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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 24.07.2008
Aktenzeichen: 3 Ws 262/08
Rechtsgebiete: StPO, StGB


Vorschriften:

StPO § 454 Abs. 2 Satz 3
StGB § 57 Abs. 1 Nr. 2
Zur zwingenden Einholung eines Sachverständigengutachtens
Tenor:

Der angefochtene Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 24. Juni 2008 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens - an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bielefeld zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Landgerichts Bochum vom 13.12.2004 wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen und wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 12 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren und 10 Monaten verurteilt. Der Verurteilung lagen Taten aus den Jahren 2003 und 2004 zu Grunde. Bei dem Betäubungsmittel handelte es sich um Heroin. Der Beschwerdeführer ist Erstverbüßer und war vor der vorliegenden Verurteilung mehrfach zu Geldstrafen wegen Diebstahls verurteilt worden.

Zwei Drittel der verhängten Strafe hatte der Verurteilte am 14.06.2007 verbüßt. Das Strafende ist auf den 24.01.2009 notiert. Mit einer bedingten Entlassung zum Zweitdrittelzeitpunkt hatte sich der Verurteilte zunächst nicht einverstanden erklärt. Am 04.12.2007 hat er sodann einen Antrag auf bedingte Entlassung gestellt.

Die Strafvollstreckungskammer (StVK) hat zur Vorbereitung der Entscheidung ein Gutachten des Sachverständigen Dr. H eingeholt. Der Sachverständige kam in seinem Gutachten zu folgendem Ergebnis: "Die Wahrscheinlichkeit erneuter Delinquenz von Herrn Q nach einer Entlassung ist nach Einschätzung des Unterzeichners mittel- bis langfristig als moderat einzuschätzen. Die Bezeichnung der Rückfallwahrscheinlichkeit als moderat bedeutet dabei, dass die Wahrscheinlichkeit erneuter Delinquenz eher als unterdurchschnittlich einzuschätzen ist. Andererseits ist die Wahrscheinlichkeit erneuter Delinquenz bei Herrn Q jedoch nach den vorliegenden Informationen nicht so niedrig, als dass von einer geringen Wahrscheinlichkeit erneuter Deliquenz gesprochen werden könnte." Sollte es zu erneuter Delinquenz des Verurteilten kommen, so seien am ehesten Diebstahls- und Betäubungsmitteldelikte in dem Umfang der früheren Taten zu erwarten.

Nach mündlicher Anhörung des Verurteilten hat die StVK mit dem angefochtenen Beschluss die bedingte Entlassung des Verurteilten angeordnet. Die Anfrage der StVK, ob auf eine mündliche Anhörung des Sachverständigen verzichtet wird, hat die Staatsanwaltschaft ausdrücklich verneint. Der Verurteilte hat hierzu - soweit ersichtlich - keine Erklärung abgegeben.

Gegen den Beschluss wendet sich die Staatsanwaltschaft Bochum mit der sofortigen Beschwerde, der die Generalstaatsanwaltschaft beigetreten ist. Das Rechtsmittel wird damit begründet, dass es an der Voraussetzung einer günstigen Prognose fehlt.

II.

Die gem. § 454 Abs. 3 StPO statthafte und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde hat Erfolg.

Die StVK hat es entgegen § 454 Abs. 2 S. 3 StPO unterlassen, den Sachverständigen anzuhören, obgleich sie das schriftliche Gutachten bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt hat.

Gemäß § 454 Abs. 2 S. 3 StPO ist der Sachverständige zwingend mündlich zu hören, wobei der Staatsanwaltschaft, dem Verurteilten, einem etwa vorhandenen Verteidiger und der Vollzugsanstalt Gelegenheit zur Mitwirkung zu geben ist. Auf diese Weise soll den Verfahrenbeteiligten die Möglichkeit gegeben werden, das Gutachten eingehend zu diskutieren und das Votum des Sachverständigen zu hinterfragen (OLG Hamm NStZ 2005, 55, 56; OLG Jena NStZ 2007, 421, 422). Ferner kann der Sachverständige, wenn - wie hier - der Verurteilte ebenfalls im gleichen Termin angehört wird, zu dessen Angaben noch ergänzend Stellung nehmen.

Von der mündlichen Anhörung des Sachverständigen kann nur abgesehen werden, wenn der Verurteilte, (ggf.) sein Verteidiger und die Staatsanwaltschaft darauf verzichten. Hier fehlt es jedenfalls an dem Verzicht der Staatsanwaltschaft, so dass die Frage, ob in der "rügelosen" Einlassung des Verurteilten während seiner Anhörung vor der StVK eventuell ein konkludenter Verzicht zu erblicken ist, dahinstehen kann.

Die Beschlussfassung des Landgerichts ohne vorherige mündliche Anhörung des Sachverständigen stellt einen wesentlichen Verfahrensfehler dar. Dieser führt zur Aufhebung der Entscheidung und zur Zurückverweisung, um der Strafkammer Gelegenheit zur Nachholung dieses rechtlichen Versäumnisses zu geben und sodann erneut zu entscheiden (vgl. OLG Hamm a.a.O.; OLG Jena a.a.O.). Gründe, die für eine Nachholung der versäumten Verfahrenshandlung durch das Beschwerdegericht sprechen würden, insbesondere Erfordernisse der Beschleunigung (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 20.05.2008 - 3 Ws 187/08), sind hier nicht erkennbar. Es dürfte vielmehr die zügigere Verfahrensweise darstellen, wenn - zur Vermeidung etwaiger Verschubungen des Verurteilten - die ortsansässige StVK die erforderlichen Verfahrenshandlungen und die erneute Entscheidung vornimmt.

III.

Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:

§ 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB setzt voraus, dass die Strafrestaussetzung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann. Es muss eine (erhöhte) Wahrscheinlichkeit, wenn auch keine absolute Sicherheit (vgl. BVerfG NStZ 2000, 109; OLG Hamm Beschl. v. 05.11.2007 - 3 Ws 635/07; OLG Koblenz NJW 2000, 734, 735; Schönke/Schröder-Stree 27. Aufl. § 57 Rdn. 14 m.w.N.) dafür bestehen, dass der Verurteilte zukünftig nicht erneut in kriminelle Verhaltensweisen abgleiten wird. Dabei sind das Resozialisierungsinterese des Verurteilten und das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit, bei dem auch das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsgutes von Bedeutung ist, für die Bestimmung des Maßes der noch hinnehmbaren Rückfallgefahr zu berücksichtigen (OLG Hamm Beschl. v. 05.11.2007 - 3 Ws 635/07; Beschl. v. 17.03.1998 - 3 Ws 111/98). Bei einem lang andauernden Strafvollzug kommt den Umständen der Tat nur noch eingeschränkte Aussagekraft zu, während andere Erkenntnisse, z.B. über das Verhalten im Vollzug oder die Lebensverhältnisse des Verurteilten, an Bedeutung gewinnen (BVerfG NStZ 2000, 109, 110).

Unter Zugrundelegung dieser Voraussetzungen wäre besonders zu prüfen, ob die vom Sachverständigen näher begründete Einschätzung eines moderaten Rückfallrisikos vor dem Hintergrund der Suchtmittelrückfälle des Verurteilten in der Haft und angesichts des Umstandes, dass die abgeurteilten Taten nur teilweise aufgrund eigener Abhängigkeit, z. T. aber auch aus finanziellen Gründen begangen wurden, noch eine erhöhte Wahrscheinlichkeit zukünftiger Straffreiheit begründet. Hier wäre insbesondere auf die wirtschaftlichen Perspektiven des Verurteilten vor dem Hintergrund seiner ausweislich des Sachverständigengutachtens nach wie vor nicht guten Kenntnisse der deutschen Sprache näheres Augenmerk zu richten. Es wäre auch zu berücksichtigen, dass sich - nach den schriftlichen Ausführungen des Sachverständigen - ein Rückfallrisiko auch auf Verbrechen, nämlich Taten nach § 29a BtMG, bezieht.

Ende der Entscheidung

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