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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Karlsruhe
Beschluss verkündet am 10.08.2007
Aktenzeichen: 2 VAs 10/07
Rechtsgebiete: StPO, VwVfG


Vorschriften:

StPO § 456 a
VwVfG § 49
Ein Bescheid der Vollstreckungsbehörde, gemäß § 456 a StPO zu einem bestimmten Zeitpunkt von der weiteren Strafvollstreckung abzusehen, kann zum Nachteil des Verurteilten nur abgeändert werden, wenn neue Tatsachen eingetreten sind, die solches Gewicht haben, dass sie der ursprünglichen Entscheidung die Grundlage entziehen.
OBERLANDESGERICHT KARLSRUHE 2. Strafsenat

2 VAs 10/07 Zs 29/07

Antrag des M.-L. S. aus N. auf gerichtliche Entscheidung gemäß §§ 23 ff. EGGVG

Beschluss vom 10. August 2007

Tenor:

Auf den Antrag des M.-L. S. auf gerichtliche Entscheidung werden die Bescheide der Staatsanwaltschaft M. vom 10. Oktober 2006 und der Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe vom 25. Januar 2007 aufgehoben.

Die Staatsanwaltschaft wird verpflichtet, den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden.

Das Verfahren ist gebührenfrei. Von den außergerichtlichen Kosten des Antragstellers trägt die Staatskasse die Hälfte.

Der Geschäftswert wird auf 3.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe:

I.

Der Antragsteller - Schweizer Staatsangehöriger - befindet sich seit dem 04.12.1991 ununterbrochen in Untersuchung- bzw. Strafhaft. Er verbüßt wegen Mordes eine lebenslange Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Mannheim vom 10. August 1992 ((1) 8 Ks 1/92). Der damals 56 Jahre alte Antragsteller war mit einem als Rauschgiftinteressent auftretenden verdeckten Ermittler des Landeskriminalamts Baden-Württemberg in Kontakt getreten und hatte die Bereitschaft vorgetäuscht, große Mengen Heroin zu liefern. Tatsächlich hatte er beabsichtigt, seinen Geschäftspartner zu betäuben und ihm die Kaufsumme von 6 Mio. DM abzunehmen. Sollte dies misslingen, wollte er den Kontaktmann, den er nicht als Kriminalbeamten erkannt hatte, erschießen, um das Geld an sich zu bringen. Da es ihm bei dem verabredeten Treffen in einem M. Hotel nicht gelungen war, dem verdeckten Ermittler ein Kurzzeitnarkotikum beizubringen, gab er aus seiner mitgeführten Pistole in unmittelbarer Folge sieben Schüsse auf ihn ab. Der Beamte verstarb infolge der Schussverletzungen auf der Stelle. Das Landgericht M. bejahte die besondere Schwere der Schuld im Sinne des § 57 a Abs. 1 Nr. 2 StGB.

Am 17. Januar 2000 erließ die Stadt B. gegen den Antragsteller eine - inzwischen bestandskräftige - Ausweisungsverfügung mit Abschiebungsandrohung.

Mit Verfügung vom 08.03.2004 sah die Staatsanwaltschaft M. gemäß § 456a StPO von der Vollstreckung des Restes der lebenslangen Freiheitsstrafe ab dem 02.12.2006, frühestens jedoch vom Tag der Abschiebung oder Auslieferung an ab. Zu diesem Zeitpunkt wären fünfzehn Jahre der lebenslangen Freiheitsstrafe verbüßt gewesen. Nachdem das Landeskriminalamt Baden-Württemberg mit einem Schreiben vom 04.08.2006 um eine Überprüfung der Entscheidung vom 08.03.2004 nachgesucht hatte, hat die Staatsanwaltschaft M. mit Verfügung vom 10.10.2006 ihre Verfügung vom 08.03.2004 aufgehoben und es im Hinblick auf die im Urteil festgestellte Schwere der Schuld und die noch ausstehende Entscheidung der Strafvollstreckungskammer über die Feststellung der Mindestverbüßungsdauer abgelehnt, einen neuen Zeitpunkt für das Absehen von der weiteren Vollstreckung gemäß § 456a StPO zu bestimmen. Die dagegen eingelegte Beschwerde des Antragstellers wies die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe mit Bescheid vom 25.01.2007 als unbegründet zurück.

Der Antragsteller beantragte unter dem 27.02.2007, den Bescheid der Staatsanwaltschaft M. vom 1010.2006 in Gestalt des Beschwerdebescheids der Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe vom 25.01.2007 aufzuheben und die Staatsanwaltschaft zu verpflichten, gemäß der Verfügung vom 8. März 2004 zu verfahren.

Inzwischen wurde mit rechtskräftigem Beschluss des Landgerichts K. - Strafvollstreckungskammer - vom 07.03.2007 die Mindestverbüßungszeit im Hinblick auf die besondere Schwere der Schuld auf siebzehn Jahre festgesetzt.

II.

Der zulässige Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 23 EGGVG ist begründet. Die Bescheide der Staatsanwaltschaft M. vom 10.10.2006 und der Generalstaatsanwaltschaft vom 27.01.2007 waren aufzuheben, weil sie auf einer Verkennung der rechtlichen Voraussetzungen beruhen, unter denen ein vorangegangener, denselben Sachverhalt betreffender Bescheid abgeändert werden kann.

1.

Entscheidungen der Staatsanwaltschaft über ein Absehen von der Strafvollstreckung gemäß § 456a StPO sind Justizverwaltungsakte, deren Anfechtung sich nach den §§ 23ff. EGGVG richtet (Meyer-Goßner StPO, 50. Auflage, § 456a Rdnr. 9, § 23 EGGVG Rdnr. 16; KK-Schoreit, StPO 5. Auflage, § 23 EGGVG Rdnr. 93 mwN). Unter welchen Voraussetzungen Justizverwaltungsakte zurückgenommen werden können, ist gesetzlich nicht geregelt, doch ist wegen der Sachnähe anerkannt, dass - da das Verwaltungsverfahrensgesetz auf Justizverwaltungsakte keine direkte Anwendung findet - die §§ 48f. VwVfG (= §§ 48 f. LVwVfG) für Justizverwaltungsakte entsprechend heranzuziehen sind (Senat B. v. 21.05.2001, 2 VAs 6/01; OLG Celle NStZ-RR 1998, 92f.; OLG Frankfurt, Beschluss vom 12. August 2002 - 3 VAs 11/02, zitiert nach juris Rdnr. 20). Die §§ 48f. VwVfG stellen hinsichtlich der Rücknehmbarkeit eines Verwaltungsakts darauf ab, ob es sich um einen rechtswidrigen (§48 VwVfG) oder rechtmäßigen (§ 49 VwVfG) Verwaltungsakt handelt, sowie darauf, ob er den Betroffenen begünstigt oder belastet. Diese Differenzierung erscheint auch für die Rücknehmbarkeit von Maßnahmen gemäß § 456a StPO sachgerecht.

Für die aufgehobene Entscheidung der Staatsanwaltschaft M. vom 08.03.2004 ist danach zunächst festzustellen, dass es sich um einen begünstigenden Justizverwaltungsakt handelte. Da sie dem Verurteilten, für den eine Strafaussetzung zur Bewährung nach fünfzehn Jahren wegen der besonderen Schuldschwere nicht in Betracht kam, die Perspektive eröffnete, nach der Verbüßung von fünfzehn Jahren Freiheitsentzug entlassen und in seine Heimat abgeschoben zu werden, bedarf dies keiner näheren Begründung.

Die Entscheidung war auch rechtmäßig. Die gesetzlichen Voraussetzungen für ihren Erlass waren gegeben. Zwar enthält sie keine Gründe, doch berührt dies ihre Rechtmäßigkeit nicht. Es entspricht stetiger Übung, dass Entscheidungen, durch die gemäß § 465a StPO von der Vollstreckung abgesehen wird, nicht näher begründet werden. Da die Absehensentscheidung für den Betroffenen nicht anfechtbar ist (OLG Frankfurt NStZ-RR 1999, 126, 127) ist sie nicht begründungsbedürftig (vergl. § 34 StPO; SK StPO-Paeffgen § 456a Rdnr. 6). Nichts spricht indessen dafür, dass es die Staatsanwaltschaft bei ihrer Entscheidung gerade im vorliegenden Fall, der erhebliches öffentliches Aufsehen erregt hatte, unterlassen hätte, ihrer Ermessensentscheidung alle aus den Akten, namentlich aus dem Urteil ersichtlichen für die Entscheidung relevanten Umstände, vor allem die Tat- und die besondere Schuldschwere, den Umfang der bereits verbüßten Strafe, das Maß des öffentlichen Vollstreckungsinteresses, generalpräventive Gesichtspunkte wie die Wirkung der Anordnung auf andere Gefangene und auf die Öffentlichkeit sowie auch die persönliche Lage des Verurteilten zugrunde zu legen.

Der Rechtmäßigkeit der Entscheidung steht auch nicht entgegen, dass im Urteil des Landgerichts M. vom 10. August 1992 die besondere Schwere der Schuld festgestellt war und eine Entscheidung der zuständigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts K. über die Mindestverbüßungsdauer noch ausstand. Der Ausspruch über die besondere Schuldschwere bewirkt keine Bindung der Strafvollstreckungsbehörde in dem Sinne, dass erst nach Ablauf einer bereits festgesetzten oder zu erwartenden Mindestverbüßungsdauer ein Absehen von der Vollstreckung zulässig wäre (OLG Frankfurt NStE Nr. 2 zu § 456a StPO). Das Vorliegen besonderer Schuldschwere ist vielmehr einer von vielen Abwägungsgesichtspunkten im Rahmen des § 456a StPO. Im Unterschied zu § 57a StGB bedeutet im Rahmen des § 456a StPO ein "Mehr an Schuld" keine automatische Verlängerung der Mindestdauer der zulässigen Vollstreckung (OLG Frankfurt aaO).

Dass die Staatsanwaltschaft M. mit dem Bescheid vom 08.03.2004 in Kenntnis der Tatsache, dass die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer über die Mindestverbüßungsdauer noch nicht getroffen war und dass diese Mindestverbüßungsdauer deutlich über fünfzehn Jahren liegen musste, von der Strafvollstreckung unmittelbar nach Verbüßung des gesetzlichen Mindestmaßes gemäß § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB abgesehen hat, lag im Rahmen des ihr obliegenden Ermessens und entsprach der Allgemeinverfügung des Justizministeriums Baden-Württemberg vom 17. Oktober 1996 (Die Justiz 1996, 500; 2003, 627). Diese sieht in Nr. III 1. d) vor, dass bei lebenslanger Freiheitsstrafe ein Absehen von der weiteren Vollstreckung in der Regel nicht vor Verbüßung von 15 Jahren in Betracht kommt; lediglich in Ausnahmefällen kann schon zu einem früheren Zeitpunkt gemäß § 456a StPO verfahren werden.

2.

Mit der nach alledem rechtmäßigen begünstigenden Entscheidung der Strafvollstreckungsbehörde vom 08.03.2004, gemäß § 456a StPO nach der Verbüßung von fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe von der weiteren Vollstreckung abzusehen, hatte der Antragsteller eine Rechtsposition erlangt, die derjenigen gleicht, die ein begünstigender Verwaltungsakt erzeugt (Senat aaO). Sein Vertrauen in den Fortbestand dieser Rechtsposition verbot es, ihn, wie vorliegend geschehen, in einer erneuten Entscheidung so zu behandeln, als würde über die Frage des Absehens der weiteren Vollstreckung erstmals befunden (vgl. für den Widerruf von Vollzugsvergünstigungen gemäß der an § 49 VwVfG angelehnten Vorschrift des § 14 StVollzG: KG StV 2007, 310, 311 und 313, 314). Die begünstigende Entscheidung nach § 456a StPO, von der Vollstreckung ab einem bestimmten Zeitpunkt abzusehen, kann vielmehr entsprechend § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG zum Nachteil des Verurteilten nur widerrufen werden, wenn neue Tatsachen eingetreten sind, die eine andere Beurteilung rechtfertigen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 10. September 1986 - 1 VAs 65/86; Senat aaO). Dabei müssen die nachträglich eingetretenen Umstände so schwer wiegen, dass sie der ursprünglichen, dem Verurteilten günstigen Entscheidung die Grundlage entziehen (vgl. KG aaO S. 314; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 9. Aufl., § 49 Rdnr. 47). Diesen Maßstab hat die Strafvollstreckungsbehörde in ihrem Bescheid vom 10.10.2006 verkannt, indem sie diesen auf die erneute Wertung von Tatsachen gestützt hat, die größtenteils Urteilsinhalt und in der Entscheidung vom 08.03.2004 bereits zugrunde gelegt und berücksichtigt worden waren, und indem sie die Entscheidung vom 08.03.2004 als eine keine Bindungswirkung entfaltende, vorläufige Maßnahme qualifiziert hatte, die jederzeit bis zum Zeitpunkt der Ausweisung aufgehoben werden kann. Die von der Generalstaatsanwaltschaft gezogene Parallele zu den Vorschriften, die das Legalitätsprinzip im Rahmen der Strafverfolgung begrenzen (z.B. §§ 153, 154 StPO), trägt nicht. Diese Regelungen sind auf die besonderen Bedürfnisse des Ermittlungsverfahrens zugeschnitten; außerdem handelt es sich bei Einstellungsentscheidungen - anders als bei Bescheiden gemäß § 456 a StPO - nicht um Justizverwaltungsakte.

3.

Deshalb war der Bescheid der Staatsanwaltschaft M. vom 10. Oktober 2006 in Gestalt des Bescheids der Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe vom 25. Januar 2007 aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats an die Strafvollstreckungsbehörde zurückzuverweisen. Diese wird danach bei der erneuten Entscheidung zu prüfen haben, ob nach der Entscheidung vom 08.03.2004 neue Tatsachen bekannt geworden sind, denen derartiges Gewicht zukommt, dass sie ihr die Grundlage entziehen, weil sie, wären sie bekannt gewesen, zu einer anderen Entscheidung geführt hätten. III.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 30 Abs. 2 EGGVG, 130 KostO, die Festsetzung des Geschäftswerts auf §§ 30 Abs. 3 EGGVG, 30 KostO.

Ende der Entscheidung

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