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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamburg
Beschluss verkündet am 19.02.2007
Aktenzeichen: 2 Ws 31/07
Rechtsgebiete: StGB


Vorschriften:

StGB § 56 f Abs. 1 S. 2
Der Widerrufsgrund neuer Straffälligkeit in der so genannten Vorlaufzeit im Sinne des § 56 f Abs. 1 S. 2 StGB erfasst bei sowohl im erstinstanzlichen als auch im Berufungsurteil gewährter Strafaussetzung zur Bewährung nur solche Anlasstaten, die der Verurteilte nach der letzten tatrichterlichen Aussetzungsentscheidung begangen hat.
Hanseatisches Oberlandesgericht Beschluss

2 Ws 31/07

In der Strafsache

hier betreffend Widerruf der Strafaussetzung

hat der 2. Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg am 19. Februar 2007 durch

den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Harder den Richter am Oberlandesgericht Dr. Augner die Richterin am Oberlandesgericht Schlage

beschlossen:

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts Hamburg, Große Strafkammer 5, vom 19. Januar 2007 aufgehoben.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die darin erwachsenen notwendigen Auslagen des Verurteilten trägt die Staatskasse.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht Hamburg hat am 29. August 2005 gegen den Verurteilten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln, Bedrohung und Beleidigung in drei Fällen auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten erkannt und deren Vollstreckung auf die Dauer von zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt. Auf die im Übrigen verworfene Berufung des Verurteilten hat das Landgericht Hamburg mit Urteil vom 6. Juli 2006 die Gesamtfreiheitsstrafe auf sechs Monate herabgesetzt und die Strafaussetzung zur Bewährung aufrechterhalten; das Berufungsurteil ist am 14. Juli 2006 rechtskräftig geworden. Wegen zwischen dem 9. November und 31. Dezember 2005 begangener neuer Straftaten hat das Landgericht Hamburg, Strafvollstreckungskammer, mit Beschluss vom 19. Januar 2007 die Strafaussetzung widerrufen. Gegen diesen ihm frühestens am 22. Januar 2007 bekannt gemachten Beschluss hat der Verurteilte am 29. Januar 2007 sofortige Beschwerde eingelegt, auf deren Verwerfung die Generalstaatsanwaltschaft angetragen hat.

II.

Die sofortige Beschwerde des Verurteilten ist zulässig (§§ 453 Abs. 2 S. 3, 311 Abs. 2 StPO) und begründet. Es fehlt an einem gesetzlichen Grund zum Widerruf der Strafaussetzung.

1. Der Verurteilte ist nicht in rechtlich beachtlicher Zeit erneut straffällig geworden (§ 56 f Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 2 StGB).

a) Allerdings hatte er am 9. November sowie 10., 17. und 31. Dezember 2005 in einem Einkaufszentrum sowie in Zügen und auf einem Haltepunkt der U-Bahn Passanten und Reisenden Geldbörsen, Schmuck, Mobiltelefone, CD-Player und einen Zeitfahrausweis entwendet. Deshalb hat das Amtsgericht Hamburg-St.Georg mit rechtskräftigem Urteil vom 11. Juli 2006 wegen gewerbsmäßigen Diebstahls in sechs Fällen auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr drei Monaten erkannt.

Die schuldhaften Tatbegehungen stehen auf Grund des glaubhaften Geständnisses des Verurteilten zur Überzeugung auch des Senats fest.

b) Die sechs neuen Straftaten von November/Dezember 2005 fallen jedoch weder in die Bewährungszeit (§ 56 f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB), die gemäß § 56 a Abs. 2 S. 1 StGB erst mit Rechtskraft des Berufungsurteils am 14. Juli 2006 zu laufen begonnen hat, noch in die so genannte Vorlaufzeit (§ 56 f Abs. 1 S. 2 StGB), die erst an das Berufungsurteil vom 6. Juli 2006 angeschlossen hat.

§ 56 f Abs. 1 S. 2 StGB bestimmt, dass die Vorschrift über den Widerruf einer Strafaussetzung wegen in der Bewährungszeit begangener neuer Straftat (§ 56 f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB) entsprechend gilt, wenn die Tat in der Zeit zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung und deren Rechtskraft begangen worden ist. Dazu, ob damit Anlasstaten nur zwischen der die Strafaussetzung bewilligenden Berufungsentscheidung und deren Rechtskraft oder auch schon ab der die Strafaussetzung erstmals bewilligenden erstinstanzlichen Entscheidung erfasst sind, verhalten sich - soweit ersichtlich - obergerichtliche Rechtsprechung und Schrifttum bisher nicht. Die Auslegung des § 56 f Abs. 1 S. 2 StGB ergibt, dass die so genannte Vorlaufzeit erst mit der letzten tatrichterlichen Entscheidung beginnt.

aa) Wortlaut und -sinn ("zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung und deren Rechtskraft") lassen eine Anknüpfung sowohl an die - durch die Berufungsentscheidung bestätigte - erstinstanzliche als auch an die letzte tatrichterliche Aussetzungsentscheidung zu.

bb) Die Regelungszwecke des § 56 f Abs. 1 S. 2 StGB führen zu keinem einheitlichen Bild.

Zum einen knüpft die Vorschrift daran an, dass eine Gleichstellung mit der Bewährungszeit deshalb angezeigt ist, weil der Betroffene bereits mit der - später durch Rechtskrafteintritt bestätigten - Aussetzungsentscheidung sich darauf einstellen kann, sich bewähren zu müssen (vgl. Groß in MünchKommStGB, § 56 f Rdn. 19; siehe auch BVerfG in NJW 1992, 2877). Eine solche Verhaltensorientierung ermöglicht nicht erst die letzte tatrichterliche Aussetzungsbewilligung, sondern im Instanzenzug schon die erste.

Zum anderen schließt § 56 f Abs. 1 S. 2 StGB eine legalprognostische Lücke, die sich lediglich zwischen der letzten tatrichterlichen Aussetzungsentscheidung und dem Rechtskrafteintritt auftäte. Auf nach der letzten tatrichterlichen Aussetzungsentscheidung folgende neue Delinquenz könnte im Erkenntnisverfahren nicht mehr mit einer korrigierten Legalprognose reagiert werden, wohingegen eine zwischen erst- und zweitinstanzlicher tatrichterlicher Aussetzungsbewilligung verwirklichte neue Straftat bei der Anwendung des § 56 StGB in der Berufungsinstanz berücksichtigt werden könnte. Dabei bleibt ohne Bedeutung, dass im Einzelfall die zwischen den tatrichterlichen Instanzen liegende Delinquenz faktisch nicht zur Kenntnis des Berufungsgerichtes gelangen könnte. Insoweit würde die neue Delinquenz keine andere Behandlung als andere dem Berufungsgericht verborgen bleibende Strafzumessungstatsachen erfahren. Erst später bekannt werdende Straftaten begründen nicht generell eine Reaktion durch Widerruf nach § 56 f StGB (vgl. Stree in Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl., § 56 f Rdn. 3 a a.E.; Groß, a.a.O.). Deshalb ist in der erst durch die ausdrückliche gesetzliche Neuregelung gemäß Art. 22 Nr. 2 2.JustModG vom 22. Dezember 2006 (BGBl I, 3416, 3432) abgeschlossenen Diskussion, ob in Fällen einer durch Beschluss nach §§ 460, 462 StPO vorgenommenen nachträglichen Gesamtstrafenbildung Straftaten, die zwischen der Aussetzungsentscheidung in dem Urteil und dem wiederum eine Strafaussetzung bewilligenden Beschluss liegen, dem Gesichtspunkt, dass solche neuen Taten zur Zeit der Gesamtstrafenbildung dem hierüber befindenden Gericht unbekannt geblieben sein können, keine durchgreifende Bedeutung zuerkannt worden (vgl. OLG Hamm in NStZ 1987, 382; Gribbohm in Leipziger Kommentar, StGB, 11. Aufl., § 56 f Rdn. 5; Horn in SK-StGB, § 56 f Rdn. 9).

Indes bleibt die Berücksichtigungsfähigkeit einer bekannt gewordenen neuen Delinquenz in der Berufungsinstanz ohne legalprognostische Auswirkung nach § 56 StGB, wenn wegen nur vom Angeklagten eingelegter Berufung ein Wegfall der erstinstanzlich gewährten Strafaussetzung durch das Verschlechterungsverbot (§ 331 StPO) gehindert ist, wohingegen ein Widerruf der Strafaussetzung nach § 56 f StGB keiner vergleichbaren Einschränkung unterläge. Dieser teleologische Ansatz zu einer weiten Auslegung des § 56 f Abs. 1 S. 2 StGB tritt in der Abwägung mit weiteren Auslegungsmomenten zurück:

cc) Systematisch stellt sich § 56 f Abs. 1 S. 2 StGB als Ausnahmevorschrift dar und ist deshalb grundsätzlich eng auszulegen (vgl. OLG Hamm, a.a.O.; siehe allg. Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl., Einl. Rdn. 199 m.w.N.).

Für das Verständnis "der Entscheidung über die Strafaussetzung" im Sinne des § 56 f Abs. 1 S. 2 StGB ist bedeutsam, dass selbst bei Übereinstimmung der Legalprognose in erster und zweiter Tatsacheninstanz mit der Folge einer Berufungsverwerfung keine einheitliche Aussetzungsentscheidung von Amts- und Landgericht vorliegt. Nach dem systematischen Verhältnis von Ausgangs- und Berufungsinstanz ist das Berufungsgericht nicht auf eine bloße Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung beschränkt, sondern es beurteilt die Sach- und Rechtslage vollen Umfanges eigenständig (vgl. Gössel in Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., § 327 Rdn. 3, 5; Ruß in KK-StPO, 5. Aufl., § 327 Rdn. 4; Frisch in SK-StPO, § 327 Rdn. 6).

dd) § 56 f Abs. 1 S. 2 StGB in der vor dem 31. Dezember 2006 geltenden Fassung ist durch Art. 1 Nr. 7 a 23.StrÄndG vom 13. April 1986 (BGBl I, 393, 394) eingefügt worden. Nach dem aus den Gesetzesmaterialien ersichtlichen Willen des Gesetzgebers sollte die erweiterte Widerrufsmöglichkeit nur solche Taten erfassen, die nach der letzten tatrichterlichen Verhandlung begangen worden sind. Dieser Begründung des Regierungsentwurfes (BR-Drs. 370/84 und BT-Drs. 10/2720, jeweils S. 4, 11) ist der Bundesrat in seiner Stellungnahme (BT-Drs. 10/2720, S. 22) nicht entgegengetreten. Beschlussempfehlung und Bericht des Bundestags-Rechtsausschusses (BT-Drs. 10/4391, S. 5, 17) machen sich den Geltungsgrund, eine Widerrufsmöglichkeit für nach der letzten tatrichterlichen Entscheidung begangene Straftaten zu schaffen, zu Eigen.

ee) Nach allem fallen bei in beiden tatrichterlichen Instanzen bewilligter Strafaussetzung zur Bewährung nur solche Widerrufsanlasstaten in die so genannte Vorlaufzeit im Sinne des § 56 f Abs. 1 S. 2 StGB, die ein Verurteilter zwischen Berufungsurteil und Rechtskrafteintritt begangen hat.

Nicht jedwede auf Grund neu zutage getretener Tatsachen nachträglich als unrichtig erkannte günstige Legalprognose kann mit den Mitteln des Aussetzungswiderrufes rückgängig gemacht werden, auch wenn solchen Tatsachen wie weiterer Delinqunez hohes legalprognostisches Gewicht zukommt. Ein Widerrufsgrund hat die Bedeutung einer Bestrafungsvoraussetzung (vgl. BVerfG in NJW 1992, 2877; OLG Düsseldorf in MDR 1989, 281). Die Anforderungen an die Bestimmtheit einer gesetzlichen Widerrufsregelung sind deshalb nicht geringer als die an einen gesetzlichen Straftatbestand. Die materielle Rechtskraft der Aussetzungsentscheidung zieht eine Gestaltungs- und Beendigungswirkung nach sich, die die Rechtsfolgenentscheidung auf der positiven wie auf der negativen Seite grundsätzlich unabänderlich macht (vgl. allg. Meyer-Goßner, a.a.O., Einl. Rdn. 169). Diese Wirkungen zu durchbrechen ist einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung vorbehalten. Daran fehlt es für den Widerruf der Strafaussetzung bei einer, wie hier, zwischen der ersten und zweiten Tatsacheninstanz verwirklichten neuen Straftat.

2. Auf andere Gründe (§ 56 f Abs. 1 S. 1 Nrn. 2, 3 StGB) kann ein Widerruf gegenwärtig nicht gestützt werden. Verstöße gegen etwaige Weisungen oder Auflagen sind nicht ersichtlich.

Bei den dem Senat vorgelegten Akten (StVK-Heft, V-Hefte) befindet sich ein Bewährungsbeschluss nur des Amtsgerichts. Dieser ist durch das Sachurteil des Berufungsgerichts gegenstandslos geworden (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., § 268 a Rdn. 2 m.w.N.). Die Strafvollstreckungskammer wird zu prüfen haben, ob das erkennende Landgericht gemäß §§ 332, 268 a StPO die Aufrechterhaltung des erstinstanzlichen Bewährungsbeschlusses angeordnet oder einen insgesamt eigenen Bewährungsbeschluss erlassen hat (zu den strittigen Folgen des Fehlens einer solchen Entscheidung vgl. Meinungsübersicht bei Meyer-Goßner, a.a.O., § 268 a Rdn. 8).

III.

Die Kostenentscheidung entspricht § 467 Abs. 1 StPO.

Ende der Entscheidung

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