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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamburg
Beschluss verkündet am 29.06.2006
Aktenzeichen: 3 Ws 100/06
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 112
1. Bei absehbar umfangreichen Verfahren, in denen sich der Angeklagte in Untersuchungshaft befindet, fordert das Beschleunigungsgebot in Haftsachen stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlungsplanung mit mehr als einem Verhandlungstag pro Woche (BVerfG, NStZ 2006, 295 ff; StV 2006, 318 f). Eine Terminierung von nur 26 Verhandlungstagen in einem Zeitraum von 9 1/2 Monaten, also weniger als drei Verhandlungstagen pro Monat, von denen mehrere zudem von vornherein als Kurztermine vorgesehen sind, ist mit dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht vereinbar.

2. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen kann insbesondere in Verfahren mit mehreren in Haft befindlichen Angeklagten dazu führen, dass das Recht des Angeklagten, sich von einem bestimmten Verteidiger seines Vertrauens verteidigen zu lassen, eingeschränkt wird.


HANSEATISCHES OBERLANDESGERICHT

3. Strafsenat

Beschluss

3 Ws 100/06

In der Strafsache

hier betreffend: Haftbeschwerde

hat der 3. Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg am 29.06.06 durch

den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. Rühle den Richter am Oberlandesgericht Dr. Mohr den Richter am Oberlandesgericht Sakuth

beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde des Angeklagten T. wird der Haftbefehl des Amtsgerichts Hamburg (168 Gs 340/05) vom 28.06.05 aufgehoben.

Der Angeklagte ist sofort aus der Untersuchungshaft in dieser Sache zu entlassen.

Gründe:

Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Hamburg vom 28. 06.05 ist zulässig und auch begründet.

1. Der Angeklagte ist durch die im Haftbefehl bezeichnete Tathandlung des gemeinschaftlichen Handels mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Beisichführen eines Gegenstandes, der seiner Art nach zur Verletzung von Personen geeignet und bestimmt ist, gem. §§ 30 a Abs. 2 Nr. 2 BtMG, 25 Abs. 2 StGB dringend verdächtig.

Gegen den Angeklagten wird gegenwärtig die Hauptverhandlung durchgeführt. Das Landgericht hat zuletzt mit Beschluss vom 13.06.06 den dringenden Tatverdacht angenommen. Als Tatgericht hat das Landgericht gegenüber dem Beschwerdegericht durch die Hauptverhandlung einen Erkenntnisvorsprung, so dass das Beschwerdegericht die Würdigung des Tatgerichts grundsätzlich hinzunehmen hat. Eine Bestätigung der landgerichtlichen Würdigung findet sich darin, dass sich der Angeklagte in der Hauptverhandlung vom 10.01.06 ausweislich Anlage 1 des Hauptverhandlungsprotokolls teilgeständig eingelassen hat. Aus dem Festnahmebericht vom 27.06.05 ist zudem ersichtlich, dass der Angeklagte bei seiner Festnahme 50 g Heroingemenge und ein Klappmesser bei sich führte. Weitere 231,86 g Heroingemenge konnten in der Wohnung des Angeklagten sichergestellt werden. Aus dem Gutachten des LKA vom 20.07.05 ergibt sich, dass das Heroingemenge insgesamt über einen Wirkstoffgehalt von 102 g Heroinhydrochlorid verfügte.

2. Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr. Zutreffend hat das Landgericht in seiner Entscheidung vom 13.06.06 darauf hingewiesen, dass den Angeklagten eine mehrjährige Freiheitsstrafe zu erwarten hat, die einen erheblichen Fluchtanreiz darstellt. Soziale Bindungen, die diesem Fluchtanreiz entgegenstehen könnten sind nicht ersichtlich. Der ledige Angeklagte verfügt über keinen festen Arbeitsplatz.

3. Gleichwohl kann der Haftbefehl keinen Bestand haben, weil das Verfahren nicht einer Weise gefördert worden ist, die dem aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG folgenden verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot in Haftsachen genügt.

a) Dem liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:

Der Angeklagte befindet sich seit dem 27.06.05 aufgrund des angefochtenen Haftbefehls in Polizei- und Untersuchungshaft. Die dem Haftbefehl entsprechende Anklage wurde am 15.09.05 erhoben. Sie richtet sich gegen zwei weitere ebenfalls durch beigeordnete Verteidiger verteidigte Angeklagte, denen u. a. die mittäterschaftliche Begehung zur Tat des Angeklagten vorgeworfen wird. Mit Beschluss vom 11.11.06 ließ die Große Strafkammer die Anklage unverändert zur Hauptverhandlung zu. Gleichzeitig beraumte der Vorsitzende die Hauptverhandlung auf folgende Termine an:

06.12.05 12.00 Uhr bis 12.30 Uhr

20.12.05 11.00 Uhr bis 12.00 Uhr

03.01.06 9.00 Uhr

10.01.06 9.00 Uhr

16.01.06 13.00 Uhr

24.01.06 9.00 Uhr

09.02.06 9.00 Uhr

21.02.06 9.00 Uhr bis 12.00 Uhr (dieser Termin entfiel später ersatzlos)

23.02.06 13.00 Uhr

Als Ende eines Verhandlungstages war in den nicht ausdrücklich bezeichneten Fällen jeweils 16 Uhr vorgesehen. Außerdem vermerkte der Vorsitzende, dass die Vereinbarung weiterer Hauptverhandlungstermine Ende November/Anfang Dezember 2005 stattfinden sollte.

Durch Verfügung vom 15.02.06 beraumte der Vorsitzende dann die folgenden weiteren Hautverhandlungstermine an:

06.03.06 13.00 Uhr

14.03.06 12.00 Uhr (15 Minuten)

03.04.06 13.00 Uhr bis 14.30 Uhr

20.04.06 13.00 Uhr

05.05.06 13.00 Uhr

08.05.06 ganztägig

Durch Verfügung vom 13.04.06 wurden die folgenden weiteren Termine anberaumt:

12.05.06 12.30 bis 12.45 Uhr

02.06.06 13.00 Uhr

09.06.06 10.00 Uhr

19.06.06 9.00 Uhr bis 12.00 Uhr

10.07.06 12.00 Uhr bis 12.30 Uhr

21.07.06 12.00 Uhr bis 12.30 Uhr

Schließlich erfolgte durch Verfügung vom 15.05.06 die Anberaumung folgender Termine:

09.08.06 11.00Uhr

11.08.06 11.30 Uhr bis 11.45 Uhr

04.09.06 11.30 Uhr bis 11.45 Uhr

11.09.06 9.00 Uhr

25.09.06 9.00 Uhr

27.09.06 9.00 Uhr

In ihrer Haftfortdauerentscheidung vom 13.06.06 führte die Kammer aus, dass die Vielzahl von kurzen Terminen auf die Schwierigkeit zurückzuführen sei, Termine für die Hauptverhandlung zu finden, die von den Verteidigern aller drei Angeklagter gleichermaßen wahrgenommen werden können. Auf die Anfrage des Senats ergänzte die Kammer, dass die geringe Verhandlungsdichte ihre Ursache ebenfalls in der Terminslage der Verteidiger habe. Die Kammer habe ursprünglich eine Verhandlungsdichte von zwei Hauptverhandlungstagen pro Woche in der Zeit von 9.00 bis 16.00 Uhr geplant.

b) Die Vorgehensweise der Kammer ist mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen zum Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht vereinbar.

Bei absehbar umfangreichen Verfahren, in denen sich der Angeklagte in Untersuchungshaft befindet, fordert das Beschleunigungsgebot in Haftsachen stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlungsplanung mit mehr als einem Verhandlungstag pro Woche (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des 2. Senats vom 29.12.05, NStZ 2006, 295 ff; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des 2. Senats vom 04.04.06, StV 2006, 318 f).

Vorliegend haben im Zeitraum vom 06.12.05 bis 27.09.06 lediglich 18 Hauptverhandlungstermine stattgefunden und weitere 8 sind vorsehen. Daraus ergibt sich eine Verhandlungsdichte von nicht einmal 3 Verhandlungstagen pro Monat, wobei eine erhebliche Anzahl dieser Termine von vornherein als Kurztermine mit weniger als einer Stunde Dauer geplant waren.

Es ist nicht erkennbar, dass diese Verfahrensverzögerung auch bei vorausschauender Planung unvermeidbar war. Es ist gerichtsbekannt, dass die Verteidiger dieses Verfahrens zu den Strafverteidigern gehören, die in zahlreichen Strafverfahren tätig sind, so dass kurzfristige Terminsabstimmungen stets schwierig sind. Diesem Umstand hat die Kammer nicht hinreichend Rechnung getragen. Bereits aus der Verfügung des Vorsitzenden vom 11.11.05 geht hervor, dass die Notwendigkeit der Abstimmung weiterer Hauptverhandlungstermine bestand. Statt sich umgehend die freien zeitlichen Kapazitäten der Verteidiger für den Zeitraum ab Februar 2006 zu sichern, um wenigstens ab diesem Zeitpunkt dem selbst gesteckten Ziel von zwei Sitzungstagen pro Woche nahe zu kommen, wurden die weiteren Termine ab März 2006 erst Mitte Februar 2006 anberaumt. In ähnlicher Weise wurde im April 2006 vorgegangen. Es liegt auf der Hand, dass sich die Verteidiger angesichts der wiederum jeweils kurzfristig erfolgten Terminabsprachen zwischenzeitig vielfältig anderweitig verpflichtet hatten, so dass das geplante Ziel einer straffen Verhandlungsführung wiederum nicht erreicht werden konnte.

Bei vorausschauender Terminierung bereits im November 2005 hätte sich der hier nur scheinbar unbehebbare Konflikt zwischen den verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern des Beschleunigungsgebots in Haftsachen und dem sich aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden Recht eines jeden Angeklagten, sich nach Möglichkeit vom Anwalt seines Vertrauens vertreten zu lassen, wahrscheinlich zu einem erheblichen Teil auflösen lassen.

c) Der Senat verkennt nicht, dass es Konstellationen geben kann, die auch bei vorausschauender Planung zu Konflikten zwischen diesen Verfassungsgrundsätzen führen. Das Bundesverfassungsgericht hat hinsichtlich des Rechts eines Angeklagten, sich von dem Anwalt seiner Wahl und seines Vertrauens vertreten zu lassen, stets betont, dass dieses Recht nicht uneingeschränkt gilt, sondern entsprechend den einfachgesetzlichen Vorschriften der §§ 142, 145 StPO durch wichtige Gründe begrenzt sein kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des 2. Senats vom 25.09.01, NStZ 2002, 99 f; BVerfGE 9, 36, 38; 39, 238, 243 m.w.N.). Ein solcher wichtiger Grund kann in bestimmten Konstellationen auch das Beschleunigungsgebot in Haftsachen sein (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des 2. Senats vom 02.03.06, 2 BvQ 10/06, Beck RS 2006 21822; vgl. OLG Karlsruhe, NStZ-RR 2000, 337 f). Insbesondere in Verfahren mit mehreren in Haft befindlichen Angeklagten kann das Recht eines Angeklagten, sich von einem bestimmten Verteidiger seines Vertrauens verteidigen zu lassen, keinen uneingeschränkten Vorrang vor den grundrechtlich geschützten Positionen der Mitangeklagten auf beschleunigter Durchführung der Hauptverhandlung haben. Demgemäß ist es denkbar, dass die Bestellung eines Verteidigers, der nur sehr eingeschränkt an der Hauptverhandlung teilnehmen kann oder von vornherein nicht längerfristige Terminvereinbarungen treffen kann oder will, im Hinblick auf das Beschleunigungsgebot zugunsten der Mitangeklagten abgelehnt oder widerrufen werden kann (vgl. BVerfG a. a. O.).

Wann eine derartige Vorgehensweise geboten sein kann oder auch andere Möglichkeiten zur Auflösung dieses Konflikts in Betracht kommen (vgl. HansOLG Hamburg, NStZ-RR 1997, 203), ist stets eine Frage des Einzelfalls und bleibt der Abwägung der beteiligten Interessen und ihres jeweiligen Gewichts vorbehalten. Für die Beurteilung dieser Fragen steht dem Vorsitzenden des Tatgerichts ein sich aus §§ 142 Abs. 1, 213 StPO ergebender Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum zu, der nur eingeschränkt durch das Beschwerdegericht überprüfbar ist.

Vorliegend ist diese Grenze aber durch die jeweils vermeidbar kurzfristige Anberaumung der Hauptverhandlungstermine auf der alleinigen Grundlage der sehr kleinen Schnittmenge der unterschiedlichen Terminspielräume der Verteidiger zu Lasten des Beschleunigungsgebots überschritten worden. Der Haftbefehl war daher aufzuheben.



Ende der Entscheidung

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