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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 12.02.2004
Aktenzeichen: 2 Ss 39/04
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 247
StPO § 344
Damit das Revisionsgericht auf eine entsprechende Rüge hin prüfen kann, ob das Tatgericht die Voraussetzungen für die Ausnahme von der Anwesenheitspflicht des Angeklagten im Sinne des § 247 Satz 2 StPO rechtsfehlerfrei bejaht hat, muss, wenn der Angeklagte während der Vernehmung eines Kindes aus der Hauptverhandlung entfernt wird, die Anordnung die konkreten Umstände benennen, aus denen die Besorgnis hergeleitet worden ist, das Kind werde ohne diese Maßnahme körperliche oder seelische Schäden erleiden, die über die Vernehmung hinaus noch eine gewisse Zeit andauern.
Beschluss

Strafsache

wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern.

Auf die Revision des Angeklagten vom 04. August 2003 gegen das Urteil des Landgerichts Hagen vom 28. Juli 2003 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 12. 02. 2004 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft einstimmig gem. § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:

Tenor:

Das Urteil des Landgerichts Hagen vom 18. August 2003 wird mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Hagen zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - Schwelm hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in sieben Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit sexueller Nötigung im minder schweren Fall zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil haben der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt. Das Landgericht Hagen hat diese Rechtsmittel durch das angefochtene Urteil verworfen. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen soll der Angeklagte in der Zeit vom 26. April 2001 bis zum 2. August 2001 in einem von ihm betriebenen Kiosk die damals 12 Jahre alte Annika M. und die damals 13 Jahre alte Zeugin Sabrina XX mehrfach sexuell missbraucht haben. Gegen das landgerichtliche Urteil wendet sich nun noch der Angeklagte mit der form- und fristgerecht eingelegten Revision, mit der die formelle und materielle Rüge erhoben worden ist.

Der Angeklagte hat mit seiner formellen Rüge mehrere Verstöße gegen § 247 StPO geltend gemacht. In der Hauptverhandlung beim Landgericht ist der Angeklagte u.a. während der Vernehmung der Zeugin M. gemäß § 247 Abs. 2 StPO aus der Hauptverhandlung entfernt worden. Das hat das Landgericht wie folgt begründet:

"Der Angeklagte ist während der Vernehmung der 14 Jahre alten Zeugin gemäß § 247 Satz 2 StPO von der Anwesenheit in der Hauptverhandlung auszuschließen, weil im Falle einer Vernehmung in Gegenwart des Angeklagten erhebliche Nachteil für das Wohl des Zeugin zu befürchten sind. Die Zeugin soll zu den Tatvorwürfen der Anklage vernommen werden, wonach sie Tatopfer sexueller Übergriffe des Angeklagten gewesen ist. Der Zeugin fällt es aufgrund ihres Alters, ihres Entwicklungsstandes und des Gegenstandes der Tatvorwürfe schwer, sie ist erheblich belastet und es ist ihr peinlich, über die Tatvorwürfe zu berichten und den Fragen ihr fremder erwachsener Dritter zu stellen. So hatte sie bereits in ihrem häuslichen Umfeld Schwierigkeiten, mit der Sachverständigen über die Vorfälle zu sprechen. Die Zeugin hat auch der Nebenklägervertreterin erklärt, nicht imstande zu sein, im Beisein des Angeklagten eine Aussage zu machen. Es besteht hinreichender Anlass zu der Besorgnis, dass eine Konfrontation mit dem Angeklagten während der Vernehmung für die Zeugin eine über das Unvermeidliche hinausgehende und besonders schwerwiegende psychische Belastung mit dem Risiko einer daraus folgenden eigenständigen Traumatisierung mit erheblichen seelischen Dauerbeeinträchtigungen darstellt, die ihr nicht zuzumuten und auch durch das grundsätzliche Anwesenheitsrecht des Angeklagten nicht zu rechtfertigen ist."

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben.

II.

Das Rechtsmittel ist zulässig. Es hat auch in der Sache mit der formellen Rüge - zumindest vorläufig - Erfolg. Die Generalstaatsanwaltschaft hat ihren Aufhebungsantrag wie folgt begründet:

"Die rechtzeitig eingelegte und frist- und formgerecht begründete Revision ist zulässig. Ihr ist auch in der Sache ein - zumindest vorläufiger - Erfolg nicht zu versagen.

Der Rüge der Verletzung des § 247 S. 2 StPO in Verbindung mit § 338 Nr. 5 StPO, die den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügt, greift durch.

Der Angeklagte macht mit seiner Verfahrensrüge zu Recht den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO geltend, weil zu besorgen ist, dass der Ausschluss des Angeklagten für die Dauer der Vernehmung der Zeugin Annika M. von der Hauptverhandlung gem. § 247 S. 2 StPO nicht gerechtfertigt war.

§ 247 S. 2 StPO gestattet die Entfernung des Angeklagten aus dem Sitzungszimmer, wenn bei der Vernehmung einer Person unter 16 Jahren als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten ein erheblicher Nachteil für das Wohl des Zeugen zu befürchten ist. Das Gericht entscheidet über den Ausschluss nach pflichtgemäßem Ermessen (zu vgl. BGH NStZ 1987, 84, 85). Damit jedoch das Revisionsgericht auf eine entsprechende Rüge hin prüfen kann, ob das Gericht die Voraussetzungen für die Ausnahme von der Anwesenheitspflicht des Angeklagten rechtsfehlerfrei bejaht hat, muss die Anordnung die konkreten Umstände benennen, aus denen die Besorgnis hergeleitet worden ist, das Kind werde ohne diese Maßnahme körperliche oder seelische Schäden erleiden, die über die Vernehmung hinaus noch eine gewisse Zeit andauern (zu vgl. KG Berlin, 3. Strafsenat, Beschluss vom 20.11.2000 - (3) 1 Ss 279/00 (94/00) -; Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., Rdnr. 11 zu § 247).

Diesen Anforderungen entspricht der von der Revision angegriffene Beschluss der Strafkammer nicht. Es wird zunächst ausgeführt, dass es der Zeugin aufgrund ihres Alters, ihres Entwicklungsstandes und des Gegenstands der Tatvorwürfe schwer falle, sie erheblich belastet sei und es ihr peinlich sei, über die Tatvorwürfe zu berichten und sich den Fragen ihr fremder erwachsener Dritter zu stellen. Diese Begründung trifft indes in der Regel auf kindliche Zeugen zu, die in der Hauptverhandlung über Missbrauchserfahrungen berichten müssen. Der Ausschluss des Angeklagten erfordert indes, dass gerade seine Anwesenheit eine besondere Belastung für den Zeugen darstellt. Dies geht aus der weiteren Begründung des Beschlusses mit der erforderlichen Sicherheit jedoch nicht hervor. Allein die Äußerung gegenüber der Nebenklägerin, nicht im Stande zu sein, im Beisein des Angeklagten eine Aussage zu machen, reicht nicht. Das Gericht lässt jegliche Ausführungen zu den Tatsachen, die einen Rückschluss auf diese Einschätzung zulassen, den auch das Revisionsgericht nachvollziehen kann, vermissen. Dass seine Anwesenheit während der Vernehmung - wie das Gericht in dem angefochtenen Beschluss weiter ausführt - eine besonders schwerwiegende psychische Belastung mit dem Risiko einer daraus folgenden eigenständigen Traumatisierung mit erheblichen Dauerbeeinträchtigungen darstellt, wird vom Gericht ebenfalls lediglich behauptet, ohne dass dies durch Tatsachen nachprüfbar belegt wird. Dass die sachlichen Voraussetzungen des § 247 S. 2 StPO vorgelegen haben, ergibt sich auch aus den Urteilsgründen, den Tatumständen oder dem Verhältnis der Zeugin zu dem Angeklagten nicht.

Zu einer näheren Darlegung hätte sich das Gericht auch deshalb gedrängt sehen müssen, da es sich bei der Zeugin ausweislich der Urteilsgründe um ein lebhaftes und selbstbewusst auftretendes Mädchen handelt, welches sehr unbefangen und offen ausgesagt hat (S. 30 UA).

Bleibt es zweifelhaft, ob das Gericht von zulässigen Erwägungen ausgegangen ist, so ist der zwingende Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO gegeben (zu vgl. KG Berlin a.a.O.). Auf die Frage des Beruhens kommt es bei Vorliegen des absoluten Revisionsgrundes nach § 338 Nr. 5 StPO nicht an.

Ein weiterer, formgerecht erhobener absoluter Revisionsgrund gem. §§ 338 Nr. 5, 247 StPO ergibt sich aus dem durch das Hauptverhandlungsprotokoll bewiesenen Umstand, dass der Angeklagte über die Dauer der Vernehmung hinaus von der Verhandlung bei einem Vorgang von selbständiger Bedeutung ferngehalten wurde. Ausweislich S. 11 des Hauptverhandlungsprotokolls (BI. 397 Bd. II d.A.) wurden der Zeugin M. die Lichtbilder BI. 6 und 7 d.A. sowie die Zeichnung BI. 309 d.A. "vorgehalten". Bei den Lichtbildern BI. 6 und 7 d.A. handelt es sich um Fotos von dem Inneren des Kiosk, in welchem die sexuellen Handlungen vorgenommen worden sein sollen. Auf BI. 309 d.A. befindet sich eine von der Zeugin M. selbst angefertigte Skizze von den Örtlichkeiten. Die Niederschrift über die Hauptverhandlung beweist, dass eine förmliche Beweisaufnahme (Einnahme des gerichtlichen Augenscheins) als ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung stattgefunden hat. Richterlicher Augenschein besteht darin, dass das Gericht mittels sinnlicher Wahrnehmung u.a. die Lage von Örtlichkeiten oder Gegenständen feststellt (zu vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., § 86 Rdnr. 2).

Nachdem Umstände, die die Beweiskraft des Protokolls in Zweifel ziehen können, nicht vorliegen, kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Lichtbilder und die Skizze im Rahmen der Vernehmung der Zeugin Annika M. lediglich als Vernehmungsbehelf verwendet wurden. Die Verwendung von Augenscheinsobjekten als Vernehmungsbehelfe im Verlauf einer Zeugenvernehmung bedarf nämlich nicht der Aufnahme in die Sitzungsniederschrift (zu vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., § 273 Rdnr. 8).

Der damit erwiesene Verfahrensverstoß führt zur Aufhebung des Urteils, denn bei Augenscheinseinnahmen handelt es sich um wesentliche Teile der Hauptverhandlung, von denen der Angeklagte nicht nach § 247 StPO ausgeschlossen werden darf (zu vgl. BGH StV 2000, 238 m.w.N.).

Des Weiteren rügt die Revision in formell zulässiger Weise zu Recht einen Verstoß gegen § 247 S. 4 StPO, bei dem es sich um einen relativen Revisionsgrund handelt (zu vgl. Dahs-Dahs, Die Revision im Strafprozess, 6. Aufl., Rdnr. 186). Auch hier ist durch das Hauptverhandlungsprotokoll der Revisionsvortrag bewiesen (§ 274 StPO), dass der Vorsitzende den Angeklagten über den Inhalt der bisherigen, in Abwesenheit des Angeklagten erfolgten Aussage der Zeugin Annika M. erst unterrichtet hat, nachdem die Zeugin in Anwesenheit des Angeklagten auf Anordnung des Vorsitzenden unvereidigt geblieben und entlassen worden ist. Dies ist ein Verstoß gegen § 247 S. 4 StPO. Danach muss ein Angeklagter, der während einer Zeugenvernehmung aus dem Sitzungssaal entfernt worden ist, von dem in seiner Abwesenheit Ausgesagten unterrichtet werden, sobald er wieder anwesend ist. Durch die alsbaldige Unterrichtung soll der Angeklagte in die Lage versetzt werden, den weiteren Gang der Verhandlung sofort zu beeinflussen und noch im Zusammenhang mit der von den anderen Prozessbeteiligten gehörten Zeugenaussage Stellung zu nehmen (zu vgl. BGH NStZ 1999, 522, 523).

Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass das Urteil auf diesem Fehler beruht, da es sich bei der Zeugin Annika M. um eine wichtige Tatzeugin handelt.

Die ebenfalls in formeller Weise ordnungsgemäß erhobene Rüge der Verletzung des § 247 S. 2 StPO durch den Ausschluss der Zeugin Sabrina XX begegnet demgegenüber rechtlichen Bedenken nicht. Nach den Urteilsfeststellungen (S. 39 UA) und den Gründen des angefochtenen Beschlusses leidet die Zeugin noch heute unter großen Ängsten. Ihr Verhalten hat sich seit der Tat verändert. Sie hat Angst, alleine zur Schule zu gehen und dabei dem Angeklagten zu begegnen, da ihr Schulweg an einem Kiosk vorbeiführt. Zurzeit wird sie von einer Freundin begleitet. Die Mutter hat glaubhaft bekundet, dass die Zeugin an beiden Tagen vor der Berufungshauptverhandlung erbrochen hat. Auch die Aussage selbst wurde von Weinkrämpfen begleitet und die Vernehmung musste unterbrochen werden. Dies wird auch durch die Sitzungsniederschrift bestätigt (BI. 393 Bd. II d.A.). Diese konkreten Anhaltspunkte rechtfertigen die Annahme des Gerichts, ihre Vernehmung in Anwesenheit des Angeklagten lasse erhebliche Nachteile für das Wohl der Zeugin befürchten.

Hinsichtlich des von der Revision weiter geltend gemachten Rechtsfehlers bei der Unterrichtung des Angeklagten über den wesentlichen Inhalt der Aussage der Zeugin Vlcek gem. § 247 S. 4 StPO nehme ich auf die obigen Ausführungen, die entsprechend gelten, Bezug.

Die zulässig erhobene Rüge der Verletzung des § 244 Abs. 2 S. 2 StPO durch den Beschluss des Landgerichts, mit dem es den Antrag des Angeklagten auf Durchführung eines Ortstermins abgelehnt hat, verspricht demgegenüber im Ergebnis keine Aussicht auf Erfolg. Zwar begegnet die von der Strafkammer vorgenommene Ablehnung wegen völliger Ungeeignetheit des Beweismittels gem. § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO rechtlichen Bedenken. Das Urteil beruht aber nicht hierauf, weil der Antrag auf Einnahme des Augenscheins auch nach § 244 Abs. 5 Satz 1 StPO hätte abgelehnt werden können (zu vgl. BGH NStZ 1997, 286-287 für die Vernehmung eines Zeugen).

Die Rüge des Verstoßes gegen § 244 Abs. 2 StPO schließlich entspricht nicht den Anforderungen der Vorschrift des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, weil die Revision die Begründung der ablehnenden Gerichtsbeschlüsse nicht mitgeteilt hat (zu vgl. Meyer-Goßner, a.a.0. § 244 Rdnr. 81) und ist daher unzulässig."

Diesen überzeugenden und zutreffenden Ausführungen tritt der Senat nach eigener Sachprüfung bei. Zusätzlich weist er auf seine Entscheidung vom 9. November 1999 in 2 Ss 1086/99 (StraFo 200, 57) hin. Dort hat der Senat bereits zu den Anforderungen an einen Beschluss, durch den der Angeklagte gemäß § 247 StPO aus der Hauptverhandlung entfernt wird, Stellung genommen.

Der Senat setzt sich mit der vorliegenden Entscheidung nicht in Widerspruch zu dieser Entscheidung vom 6. November 1999. Soweit der Senat dort auch (noch) geprüft hat, ob trotz des Verstoßes gegen § 247 StPO dennoch der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO nicht gegeben ist, weil mit Sicherheit festgestellt werden konnte, dass die sachlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift vorgelegen hatten und vom Tatgericht nicht verkannt worden waren, kam es vorliegend auf diese Problematik nicht an. Denn selbst wenn mit dieser Begründung der Verstoß gegen § 247 StPO hinsichtlich der nicht ausreichenden Begründung des Beschlusses für die Entfernung des Angeklagten während der Vernehmung der Zeugin Annika M. verneint werden könnte, wäre das angefochtene Urteil wegen der übrigen Verstöße gegen § 247 StPO aufzuheben gewesen.

Ende der Entscheidung

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