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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Karlsruhe
Urteil verkündet am 07.04.2006
Aktenzeichen: 14 U 142/05
Rechtsgebiete: BGB, GSiG, bad.-württ. GSR


Vorschriften:

BGB § 839 Abs. 1
BGB § 839 Abs. 3
BGB § 843 Abs. 4
GSiG § 6 Satz 2
bad.-württ. GSR Nr. 3.20 Abs. 2 Satz 1
1. Verwaltungsrichtlinien (hier: Grundsicherungsrichtlinien des Landkreistages und des Städtetages Baden-Württemberg - GSR -) richten sich zwar unmittelbar an die Verwaltung. Bezüglich ihrer Drittbezogenheit sind sie aber wie Gesetze und Verordnungen zu behandeln.

2. Die verspätete Umsetzung der in einer Richtlinie enthaltenen Anordnung zur Berechnung des Bedarfs eines Empfängers von Leistungen nach dem GSiG stellt eine Amtspflichtverletzung dar.

3. Die Erbringung zu niedriger Leistungen nach dem GSiG führt beim Berechtigten auch dann zu einem Schaden, wenn er aufgrund des Einsatzes und der Fürsorge Dritter keine Schäden davongetragen hat.

4. Die Nichtgeltendmachung eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs durch einen aufgrund verspäteter Umsetzung von Richtlinien zum GSiG Geschädigten führt nicht zum Ausschluß der Ersatzpflicht des Schädigers gem. § 839 Abs. 3 BGB.


Oberlandesgericht Karlsruhe 14. Zivilsenat in Freiburg Im Namen des Volkes Urteil

Geschäftsnummer: 14 U 142/05

Verkündet am 07. April 2006

In dem Rechtsstreit

wegen Forderung

hat der 14. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Karlsruhe auf die mündliche Verhandlung vom 24. März 2006 unter Mitwirkung von

Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Bauer Richter am Oberlandesgericht Dr. Krauß Richterin am Oberlandesgericht Dr. Bauer

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Einzelrichters der 1. Zivilkammer des Landgerichts Offenburg vom 10.06.2005 - 1 O 13/05 - wird als unbegründet zurückgewiesen.

2. Der Beklagte trägt auch die Kosten der Berufung.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

5. Der Streitwert wird für die Berufungsinstanz auf 1.848 € festgesetzt.

Gründe:

I.

Der Kläger ist schwerbehindert und wird von seinen Eltern, die auch seine Betreuer sind, gesetzlich vertreten. Er macht gegen den beklagten Landkreis Amtshaftungsansprüche mit der Begründung geltend, dieser habe an ihn auf der Grundlage einer durch zwischenzeitlich ergangene Richtlinien überholten Bedarfsberechnung zu geringe Leistungen nach dem Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (GSiG) vom 26.06.2001, BGBl I S. 1335, erbracht. Bei der aufgrund Antrags des Klägers vom 13.01.2003 vorgenommenen Bedarfsberechnung war im Einklang mit der damaligen Verwaltungspraxis das Kindergeld von monatlich 154 € als Einkommen des Klägers mit bedarfsmindernder Wirkung angerechnet worden. Auf dieser Grundlage waren dem Kläger mit Bescheid vom 14.01.2003 Grundsicherungsleistungen in Höhe von monatlich 172,10 € mit Wirkung ab 01.01.2003 bewilligt worden; aufgrund einer Erhöhung der Regelsätze wurde der bewilligte Betrag mit Bescheid vom 18.06.2003 von Amts wegen "ab dem 01.07.2003 bis auf weiteres" auf 176,15 € erhöht. Am 10.07.2003 bzw. am 30.06.2003 ergingen die Grundsicherungsrichtlinien (GSR) des Landkreistages und des Städtetages Baden-Württemberg. Nach deren Nr. 3.20 Abs. 2 S. 1 ist Kindergeld regelmäßig Einkommen des Kindergeldberechtigten. Der Beklagte hat den Kläger hierüber nicht informiert und eine den Grundsicherungsrichtlinien entsprechende Bedarfsberechnung erst dem Bewilligungsbescheid vom 01.07.2004, mit dem Leistungen in Höhe von monatlich 330,15 € für die Zeit vom 01.07.2004 bis zum 30.06.2005 bewilligt wurden, zugrundegelegt. Daraufhin haben die Eltern des Klägers, denen die GSR zuvor nicht bekannt gewesen waren, mit Schreiben vom 06.07.2004 gegen die Bewilligungsbescheide vom 14.01. und vom 18.06.2003 Widerspruch eingelegt. Mit Schreiben vom 12.08.2004 und vom 03.09.2004 hat die Widerspruchsstelle des Beklagten den Eltern des Klägers mitgeteilt, der Widerspruch sei verspätet und daher unzulässig, weshalb ihm nicht abgeholfen werden könne. Gleichzeitig bat sie um Mitteilung, ob der Widerspruch aufrechterhalten werde. Daraufhin hat der Kläger den Widerspruchsbescheid durch seinen zwischenzeitlich beauftragten Anwalt zurückgenommen (Anwaltsschreiben vom 11.09.2004) - Der Kläger ist der Auffassung, der Beklagte sei ihm wegen Verletzung seiner ihm gegenüber bestehenden Amtspflicht zum Schadensersatz in Höhe von 1.848 € (monatlich 154 € für die Monate Juli 2003 bis Juni 2004) verpflichtet.

Wegen des vom Kläger verfolgten Anspruchs und des dem Rechtsstreit zugrunde liegenden Sachverhalts im einzelnen, wegen des Vorbringens der Parteien sowie wegen der gestellten Anträge wird auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen (§ 540 ZPO).

Mit Urteil vom 10.06.2005 hat das Landgericht den Beklagten verurteilt, dem Antrag des Klägers entsprechend an diesen 1.848 € nebst Zinsen ab Rechtshängigkeit zu bezahlen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Durch die verspätete Anpassung des Bewilligungsbescheides vom 18.06.2003 habe der Beklagte eine dem Kläger gegenüber bestehende Amtspflicht verletzt. Auch Verwaltungsvorschriften ohne unmittelbare Außenwirkung - hier: Nr. 3.20 GSR, wonach Kindergeld regelmäßig Einkommen des Kindergeldberechtigten ist - begründeten drittbezogene Amtspflichten. Die GSR seien sofort umzusetzen gewesen. Die Amtspflicht hierzu ergebe sich aus § 6 S. 2 GSiG, wonach bei Änderung der Leistung der Bewilligungszeitraum am ersten Tag des Monats beginnt, in dem die Voraussetzungen für die Änderung eingetreten und mitgeteilt worden sind. Die an die Sachbearbeiter ergangene Anweisung, Bewilligungsbescheide nicht sofort, sondern erst bei der nächsten Bearbeitung der Akte - spätestens zum 01.07.2004 - an die GSR anzupassen, sei rechtswidrig gewesen. - Ein aus der Nichtanpassung der Zahlungen resultierender Schaden der Klägerin sei nicht deshalb entfallen, weil dieser von seinen Eltern unterhalten worden sei. - Eine Haftung des Beklagten sei nicht gem. § 839 Abs. 3 BGB ausgeschlossen.

Der Beklagte hat gegen das landgerichtliche Urteil Berufung eingelegt. Er meint, eine schuldhafte Amtspflichtverletzung liege nicht vor. Er sei weder verpflichtet gewesen, den Bescheid vom 18.06.2003 nach Erlaß der Grundsicherungsrichtlinien zu ändern, noch habe er beim Neuerlaß des Bescheides vom 01.07.2004 eine rückwirkende Änderung zum 01.07.2003 vornehmen müssen. Ersteres ergebe sich aus der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Freiburg, wonach Bescheide innerhalb fester Überprüfungsfristen - nämlich jeweils zum 01.07. eines Jahres - zu kontrollieren sind, letzteres aus dem Sinn und Zweck des GSiG, eine bedarfsorientierte Grundsicherung zu gewährleisten, was eine rückwirkende Gewährung von Leistungen ausschließe. Ein Verschulden scheide aus, weil der Sachbearbeiter auf Weisung seines Vorgesetzten gehandelt habe; die Weisung sei ebenfalls nicht schuldhaft gewesen und eine andere Vorgehensweise sei wegen der großen Zahl der Bearbeitungsfälle auch nicht möglich gewesen. - Der Kläger habe keinen Schaden erlitten, weil er von seinen Eltern unterhalten und versorgt worden sei; eine nachträgliche Leistungsgewährung würde den Zweck der Grundsicherungsleistung - Sicherung des laufenden Unterhalts - unterlaufen, weil sie zur Vermögensbildung führen würde. - Eine Haftung des Beklagten sei zudem gem. § 839 Abs. 3 BGB ausgeschlossen, weil der Kläger den Rechtsweg vorwerfbar nicht ausgeschöpft habe.

Der Beklagte beantragt,

die Klage unter Abänderung des landgerichtlichen Urteils abzuweisen.

Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil und beantragt,

Zurückweisung der Berufung.

Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die in beiden Instanzen gewechselten Schriftsätze samt Anlagen Bezug genommen.

II.

Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg. Mit Recht hat das Landgericht den Beklagten wegen schuldhafter Verletzung einer dem Kläger gegenüber bestehenden Amtspflicht zu Schadensersatz in geltend gemachter Höhe verurteilt. Was die Berufung dagegen vorbringt, greift nicht durch.

1. Zutreffend hat das Landgericht ausgeführt, daß der Beklagte verpflichtet war, die den Kläger betreffende Bedarfsberechnung und dementsprechend seine Leistungen nach dem GSiG mit Wirkung ab 01.07.2003 an die in Nr. 3.20 der Grundsicherungsrichtlinien vom 10.07.2003 enthaltene Anordnung anzupassen, wonach Kindergeld regelmäßig als Einkommen des Kindergeldberechtigten anzusehen ist. Unmittelbar richtet sich die Richtlinie zwar an die Verwaltung; ihre Aufgabe ist es, den Beamten die Amtsausübung zu erleichtern und eine gleichmäßige und gerechte Behandlung der von ihnen erfassten Sachverhalte zu gewährleisten (vgl. BGH, VersR 1963, S. 845 ff., 846). Indessen führen sie zu einer Selbstbindung der Verwaltung, was ihnen in der Praxis die gleiche Wirkung wie der Erlaß eines formellen Gesetzes gibt und dazu führt, daß sie auch in der Frage der Drittbezogenheit wie Gesetze und Verordnungen zu behandeln sind (hierzu BGHZ 91, S. 243 ff., 249 f., m.w.N.; Palandt/Sprau, BGB, 65. Aufl. 2006, Rdn. 32 zu § 98; Reinert, in: Bamberger/Roth, BGB, 2003, Rdn. 33 zu § 839; die abweichende Auffassung von Papier, in: MünchKomm. BGB, 4. Aufl. 2004, Rdn. 192 zu § 839, berücksichtigt nach Auffassung des Senats nicht hinreichend die Verpflichtung der Verwaltung, gleichgelagerte Sachverhalte gleich zu behandeln). Daß die in der genannten Richtlinie genannte Anordnung, wonach Kindergeld Einkommen des Kindergeldberechtigten ist, bereits zu einer Anpassung von Bedarfsberechnungen und darauf gründenden Leistungen ab 01.07.2003 führen mußte, ergibt sich daraus, daß zum einen die Richtlinie vom 10.07.2003 mangels den Beginn ihrer Geltung regelnder Bestimmung sofort umzusetzen war, und zum anderen gem. § 6 S. 2 GSiG der Bewilligungszeitraum mit dem ersten Tag des Monats beginnt, in dem die Voraussetzungen für eine Änderung der Leistung eingetreten sind. Die auch gegen das Gleichbehandlungsgebot verstoßende Handhabung des Beklagten, die Richtlinie vom 10.07.2003 zunächst nur in Fällen, in denen dies beantragt wurde oder in denen es zu einer Bearbeitung der Sache aus anderen Gründen kam, ansonsten aber erst zum 01.07.2004 - also fast ein Jahr nach Erlaß der Richtlinie - und nicht rückwirkend umzusetzen, widerspricht der Rechtslage und stellt daher eine Amtspflichtverletzung dar.

2. Die Amtspflichtverletzung ist auch schuldhaft erfolgt. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob der Schuldvorwurf auch den einzelnen Sachbearbeiter trifft, der - unstreitig - auf entsprechende Anweisung der Amtsleitung gehandelt hat. Denn auch die Anweisung war, wie sich aus obigen Ausführungen zu 1. ergibt, rechtswidrig. Daß die Anordnung einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung darstellte, war nach Auffassung des Senats für den anweisenden Beamten auch erkennbar. Hinter der Anordnung möglicherweise stehende fiskalische Überlegungen ändern daran ebensowenig etwas, wie der Umstand, daß eine Überprüfung aller Leistungsfälle nach dem GSiG angesichts der großen Zahl mit einem erheblichen Aufwand verbunden gewesen wäre.

3. Entgegen der Auffassung der Berufung hat die schuldhafte Amtspflichtverletzung des Beklagten beim Kläger zu einem Schaden geführt. Daß der Kläger dank des Einsatzes und der Fürsorge seiner Eltern keine Schäden davongetragen hat, ändert daran nichts. Dies ergibt sich aus dem in § 843 Abs. 4 BGB zum Ausdruck gekommenen allgemeinen Rechtsgedanken, daß Unterhaltsleistungen an den Geschädigten die Ersatzpflicht des Schädigers nicht mindern (OLG Karlsruhe, FamRZ 1997, S. 544).

4. Ebenfalls richtig ist die Auffassung des Landgerichts, wonach die Ersatzpflicht des Beklagten nicht gem. § 839 Abs. 3 BGB ausgeschlossen ist. Der Kläger hat es nicht schuldhaft unterlassen, den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden: Der Kläger hatte sich mit Schreiben seiner Eltern vom 06.07.2004 gegen die Bewilligungsbescheide vom 14.01. und vom 18.06.2003 gewandt und um deren Änderung gebeten. Daß diese Widersprüche aufgrund des Schreibens der Widerspruchsstelle vom 12.08.2004 später zurückgenommen wurden, schließt eine Ersatzpflicht schon deshalb nicht nach § 839 Abs. 3 BGB aus, weil die angefochtenen Bescheide der damaligen Rechtslage entsprochen hatten, ein Widerspruchsverfahren also erfolglos gewesen wäre. - Auch der Umstand, daß sich der Kläger nicht dagegen wandte, daß der Bescheid vom 01.07. 2004 keine rückwirdende Erhöhung der Leistungen vorsah, gereicht ihm nicht zum Verschulden. Denn ein in Hinblick darauf, daß der Kläger damals nicht anwaltschaftlich vertreten war, gebotener entsprechender Hinweis des Beklagten ist nicht erfolgt. - Schließlich brauchte der Kläger sich auch nicht auf die Geltendmachung eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs (hierzu Staudinger/Wurm, BGB, 2002, Rdn. 349 zu § 839; Papier, in: Münchener Kommentar BGB, 4. Aufl. 2004, Rdn. 88 ff. zu § 839) einzulassen, weil dieser von den bisher für das Sozialhilferecht zuständigen Verwaltungsgerichten nicht anerkannt war (vgl. Seewald, in: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht [Loseblatt, Stand: 01.01.2006], Rdn. 32 vor § 1 SGB I) und eine Rechtsprechung der nunmehr zuständigen Sozialgerichte sich hierzu noch nicht gebildet hat.

III.

Nach allem war die Berufung mit der Kostenfolge aus § 97 ZPO als unbegründet zurückzuweisen. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Weder hat die vorliegende Rechtssache grundsätzliche Bedeutung, noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.

Ende der Entscheidung

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