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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Urteil verkündet am 20.05.2008
Aktenzeichen: 8 U 261/07
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 823
BGB § 847
Grober Behandlungsfehler, der darin lag, dass Orthopäde nach Kniegelenksimplantation wochenlang nicht sachgerecht auf Infektionsanzeichen reagiert hat, wodurch vermeidbar bleibende Weichteilschäden eingetreten sind, die die Klägerin trotz weiterer Operationen dauerhaft behindern werden; 20.000 € Schmerzensgeld.
Gründe:

I.

Die Klägerin war Patientin des Beklagten. Der Beklagte, Facharzt für Orthopädie, implantierte ihr im Akrankenhaus in O1 am 11.10.2001 eine Kniegelenksprothese.

Am nächsten Morgen entfernte der Beklagte beide Drainagen aus dem operierten Knie. In der Folgezeit traten Komplikationen ein (Schwellungen, Schmerzen, Schüttelfrost, Fieber, Austreten von Wundsekret). Der Beklagte behandelte die Klägerin mit Verbandwechseln, intravenös verabreichten Antibiotika und Schmerzmitteln. Er erhob CRP-Werte, die am 5.11.2001 noch bei 5,7 lagen. Eine Punktion des Knies nahm er nicht vor.

Am 27.11.2001 entließ der Beklagte die Klägerin in eine Rehabilitationsklinik. Der Sekretfluss war bis dahin zum Stillstand gekommen. Der Zustand des Kniegelenks war, was die Senatsverhandlung ergeben hat, insgesamt jedenfalls nicht entscheidend gebessert.

Einige Tage später bildete sich eine Fistel, aus der wiederum Sekret austrat. Nach ihrer Entlassung aus der Rehabilitationsbehandlung setzte sich die Klägerin noch am gleichen Tag (18.12.2001) wieder mit dem Beklagten in Verbindung.

Nachdem der Beklagte sich das Knie angeschaut hatte, gab er der Klägerin einen Termin am 8.1.2002, bei dem ebenfalls eine optische Begutachtung des Knies erfolgte. Am 18.1.2002 veranlasste der Beklagte eine Röntgenuntersuchung des Knies, bei der ein Fistelgang festgestellt wurde.

Ende Januar 2002 wurde die Klägerin in die ... Bklinik in O1 aufgenommen, wo eine schwere Infektion des Kniegelenks und eine Lockerung der Prothese festgestellt wurden.

Der Klägerin wurde zunächst operativ die Prothese entfernt, die Entzündung beseitigt und ein Platzhalter eingesetzt.

Dann wurde in einer weiteren Operation der Platzhalter durch eine Kniegelenksscharnierprothese ersetzt.

Schließlich trat im August 2003 eine erneute Instabilität auf und im Dezember 2003 verrutschte das Inlay, so dass eine erneute Operation stattfand.

Das Knie ist instabil, es bestehen Weichteilschäden (Korpel-, Bänder- und Kapselschäden). Die 1939 geborene Klägerin ist dadurch erheblich in ihrer Bewegungsfähigkeit beim Laufen und beim Treppensteigen eingeschränkt. Das Knie droht selbst im Hause wegzuknicken, weswegen die Klägerin ständig Stürze befürchten muss. Sie muss Gehstützen verwenden und ein Muskelaufbautraining absolvieren. Weitere Operationen sind nicht ausgeschlossen.

Das Landgericht hat den Beklagten zur Zahlung von Schmerzensgeld (20.000 €) und materiellem Schadensersatz (552,51 €) verurteilt sowie die Feststellung seiner Ersatzpflicht für materielle Zukunftsschäden ausgesprochen. Soweit ein Feststellungsanspruch wegen immaterieller Zukunftsschäden erhoben worden war, hat das Landgericht die Klage abgewiesen.

Das Landgericht ist, sachverständig beraten durch Frau Prof. Dr. SV1, davon ausgegangen, dass der Beklagte bei der Versorgung und der Behandlung der im Anschluss an die Operation aufgetretenen Infektion grob fehlerhaft gehandelt hat.

Bei fehlerfreiem Vorgehen wäre der Klägerin zwar eine zweite Operation nicht erspart geblieben. Es wären ihr aber Unannehmlichkeiten erspart worden und die Implantation einer wesentlich kleineren neuen Prothese hätte genügt. Zu der heutigen, nicht zufriedenstellenden Lage mit instabiler Prothese und absehbarer weiterer Operation mit dem Risiko ungewissen Ausgangs bis hin zur Knieversteifung (weil keine weitere Prothese mehr einzusetzen wäre) wäre es nicht gekommen. Letzteres sei anzunehmen auf Grund der Beweislastumkehr, die in Folge des groben Behandlungsfehlers für die Klägerin wirke.

Das gelte nicht hinsichtlich der nicht ausreichenden Infektionskontrolle "für die ersten Tage bis Wochen" nach der Operation, weil diese nicht als grob fehlerhaft zu werten sei. Der darin liegende einfache Befunderhebungsfehler hätte zwar mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem reaktionspflichtigen Befund geführt, die Nichtreaktion wäre aber nicht als grob fehlerhaft zu werten gewesen, weil der Beklagte die Infektion nämlich durchaus erkannt, aber mit der Antibiose falsch reagiert habe. "Erst das Zuwarten von über 3 Monaten und die ebenfalls später als vier Wochen nach der Operation erfolgte Fistelbildung stellen den von der Sachverständigen gesehenen groben Behandlungsfehler dar."

Mit der Berufung rügt der Beklagte, das Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers lasse sich auf die Ausführungen der Sachverständigen Prof. Dr. SV1 nicht stützen. Dabei sei auch berücksichtigen, dass entgegen der Annahme der Sachverständigen sehr wohl Blutuntersuchungen im Hinblick auf die CRP-Werte vorgenommen worden seien, die im Laufe der stationären Behandlung ständig gesunken seien.

Mangels groben Behandlungsfehlers komme es nicht zu einer Beweislastumkehr. Daher habe die Klägerin Vollbeweis dafür zu führen, dass die Komplikationen ohne Behandlungsfehler einen anderen Verlauf genommen hätten. Dies sei auch mit den Ausführungen der Sachverständigen Prof. Dr. SV1 nicht gelungen.

Das über die ursprünglichen Vorstellungen der Klägerin (15.000 €) hinaus verhängte Schmerzensgeld sei jedenfalls überhöht.

Es fehle an jeder Begründung für den zuerkannten materiellen Schadensersatz (552,51 €). Die diesbezüglichen Aufwendungen wären der Klägerin auch entstanden, wenn nur eine weitere Revisionsoperation notwendig geworden wäre.

Es sei mangels Feststellungsinteresses fehlerhaft, der Klägerin einen sog. "immateriellen Vorbehalt" zuerkannt zu haben.

Der Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage vollständig abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil und legt insbesondere ausführlich dar, warum aus den Äußerungen der Sachverständigen folge, dass es sich tatsächlich um einen groben Behandlungsfehler handele.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Anhörung der Sachverständigen Prof. Dr. SV1, die ihr schriftliches Gutachten vom 21.4.2006 (Bl. 168 ff d.A.) mündlich erläutert hat. Wegen des Ergebnisses der Anhörung wird auf die Sitzungsniederschrift vom 29.4.2008 verwiesen (Bl. 331 ff d.A.).

II.

Die Berufung des Beklagten ist unbegründet. Nach durchgeführter weiterer Beweisaufnahme steht fest, dass das Landgericht den Beklagten zu Recht verurteilt hat.

Der Beklagte schuldet der Klägerin materiellen und immateriellen Schadensersatz aus dem Gesichtspunkt der Schlechterfüllung des Behandlungsvertrags und aus unerlaubter Handlung (§§ 823, 847 BGB a.F.)

Der Beklagte hat die alsbald nach der Implantation vom 11.10.2001 aufgetretene Infektion im Knie der Klägerin vorwerfbar falsch behandelt. Es waren eindeutige Infektionszeichen aufgetreten, die nach wenigen Tagen eine Punktion des Knies bzw. eine Revisionsoperation erfordert hätten. Die Maßnahmen, die der Beklagte zur Behandlung ergriffen hat, genügten den Anforderungen an den von ihm geschuldeten fachärztlichen Standard demgegenüber nicht.

Das folgt aus den mündlichen Erläuterungen, die die Sachverständige Prof. Dr. SV1 gegenüber dem Senat abgegeben hat. Sie hat insbesondere erläutert und erklärt, dass und warum bei einer erkennbaren oder - wie hier - sogar erkannten Infektion eine unverzügliche Intervention erforderlich ist, nämlich um die Infektion sofort wirksam zu bekämpfen und die drohende infektionsbedingte Entstehung von Weichteilschäden zu verhindern. Sie hat auch erläutert, dass die erhobenen hohen CRP-Werte keinesfalls ein Zuwarten rechtfertigten und dass die vom Beklagten durchgeführte Antibiose den fachlichen Anforderungen nicht genügte.

Die sachgerechte Behandlung der Klägerin hätte dazu geführt, dass in einer weiteren Operation ein Inlay-Austausch, möglicherweise auch die Implantation einer neuen Knieprothese vorgenommen worden wäre. Bei dieser Prothese hätte es sich um ein kleineres und damit knochengewebesparendes Modell gehandelt. Die Klägerin hätte keine Weichteilschäden erlitten. Ihr wären weitere Folgeoperationen und die durch die Weichteilschäden hervorgerufene gravierende Instabilität des Knies erspart worden.

Dies folgt ebenfalls aus den mündlichen Erläuterungen des Sachverständigen Prof. Dr. SV1 in der Senatsverhandlung. Die Sachverständige hat zwar nicht darzulegen vermocht, dass diese wesentlich günstigere Entwicklung bei sachgerechter Behandlung mit Sicherheit eingetreten wäre. Für die Klägerin streitet aber insoweit eine Beweiserleichterung. Denn das Fehlverhalten des Beklagten ist rechtlich als grober Behandlungsfehler zu werten. Diese Wertung folgt zur Überzeugung des Senats aus den Darlegungen der Sachverständigen, die er zu der medizinischen Bewertung des Fehlverhaltens des Beklagten befragt hat. Die Sachverständige hat erläutert, dass es aus objektiver medizinischer Sicht völlig unverständlich war, nicht frühzeitig nach Feststellung der kritischen Befunde in der zuvor geschilderten sachgerechten Weise vorzugehen. Sie hat dargelegt, dass es zu den grundsätzlichen orthopädischen Standards zählt und zählte, bei Befundlagen der streitgegenständlichen Art frühzeitig zu punktieren und erforderlichenfalls Inlays oder die ganze Prothese auszutauschen, um Folgeschäden derjenigen Art zu vermeiden, wie sie bei der Klägerin eingetreten sind. Sie hat darauf hingewiesen, das nach Ablauf mehrerer (hier: sechs) Wochen keine praktische Chance mehr gegeben ist, die Prothese zu erhalten. Sie hat im Rahmen ihrer Anhörung mehrfach geäußert, dass sie nicht versteht, dass bzw. warum der Beklagte demgegenüber keine der tatsächlich zielführenden Maßnahmen ergriffen hat, um die Komplikation in den Griff zu bekommen. Sie hat bei dieser Wertung berücksichtigt, dass der Beklagte eine Antibiose durchgeführt hat. Medizinisch verständlicher wurde ihr das Verhalten des Beklagten dadurch nicht; im Gegenteil hat die Sachverständige daraus in erster Linie abgeleitet, dass dem Beklagten die Komplikation als solche durchaus bewusst war, was das Unterbleiben der sachgerechten Reaktionen in besonderer Weise unvertretbar erscheinen lässt.

Die bleibenden Beeinträchtigungen der Klägerin, die noch immer bestehende und möglicherweise auch zukünftig nicht zu bewältigende Instabilität des Knies, mehrere bei sachgerechter Behandlung entbehrliche und weitere Operationen, die die Klägerin möglicherweise zur Verbesserung ihres Zustands noch erdulden muss, sowie die mit alledem einhergehenden Schmerzen und Belastungen lassen die Zuerkennung eines Schmerzensgeldes von 20.000 € gerechtfertigt erscheinen.

Auch der geltend gemachte materielle Schadensersatz (552,51 €) steht der Klägerin zu. Insoweit überzeugen den Senat die Darlegungen der Klägerin (im Einzelnen wird auf ihr erstinstanzliches Vorbringen im Schriftsatz vom 22.7.2005 verwiesen, Bl. 66 ff d.A.), dass ihr bei rechtzeitiger sachgerechter Intervention die wegen der Instabilität eingetretene erhebliche Unbeweglichkeit erspart geblieben wäre, was die Aufwendungen für "Essen auf Rädern", für eine Beinlagerungsschiene und für Verbandsmaterialien und Bandagen sowie für Krankenfahrten in die ... Bklinik sowie zu nachbehandelnden Ärzten erspart hätte. Denn hätte der Beklagte die Klägerin sachgerecht behandelt, so wäre ihre Behandlung im Rahmen des ersten stationären Aufenthalts erfolgreich beendet worden.

Der Feststellungsausspruch betreffend materielle Zukunftsschäden ist zu Recht erfolgt. Die materielle Schadensentwicklung kann auf Grund der eingetretenen und bei sachgerechtem Vorgehen unterbliebenen Beeinträchtigungen nicht als abgeschlossen gelten. Das Knie der Klägerin ist instabil, sie wird möglicherweise weiterer ärztlicher Behandlung bedürfen und Aufwendungen zur Bewältigung dieser Beeinträchtigung haben.

Soweit sich die Berufung gegen die Zuerkennung eines "immateriellen Vorbehalts" wendet, dürfte dem ein bloßes Missverständnis zu Grunde liegen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, soweit sie auf die Feststellung der Ersatzpflicht für immaterielle Zukunftsschäden gerichtet war.

Der Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen, weil sein Rechtsmittel ohne Erfolg bleibt (§ 97 Abs. 1 BGB).

Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar (§ 708 Nr. 10 ZPO). Die Abwendungsbefugnis folgt aus § 713 ZPO.

Die Voraussetzungen einer Revisionszulassung (§ 543 Abs. 2 ZPO) liegen nicht vor. Die Entscheidung beruht auf dem Gesetz und der Bewertung der Umstände des Einzelfalles unter Berücksichtigung gefestigter Rechtsprechungsgrundsätze.

Ende der Entscheidung

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