Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 24.10.2000
Aktenzeichen: 3 Ss OWi 968/00
Rechtsgebiete: StVO


Vorschriften:

StVO § 4 Abs. 1
Leitsatz:

Ein Abstandsmessverfahren, das gerichtlichen Schuldfeststellungen zugrunde gelegt werden kann, muss grundsätzlich nach festen Regeln oder Richtlinien durchgeführt werden. Die mit der Anwendung betrauten Personen müssen geschult und ausreichend erfahren sein.


3 Ss OWi 968/00 OLG Hamm Senat 3

Beschluss

gegen S.K.

wegen fahrlässiger Nichteinhaltung des erforderlichen Mindestabstandes.

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Gütersloh vom 21. Juni 2000 hat der 3. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Hamm am 24.10.2000 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, die Richterin am Oberlandesgericht und die Richterin am Amtsgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gemäß §§ 79 Abs. 3 OWiG, 349 Abs. 4 StPO beschlossen:

Tenor:

Das angefochtene Urteil wird mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Gütersloh zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht Gütersloh hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Nichteinhaltung des erforderlichen Mindestabstandes (weniger als 2/10 des halben Tachowertes) gemäß §§ 4 Abs. 1, 49 StVO, 24, 25 StVG, 2 Ziffer 6.1.4 BKatV zu einer Geldbuße von 200,- DM verurteilt und gegen ihn ein Fahrverbot für die Dauer eines Monats verhängt.

Nach den zugrunde liegenden Feststellungen befuhr der Betroffene am 08.11.1999 gegen 16.20 Uhr als Führer des PKW Ford mit dem amtlichen Kennzeichen S-TE 149 in Gütersloh die BAB 2 in Fahrtrichtung Hannover. Zwischen den Autobahnkilometern 339,800 und 339,000 fuhr der Betroffene auf der linken von drei Fahrspuren mit einer Fahrtgeschwindigkeit von mindestens 102 km/h mit einem Abstand von weniger als 10 Metern zu dem vorausfahrenden Polizeifahrzeug der Zeugen H. und P..

Der Betroffene hatte bestritten, mit einer Geschwindigkeit von 102 km/h und einem geringeren Abstand als 10 Metern zu den Fahrzeugen der Zeugen H. und P. gefahren zu sein.

Das Amtsgericht hat ihn aufgrund der Aussagen der Zeugen H. und P. mit u.a. folgenden Erwägungen als überführt angesehen:

"... Orientiert an einer Geschwindigkeit von mindestens 102 Stundenkilometern ergibt sich, dass der Betroffene einen Abstand zum vorausfahrenden Pkw der Zeugen von weniger als 2/10 des halben Tachowertes hatte. 2/10 des halben Tachowertes wären bei einer Geschwindigkeit von 102 Stundenkilometern 10,20 Meter. Aufgrund der übereinstimmenden Aussagen der Zeugen, dass die Nebelscheinwerfer des Betroffenen nicht mehr durch die Heckscheibe zu sehen gewesen seien, ist das Gericht davon überzeugt, dass der Betroffene sich während der Messstrecke in einer Entfernung von weniger als 10,20 m zum Fahrzeug der Zeugen befunden hat. Aufgrund eigener Sachkunde als Verkehrsteilnehmer sieht sich das Gericht dazu in der Lage zu beurteilen, dass ein Fahrzeug, dessen Nebelscheinwerfer nicht mehr durch die Heckscheibe des vorausfahrenden Fahrzeugs zu sehen sind, sich in einem Abstand von weniger als 10,20 Meter zum vorausfahrenden Fahrzeug befindet. ..."

Der Betroffene hat gegen dieses Urteil Rechtsbeschwerde eingelegt. Er rügt mit näheren Ausführungen die Verletzung formellen Rechts, nämlich die rechtsfehlerhafte Ablehnung eines in der Hauptverhandlung gestellten Beweisantrages. Ferner hat der Betroffene die allgemeine Sachrüge erhoben.

II.

Die gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 2 OWiG statthafte Rechtsbeschwerde ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie hat in der Sache einen zumindest vorläufigen Erfolg und führt auf die erhobene Verfahrensrüge zur Aufhebung des angefochtenen Urteils in vollem Umfang und zur Zurückverweisung an das Amtsgericht Gütersloh.

Mit Erfolg rügt die Revision die Ablehnung des im Hauptverhandlungstermin gestellten Beweisantrages der Verteidigung gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG. Der Antrag zum Beweis eines größeren Abstandes als 10,20 m auf Nachstellung der Verkehrssituation mit den beiden Fahrzeugen, verbunden mit einer Abstandsmessung, wenn die Nebelscheinwerfer des PKW Ford durch den Rückspiegel des Funkstreifenkraftwagens aus der Fahrerposition nicht mehr zu sehen sind, der der Sache nach einen Antrag auf Augenscheinseinnahme gemäß § 244 Abs. 5 StPO darstellt, ist durch das Amtsgericht zu Unrecht mit der Begründung abgelehnt worden, dass er zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich sei.

Die Rüge ist auch ordnungsgemäß ausgeführt worden i.S.d. § 344 Abs. 2 StPO. Für den vorliegenden Fall kann es dahingestellt bleiben, ob die Ablehnung eines Beweisantrages im Rechtsbeschwerdeverfahren praktisch nur mit der Aufklärungsrüge geltend gemacht werden kann bzw. die Verfahrensrüge der Ablehnung eines Beweisantrages inhaltlich mit der Aufklärungsrüge übereinstimmt (so Göhler, OWiG, 12. Aufl., Rdnr. 10 zu § 77; Köln VRS 78, 467, 77, 472; Bay. VRS 87, 367) oder ob die Ablehnung des Beweisantrages selbständig gerügt werden kann (so Senge in KK, OWiG, 2. Aufl., Rdnr. 52 zu § 77 m.w.N.). Die erhobene Verfahrensrüge genügt jedenfalls auch den Anforderungen, die an die Erhebung der Aufklärungsrüge zu stellen sind.

Das Amtsgericht hat seine Überzeugung von der festgestellten Ordnungswidrigkeit ausschließlich auf die von den Zeugen H. und P. praktizierte Abstandsmessmethode sowie seine eigene Sachkunde als Verkehrsteilnehmer gestützt. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Überprüfung nicht Stand. Das Amtsgericht konnte nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme und unter Zugrundelegung eigener Sachkunde als Verkehrsteilnehmer nicht ohne Rechtsfehler zu der Überzeugung gelangen, dass der Betroffene sich der Unterschreitung des erforderlichen Mindestabstandes von 10,20 m schuldig gemacht hat, denn das erzielte Beweisergebnis war zur Bildung dieser richterlichen Überzeugung nicht ausreichend. Das von dem Amtsgericht der Verurteilung zugrunde gelegte Abstandsmessverfahren ist kein geeignetes und zuverlässiges Mittel, eine Unterschreitung des erforderlichen Sicherheitsabstandes festzustellen. Ein Abstandsmessverfahren, das gerichtlichen Schuldfeststellungen zugrunde gelegt werden kann, muss grundsätzlich nach festen Regeln oder Richtlinien durchgeführt werden. Die mit der Anwendung betrauten Personen müssen geschult und ausreichend erfahren sein. Schließlich muss das Verfahren technisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechen und auch geeignet sein, den betreffenden Verkehrsteilnehmer von seiner Schuld zu überzeugen (vgl. OLG Düsseldorf VRS 68, 229; OLG Koblenz VRS 71, 66, OLG Celle NZV 93, 490). Nach den Urteilsgründen beruht die Feststellung des Abstandes nicht auf einem standardisierten Messverfahren, sondern ausdrücklich auf der Aussage der Zeugen H. und P., die ihre Beobachtungen vom Abstand jeweils durch "mehrfaches" Schauen in den Rückspiegel (Fahrer H.) und "mehrfaches" Umdrehen nach hinten (Beifahrer P.) gemacht haben. Hieraus wird bereits nicht deutlich, dass es den beiden Zeugen möglich gewesen ist, über eine längere Strecke sichere Beobachtungen über einen gleichbleibenden Abstand des Betroffenen zu machen. Dies ist jedoch erforderlich, denn lediglich die nicht nur ganz vorübergehende Unterschreitung des Sicherheitsabstandes ist nach gefestigter Rechtsprechung ordnungswidrig (vgl. Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 35. Aufl., Anm. 15 zu § 4 StVO mit zahlr. w.N.). Als Mindestvoraussetzung einer Abstandsmessung durch Vorausfahren ist deshalb eine ununterbrochene Spiegelbeobachtung (vgl. OLG Koblenz VRS 71, 66; Jagusch/Hentschel, a.a.O.) oder ständige Beobachtung durch den nach hinten gewandten Beifahrer zu fordern. Angesichts der Schwierigkeit, aus einem vorausfahrenden Fahrzeug heraus sichere Beobachtungen und zuverlässige Schätzungen im rückwärtigen Verkehrsraum zu treffen, bedürfen entsprechende Zeugenaussagen besonders kritischer Würdigung. Deshalb ist es weiter erforderlich, dass es sich um geschulte und in der Anwendung des Abstandsmessverfahrens erfahrene Personen handelt. Ob die Polizeibeamten insoweit geschult und erfahren sind, lassen die Urteilsgründe nicht erkennen, da sie sich hierüber nicht verhalten. An diesen wesentlichen Mängeln leidet die richterliche Beweiswürdigung.

Soweit die Zeugen weiter bekundet haben, dass der Betroffene so nah aufgefahren sei, dass die eingeschalteten Nebelscheinwerfer nicht mehr im Rückspiegel bzw. durch die Heckscheibe zu sehen gewesen seien, ermöglichen diese Angaben ebenfalls keinen zuverlässigen Schuldnachweis im Sinne der Verurteilung. Denn auch die eigene richterliche Sachkunde als Verkehrsteilnehmer ist ohne nähere Darlegungen in den Urteilsgründen nicht ausreichend, auf der Grundlage der Angaben der Zeugen die Unterschreitung des Sicherheitsabstandes zuverlässig festzustellen. Bei Feststellung eines Abstandes aus einem vorausfahrenden Fahrzeug sind erhebliche Fehlerquellen denkbar. Eine sichere Beurteilung erfordert entsprechend den Anforderungen, die an die Zuverlässigkeit von Zeugen zu stellen sind, neben theoretischen Kenntnissen auch ein durch praktische Anwendung und Ausbildung zu erwerbendes Wissen, das - worauf die Revision zu Recht hinweist - u.a. die tatsächliche Beschaffenheit des Hecks des messenden Fahrzeuges, die genaue höhenmäßig bestimmte Lage der beobachteten Nebelscheinwerfer des gemessenen Fahrzeuges, die exakte Sitzposition der beobachtenden Zeugen sowie deren Körperneigung, schließlich auch die Beschaffenheit der Fahrbahn berücksichtigt. Ob das Amtsgericht diese Sachkunde zu Recht für sich in Anspruch nahm, wird aus den Urteilsgründen nicht ersichtlich. Der bloße Bezug auf die Sachkunde als Verkehrsteilnehmer reicht hierzu nicht aus. Die Urteilsgründe lassen nicht erkennen, weshalb der Richter den Sachverhalt für geklärt und dem gebotenen Beweismittel jede Eignung abgesprochen hat, das Beweisergebnis zu beeinflussen. Dem Rechtsbeschwerdegericht ist es deshalb nicht möglich, die tatrichterliche Ermessensentscheidung bei Ablehnung des gestellten Beweisantrages rechtlich zu überprüfen.

Dass das Urteil auf diesem Verfahrensmangel beruht, kann der Senat nicht ausschließen.

Das Urteil war deshalb aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Gütersloh zurückzuverweisen.

Ende der Entscheidung

Zurück