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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Karlsruhe
Beschluss verkündet am 16.02.2006
Aktenzeichen: 1 Ws 15/06
Rechtsgebiete: StGB, StPO


Vorschriften:

StGB § 57 Abs. 2 Nr. 1
StPO § 454 b Abs. 2 Nr. 1
Das Erstverbüßerprivileg des § 57 Abs. 2 Nr. 1 StGB gilt auch für einen Verurteilten, bei dem die Summe der in unmittelbarem Anschluss nacheinander zu vollstreckenden Freiheitsstrafen zwei Jahre übersteigt (Aufgabe der bisherigen Senatsrechtsprechung).
OBERLANDESGERICHT KARLSRUHE 1. Strafsenat

1 Ws 15/06

Strafvollstreckungsverfahren des A. aus B.

wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr

hier: Einwendungen gegen die Bestimmung des Unterbrechungszeitpunkts durch die Vollstreckungsbehörde

Beschluss vom 16. Februar 2006

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts - Strafvollstreckungskammer - X. vom 20. Dezember 2005 aufgehoben. Die Sache wird an die Strafvollstreckungsbehörde - die Staatsanwaltschaft C. - zur Abänderung des Unterbrechungszeitpunkts und zur Neuberechnung der Strafzeiten zurückgegeben. Die Kosten des Verfahrens und die dem Verurteilten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe:

I.

1.

A. wurde mit Urteil des Amtsgerichts - Schöffengericht - C. vom 10. September 2002, rechtskräftig seit 28. März 2003, wegen vorsätzlicher Körperverletzung, gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit Nötigung und wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Sachbeschädigung zu der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt. Die Vollstreckung dieser Gesamtfreiheitsstrafe wurde zunächst zur Bewährung ausgesetzt und mit Beschluss vom 25. Mai 2004 gemäß § 57 f Abs. 1 Nr. 2 StGB widerrufen.

Darüber hinaus wurde er mit Urteil des Amtsgerichts - Strafrichter - C. vom 16. Dezember 2004, rechtskräftig seit 24. Dezember 2004, wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in fünf Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt.

2.

Der Verurteilte, der sich erstmals in Strafhaft befindet, verbüßte die Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten seit 22. Juli 2004. Die Vollstreckungsbehörde ordnete mit Verfügung vom 11. Januar 2005 gemäß § 454b Abs. 2 StPO die Unterbrechung der Strafe zum Zweidrittelzeitpunkt am 20. September 2005 und die anschließende Vollstreckung der weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten an. Seit dem 21. September 2005 verbüßt der Verurteilte die Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten, Zweidrittel beider Freiheitsstrafen werden am 20. März 2006 vollstreckt sein, das Strafende insgesamt ist für den 19. Januar 2007 vorgemerkt.

3.

Mit Schreiben seiner Verteidigerin vom 30. August 2005 beantragte der Verurteilte die Unterbrechung beider Strafen jeweils zum Halbstrafenzeitpunkt; zur Begründung wies er darauf hin, dass er Erstverbüßer sei und die Strafhöhe beider Strafen unter zwei Jahren liege, so dass die Voraussetzungen des § 57 Abs. 2 Nr. 1 StGB gegeben seien.

Mit Verfügung vom 27. September 2005 lehnte die Strafvollstreckungsbehörde eine Änderung der Strafzeitberechnung unter Hinweis darauf ab, dass eine Unterbrechung zum Halbstrafenzeitpunkt nur in Fällen in Betracht komme, in denen die Summe der nacheinander zu vollstreckenden Freiheitsstrafen zwei Jahre nicht übersteige.

Mit Schreiben seiner Verteidigerin vom 19. Oktober 2005 erhob der Verurteilte Einwendungen gegen die Festsetzung des Unterbrechungszeitpunkts. Mit dem angegriffenen Beschluss wies die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts X. die Einwendungen des Verurteilten unter Berufung auf die bisherige Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Karlsruhe als unbegründet zurück.

4.

Mit seiner form - und fristgerecht erhobenen sofortigen Beschwerde begehrt der Verurteilte die Aufhebung der angegriffenen Entscheidung und die Änderung der Rechtsprechung, da sie zu einer Benachteiligung der durch sie betroffenen Strafgefangenen führe.

5.

Die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe hat beantragt, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen und an der bisherigen Rechtsprechung festzuhalten.

II.

Die gemäß § 462 Abs. 3 StPO statthafte sofortige Beschwerde ist zulässig und begründet.

1.

Nach § 454 b Abs. 2 StPO unterbricht die Vollstreckungsbehörde im Falle der Anschlussvollstreckung mehrerer Freiheitsstrafen die Vollstreckung der zunächst vollzogenen Freiheitsstrafe, wenn unter den Voraussetzungen des § 57 Abs. 2 Nr. 1 StGB die Hälfte, mindestens jedoch sechs Monate, im Übrigen zwei Drittel der Freiheitsstrafe verbüßt sind. Die Bestimmung des Unterbrechungszeitpunkts durch die Vollstreckungsbehörde soll verfahrensrechtlich die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Strafvollstreckungskammer über die materiellrechtlich in § 57 StGB geregelte Frage einer möglichen Aussetzung der Restfreiheitsstrafen zur Bewährung hinsichtlich sämtlicher Strafen gemeinsam entscheiden kann - und zwar zum gesetzlich zulässigen frühesten Zeitpunkt (vgl. BVerfG NStZ 1988, 474).

Die Unterbrechung einer Freiheitsstrafe zum Halbstrafenzeitpunkt ist daher geboten, wenn der Verurteilte erstmals eine Freiheitsstrafe verbüßt und diese zwei Jahre nicht übersteigt (vgl. § 57 Abs. 2 Nr. 1 StGB).

Nach der von der Vollstreckungsbehörde und der Strafvollstreckungskammer zugrunde gelegten bisherigen Rechtsprechung des Senats liegen diese Voraussetzungen nur vor, wenn der Verurteilte erstmals Strafhaft verbüßt und die gesetzlich festgelegte Zweijahresgrenze auch in Fällen des Anschlussvollzugs nicht überschritten wird, wenn also die Summe der zur Verbüßung anstehenden Freiheitsstrafen zwei Jahre nicht überschreitet (vgl. Beschluss vom 14.11.1986 - 1 Ws 218/86 -, Die Justiz 1987, 319).

Diese Rechtsauffassung gibt der Senat auf.

a)

Die Frage, ob sich bei mehreren, im Anschluss vollstreckten Strafen die Zweijahresgrenze nach der Höhe der einzelnen Strafe oder nach ihrer Summe bemisst, ist seit langem umstritten. Die Strafsenate des Oberlandesgerichts Karlsruhe haben früh die Auffassung vertreten, dass das Erstverbüßerprivileg im Falle der Anschlussvollstreckung nur in Betracht komme, wenn die Summe der nacheinander zu vollstreckenden Freiheitsstrafen die Zweijahresgrenze nicht übersteige (Senat, a.a.O.; siehe auch Beschluss des 2. Strafsenats vom 05.07.1988 - 2 Ws 99/88 -, Die Justiz 1988, 436; Beschluss des 2. Strafsenats vom 04.04.1989 - 2 Ws 24/89 -, NStZ 1989, 323 <324>). Zur Begründung wurde auf die kriminalpolitische Zielsetzung der durch das 23. Strafrechtsänderungsgesetz vom 13.04.1986 in das Strafgesetzbuch eingefügten Vorschrift des § 57 Abs. 2 StGB verwiesen, wonach der erste Freiheitsentzug in aller Regel am spürbarsten empfunden werde und es daher unter spezialpräventiven Gesichtspunkten oft ausreichend erscheine, nur die Hälfte der Strafe zu vollstrecken (BTDrucks 10/2720 S. 11); die ratio legis spreche für eine restriktive Anwendung der Vorschrift und verbiete die formal gesonderte Betrachtung jeder einzelnen Strafe (so auch Oberlandesgericht Nürnberg, NStE 1988 Nr. 32 zu § 57 StGB; Stree, in: Schönke/Schröder StGB 26. Aufl. § 57 Rdn. 23 a); eine isolierte Betrachtung der Freiheitsstrafen könne außerdem zu einer ungerechtfertigten Privilegierung desjenigen führen, der zu mehreren selbstständigen Freiheitsstrafen verurteilt worden sei.

b)

Diese Auslegung tritt allerdings in ein Spannungsverhältnis zu dem Grundsatz der vollstreckungsrechtlichen Selbstständigkeit mehrerer Freiheitsstrafen, der das gesamte Straf- und Strafvollstreckungsrecht beherrscht und der auch in sonstigen Verfahrenskonstellationen, etwa im Rahmen der Entscheidung über die Zurückstellung der Vollstreckung mehrerer Freiheitsstrafen nach § 35 BtMG anerkannt ist (siehe BGH NStZ 1985, 126; siehe auch BGHSt 34, 159 <161> zu § 24 GVG).

Die nunmehr herrschende Ansicht in Rechtsprechung und Literatur geht davon aus, dass es auch in Fällen der Anschlussvollstreckung allein darauf ankommt, ob die einzelne Freiheitsstrafe die Zweijahresgrenze überschreitet oder nicht (OLG Stuttgart, NStZ 2000, 593; OLG Düsseldorf, StV 1990, 271; OLG Oldenburg, NStZ 1987, 174; OLG München, MDR 1988, 601; OLG Zweibrücken, MDR 1988, 983 <984>; Beschluss des 1. Strafsenats des OLG Braunschweig vom 06.04.2005 - Ws 91-94/05 -, veröffentlicht in juris; Fischer, in: KK StPO § 454b Rdn. 11; Fischer, in: Tröndle/Fischer, StGB 53. Aufl. § 57 Rdn. 26; Gribbohm in: LK StGB § 57 Rdn. 31; Dünkel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, Nomos-Kommentar StGB 2. Aufl. § 57 Rdn. 52; Horn, in: SK StGB § 57 Rdn. 16 b; Maatz, NStZ 1988, 114 <115 f>).

c)

Der Senat schließt sich - nicht zuletzt im Interesse der Vereinheitlichung der Rechtsprechung - der herrschenden Auffassung an. Etwaige Ungerechtigkeiten (siehe dazu ausführlich OLG Stuttgart, MDR 1988, 879 <880>), die rechtstatsächlich angesichts der geringen Zahl der Anwendungsfälle der Halbstrafenaussetzung ohnehin kaum ins Gewicht fallen dürften (vgl. Fischer, in: KK StPO § 454 b StPO Rdn. 9), sind im Interesse einer einheitlichen Auslegung und Anwendung der Vorschrift durch alle Vollstreckungsbehörden im Interesse der Gleichbehandlung der Betroffenen hinzunehmen; krassen Ausnahmefällen dürfte im Übrigen auf der Rechtsfolgenseite des § 57 Abs. 2 StGB ("kann") Rechnung getragen werden können.

Der 2. und der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Karlsruhe haben auf Anfrage mitgeteilt, dass sie sich dieser Auffassung anschließen und an ihrer abweichenden früheren Rechtsprechung nicht festhalten.

3.

Danach liegen hier die Voraussetzungen für eine Unterbrechung der Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten zum Halbstrafenzeitpunkt vor. Sie wäre daher zum Halbstrafenzeitpunkt am 05.06.2005 zu unterbrechen und anschließend die Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten zu vollstrecken gewesen. Entgegen der Auffassung des Verurteilten scheidet allerdings eine Unterbrechung der zweiten Gesamtfreiheitsstrafe zum Halbstrafenzeitpunkt aus, weil die gesetzlich erforderliche Mindestverbüßungszeit nach §§ 454 b StPO, 57 Abs. 2 Nr. 1 StGB sechs Monate beträgt.

Bei dieser Sachlage war die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer aufzuheben und die Sache zur nachträglichen Abänderung des Unterbrechungszeitpunkts und zur Neuberechnung der Strafzeiten an die Vollstreckungsbehörde zurückzugeben.

III.

Die Kosten des Verfahrens und die dem Verurteilten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen fallen in entsprechender Anwendung des § 467 StPO der Staatskasse zur Last.

Ende der Entscheidung

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