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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamburg
Beschluss verkündet am 25.01.2005
Aktenzeichen: 3 Vollz(Ws) 138/04
Rechtsgebiete: StVollzG


Vorschriften:

StVollzG § 109 Abs. 3
StVollzG § 113
1. Hat der Gefangene gegenüber der untätigen Vollstreckungsbehörde zunächst nur einen Vornahmeantrag gemäß § 113 gestellt, so kann er nach Erlass eines verspäteten, für ihn negativen Bescheids zwischen folgenden Möglichkeiten wählen:

a) Er kann das gerichtliche Verfahren für erledigt erklären.

b) Er kann das gerichtliche Verfahren aber auch mit einem Verpflichtungsantrag weiter betreiben. Gegen den verspätet erlassenen Bescheid braucht kein Widerspruch eingelegt zu werden.

2. Welche der beiden Möglichkeiten der Gefangene wählt, ist im Wege der Auslegung zu ermitteln. Im Zweifel ist von einer Fortführung des Verfahrens auszugehen.

3. Hat der Gefangene nach Erlass des negativen Bescheids zunächst einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt und erst nach Ablehnung dieses Antrags den Verpflichtungsantrag in der Hauptsache, ist von einer Fortführung des Verfahrens auszugehen. Die Verpflichtungsklage ist dann zulässig, ohne dass es eines Vorverfahrens nach § 6 Abs. 1 HbgAGVwGO bedarf.


HANSEATISCHES OBERLANDESGERICHT 3. Strafsenat Beschluss

3 Vollz (Ws) 138/04

In der Strafvollzugssache des

hat der 3. Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg am 25.01.05 durch

Richter am Oberlandesgericht Dr. Rühle Richter am Oberlandesgericht Dr. Mohr Richter am Oberlandesgericht Sakuth

beschlossen:

Tenor:

Auf die Rechtsbeschwerde des Beschwerdeführers wird der Beschluss des Landgerichts Hamburg, Große Strafkammer 9 als Strafvollstreckungskammer, vom 12.11.04 aufgehoben und die Sache an das Landgericht Hamburg zu neuer Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert wird auf 5.000,00 € festgesetzt (§§ 52 Abs.1 u. 2, 60 GKG).

Gründe:

I.

Der Beschwerdeführer, Strafgefangener in der Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel (JVA) der Beschwerdegegnerin, beantragte am 01.03.04, mit dem Nikotin-Suchtentwöh-nungsmittel "Zyban" behandelt zu werden.

Am 02.06.04 erhob er gemäß § 113 StVollzG Klage (613 Vollz 128/04) und beantragte, die JVA zu verpflichten, seinen Antrag vom 01.03.04 unverzüglich zu bescheiden. Mit ihrer Stellungnahme vom 25.06.04 zu diesem Klagantrag lehnte die JVA den Antrag vom 01.03.04 ab. Der Beschwerdeführer beantragte daraufhin mit Schreiben vom 30.06.04, der JVA die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen und stellte gleichzeitig den Antrag, die JVA im Wege der einstweiligen Anordnung bis zu einer abschließenden Entscheidung in der Hauptsache zu verpflichten, unverzüglich mit der Nikotin-Suchtentwöhnungsbehandlung zu beginnen. Mit Beschluss vom 18.08.04 legte das Landgericht "nach Erledigung des Vornahmeantrags" die Kosten des Verfahrens der JVA auf.

Den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung lehnte das Landgericht mit Beschluss vom 08.08.04 (609 Vollz 165/04) mit der Begründung ab, es handele sich nicht um eine medizinisch gebotene Heilbehandlungsmaßnahme, deren sofortige Aufnahme zwingend geboten wäre, der Antragsteller sei vielmehr auf die Durchführung des Hauptsacheverfahrens zu verweisen.

Daraufhin stellte der Beschwerdeführer am 11.08.04 in der vorliegenden Sache den Antrag, den Eilantrag vom 30.06.04 als Hauptsacheantrag anzusehen und in der Hauptsache zu entscheiden. Das Landgericht lehnte diesen Antrag mit Beschluss vom 12.11.04 als unzulässig ab, weil das in Hamburg vorgeschriebene Widerspruchsverfahren nicht durchgeführt worden war. Da der Antragsteller seinen Untätigkeitsantrag nicht mit dem Verpflichtungsantrag kombiniert habe, sei die vorherige Durchführung eines Vorverfahrens nicht entbehrlich.

Gegen den ihm am 16.11.04 zugestellten Beschluss hat der Beschwerdeführer am 08.12.04 formgerecht Rechtsbeschwerde eingelegt. Er beantragt,

den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen.

Die Beschwerdegegnerin ist der Rechtsbeschwerde nicht entgegengetreten, weil sie die Rechtsbeschwerde für zulässig und begründet hält.

II.

1. Die Rechtsbeschwerde ist form- und fristgerecht eingelegt und erfüllt auch die Zulassungsvoraussetzungen des § 116 Abs. 1 StVollzG. Die Überprüfung der landgerichtlichen Entscheidung ist zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung und zur Fortbildung des Rechts geboten, nämlich zur Klärung der Frage, unter welchen Voraussetzungen bei einer Verpflichtungsklage nach vorheriger Vornahmeklage noch ein Vorverfahren durchgeführt werden muss.

2. Die Rechtsbeschwerde hat auch einen - vorläufigen - Erfolg. Der Verpflichtungsantrag durfte nicht als unzulässig zurückgewiesen werden. Denn die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens war im vorliegenden Fall nicht mehr erforderlich.

a) Die vom Landgericht vertretene Auffassung, die vorherige Durchführung eines Vorverfahrens sei nur entbehrlich, wenn der Antragsteller seinen Vornahmeantrag mit einem Verpflichtungsantrag kombiniert, ist unzutreffend. Sie wird auch nicht, wie das Landgericht meint, von Volckart (AK-StVollzG, 4. Aufl. 2000) vertreten. Volckart behandelt an der vom Landgericht angegebenen Stelle (AK-StVollzG, Rdz. 9 zu § 113 StVollzG) den Fall, dass die Vollzugsbehörde binnen der ihr vom Gericht nach § 113 Abs. 2 StVollzG gesetzten Frist entscheidet, also gerade nicht säumig ist. Im vorliegenden Verfahren hat das Landgericht aber keine Frist nach § 113 Abs. 2 StVollzG gesetzt.

b) Grundsätzlich ist in Hamburg die Durchführung des Vorverfahrens gemäß § 109 Abs. 3 StVollzG i.V.m. § 6 Abs. 1 HmbAGVwGO Zulässigkeitsvoraussetzung für die Erhebung einer Verpflichtungsklage. Ein Vorverfahren ist nach allgemeiner Ansicht aber dann entbehrlich, wenn die Voraussetzungen einer Untätigkeitsklage nach § 113 StVollzG gegeben sind, d.h. wenn die Vollzugsbehörde den Antrag nicht in angemessener Zeit beschieden hat (Callies/Müller-Dietz, 9. Aufl. 2002, Rdz. 27 zu § 109 StVollzG; AK Volckart, Rdz 40 zu § 109 StVollzG; Arloth/Lückemann, 2004, Rz. 15 zu § 109 StVollzG; Schuler, in: Schwind/Böhm, 3. Aufl. 1999; Rdz. 36 zu § 109 StVollzG). § 113 StVollzG soll verhindern, dass die Vollzugsbehörde durch Untätigbleiben die Klagemöglichkeit des Antragstellers behindert oder unangemessen verzögert. Dies ist der Fall, wenn der Bescheid, ohne dass hierfür ein sachlicher Grund vorliegt, nicht innerhalb der Sperrfrist des § 113 Abs. 1 Satz 1 StVollzG ergangen ist. Liegen sachliche Gründe dafür vor, dass der Antrag noch nicht beschieden werden konnte, setzt das Gericht hierfür nach § 113 Abs. 2 StVollzG eine Frist; die Entscheidung der Vollzugsbehörde ist dann verspätet im Sinne von § 113 StVollzG, wenn sie nicht innerhalb dieser Frist erlassen worden ist.

Da die §§ 109 ff StVollzG dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren nachgebildet sind, können zur Auslegung dieser Vorschriften die Rechtsprechung und Literatur zu jener Prozessordnung herangezogen werden (siehe nur Callies/Müller-Dietz, Rdz. 5 zu § 109 StVollzG m.w.N.; speziell zu § 75 VwGO vgl. OLG Hamm, BlStVKunde 1993, Nr. 3, 5).

Der Antragsteller kann sein Verpflichtungsbegehren gegenüber einer untätigen Vollzugsbehörde auf verschiedenen Wegen verfolgen:

aa) Er hat die Möglichkeit, gleichzeitig mit der Vornahmeklage auch die Verpflichtungsklage zu erheben (Calliess/Müller-Dietz, Rdz. 2 zu § 113 StVollzG; AK-StVollzG-Volckart, Rdz. 4 zu § 113 StVollzG; Arloth/Lückemann, Rdz. 1 zu § 113 StVollzG; OLG Frankfurt, NStZ-RR 1998, 91). Wird der für ihn negative Bescheid verspätet erlassen, kann er diesen Bescheid nunmehr im Rahmen der Verpflichtungsklage überprüfen lassen, ohne dass es eines Vorverfahrens bedarf.

bb) Der Antragsteller kann aber auch zunächst nur den Vornahmeantrag stellen und erst nach Erlass des verspäteten, für ihn negativen Bescheids über sein weiteres Vorgehen entscheiden.

(1) Er kann das gerichtliche Verfahren für erledigt erklären, etwa weil er den Bescheid hinnehmen oder Widerspruch gegen ihn einlegen will. Auch wenn das Vorverfahren bei einem verspäteten Bescheid nicht mehr zwingend erforderlich ist, ist es doch statthaft. Der Antragsteller kann - etwa bei Ermessensentscheidungen - durchaus ein Interesse daran haben, den Bescheid durch die Aufsichtsbehörde umfassend überprüfen zulassen (vgl. dazu Kopp/Schenke, 13. Aufl. 2003, Rdz. 25 zu § 75 VwGO; Eyermann, 10. Aufl. 1998, Rdz 18 zu § 75 VwGO).

(2) Der Antragsteller kann das gerichtlichen Verfahren aber auch mit einem Verpflichtungsantrag weiter betreiben (Kopp/Schenke, Rdz. 21 zu § 75 VwGO). Es handelt sich nicht um eine neue Klage, denn der Streitgegenstand der Vornahmeklage umfasste auch den im Zeitpunkt der Klageerhebung noch nicht ergangenen Verwaltungsakt (Kopp/Schenke, a.a.O.). Gegen den verspäteten Bescheid braucht kein Widerspruch eingelegt zu werden (BVerwGE 66, 342, 344; Dolde, in: Schoch u.a., VwGO Stand: Sept. 2004, Rdz. 26 zu § 75 VwGO m.w.N.).

(3) Welche der beiden vorstehenden Möglichkeiten der Antragsteller wählt, ist im Wege der Auslegung zu ermitteln. Im Zweifel ist von einer Fortführung des Verfahrens auszugehen (Kopp/Schenke, a.a.O.)

c) Im vorliegenden Fall hat der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 02.06.04 zunächst nur den Vornahmeantrag gemäß § 113 StVollzG gestellt. Der mit der Stellungnahme vom 25.06.04 zur Vornahmeklage erlassenen Negativbescheid war verspätet. Die Vollzugsbehörde hat keinen sachliche Grund dafür dargelegt, weshalb sie den Antrag vom 01.03.04 auf Heilbehandlung erst nach über drei Monaten beschieden hat.

Die Auslegung des Schreiben des Beschwerdeführers vom 30.06.04 im Verfahren 613 Vollz 128/04 ergibt, dass er das gerichtliche Verfahren nicht für erledigt erklären, sondern fortführen wollte. Denn zugleich mit dem Antrag, der Vollzugsbehörde die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen, hat er beantragt, "bis zu einer abschließenden Entscheidung in der Hauptsache" eine einstweilige Anordnung gemäß § 114 StVollzG zu erlassen. Es bestehen daher keine Zweifel, dass er den Bescheid nicht hinnehmen oder im Rahmen eines freiwillig durchgeführten Widerspruchsverfahrens behördlich überprüfen lassen wollte, sondern nunmehr eine gerichtliche Entscheidung in der Hauptsache anstrebte. Dass er den Verpflichtungsantrag ausdrücklich erst am 11.08.04 - nach Ablehnung seines Eilantrages - gestellt hat, steht dem nicht entgegen.

Der Beschluss des Landgerichts musste daher aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen werden.

Ende der Entscheidung

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