetzten Empfindung von Sinnesreizen im Bereich der rechten Unterlippe geschildert, was dem aktenkundigen und unstreitigen Befund einer Hypästhesie entspricht. Er hat geschildert, inwieweit ihn dieser Zustand behindert ("Dreiviertelkuss"-Empfinden) und dazu führt, dass er sich mangels funktionierender Sensorik in diesem Bereich auf Lippen- oder Gaumenfleisch beißt. Diesen nicht allzu schwerwiegenden, aber doch alltäglich spürbaren und andauernden Beeinträchtigungen ist mit 4.000 € angemessen Rechnung getragen.

Der Zinsanspruch des Klägers folgt aus §§ 288, 291 BGB, die Rechthängigkeit ist mit Zustellung der Klage am 30.1.2002 eingetreten.

Die Kosten des Verfahrens sind wie aus dem Tenor ersichtlich nach dem Verhältnis des Obsiegens und Unterliegens aufzuteilen (§§ 92, 97 ZPO), wobei sich unterschiedliche Verhältnisse für die beiden Instanzen ergeben, weil der Kläger in erster Instanz wesentlich weitergehende Klageziele verfolgt hat.

Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar (§ 708 Nr. 10 ZPO). Weil die Voraussetzungen der Revisionszulassung (§ 543 ZPO) nicht gegeben sind und die Nichtzulassungsbeschwerde mangels ausreichender Beschwer nicht stattfindet (§ 26 Nr. 8 EGZPO), unterbleiben Schuldnerschutzanordnungen (§ 713 ZPO).

Der Wert des Berufungsverfahrens bemisst sich nach dem Mindestschmerzensgeldbetrag, den der Kläger in zweiter Instanz gegehrt, auf 6.000 €.

Ende der Entscheidung

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