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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Karlsruhe
Urteil verkündet am 24.06.2004
Aktenzeichen: 3 Ss 187/03
Rechtsgebiete: StGB, BtMG


Vorschriften:

StGB § 34
BtMG § 29 Abs. 1 Nr. 3
BtMG § 29 a Abs. 1 Nr. 2
1. Zur Rechtfertigung durch Notstand beim Umgang mit Cannabisprodukten zum Zwecke der Linderung schwerer Gesundheitsbeeinträchtigungen

2. Für das Erfordernis der Geeignetheit der Notstandshandlung reicht es aus, dass die erfolgreiche Abwendung des drohenden Schadens nicht ganz unwahrscheinlich ist. Die Frage, wie hoch die Erfolgswahrscheinlichkeit sein muss, um die Beeinträchtigung des Eingriffsguts zu rechtfertigen, ist im Rahmen der Interessenabwägung zu beantworten.


OBERLANDESGERICHT KARLSRUHE 3. Strafsenat Im Namen des Volkes Urteil

3 Ss 187/03

Strafsache

wegen Vorwurfs des Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge u.a.

Das Oberlandesgericht Karlsruhe - 3. Strafsenat - hat in der Sitzung vom 24. Juni 2004, an der teilgenommen haben:

Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht als Vorsitzender

Direktorin des Amtsgerichts Richter am Oberlandesgericht als beisitzende Richter

Staatsanwältin als Vertreterin der Generalstaatsanwaltschaft

Rechtsanwalt als Verteidiger

Justizobersekretär als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Amtsgerichts M. vom 15. Mai 2003 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schöffengerichtsabteilung des Amtsgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Dem Angeklagten liegt nach dem Strafbefehl des Amtsgerichts M. vom 21.01.2000 und der Anklage der Staatsanwaltschaft M. vom 10.07.2002 zur Last, jeweils ohne die erforderliche Erlaubnis am 28.06.1999 128,65 Gramm Marihuana, 73,60 Gramm Haschisch und 23 Joints sowie am 17.02.2002 elf Joints mit Tabak/Marihuana-Gemisch, 14 jeweils 1,5 m hohe Hanfstauden und 59,7 Gramm Marihuana in zwei Tütchen und einer Schüssel (insgesamt 381,99 Gramm Marihuana und Marihuanagemisch mit einer Wirkstoffmenge von 12,76 Gramm Tetrahydrocannabinol) besessen zu haben.

Das Amtsgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des Besitzes von Betäubungsmitteln nach § 29 Abs. 1 Nr. 3 BtMG sowie des Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemäß § 29 a Abs. 1 Nr. 2 BtMG freigesprochen, weil die Taten jeweils nach § 34 StGB durch Notstand gerechtfertigt gewesen seien. Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft.

Das zulässige Rechtsmittel (§ 335 Abs. 1 StPO) hat in der Sache vorläufigen Erfolg.

II.

Nach den Feststellungen leidet der Angeklagte seit Mitte der 80er Jahre an Multipler Sklerose. Diese Erkrankung, die sich zunächst schubweise entwickelte und nunmehr seit etwa 1995 einen schleichenden Krankheitsverlauf nimmt, hat beim Angeklagten zu einer mittelschweren Residualsymptomatik geführt, welche subjektiv durch ein generalisiertes Muskelschmerzsyndrom, depressive Verstimmung und eine einschießende Spastik sowie objektiv durch Koordinationsstörungen im Sinne einer Ataxie gekennzeichnet ist. Die Ataxie tritt im Wesentlichen als Störung der Grob- und Feinmotorik, des freien Gangs, des Standes und der Sprache in Erscheinung. Während für die Muskelschmerzen, die depressive Verstimmung und die Spastik hinreichende Therapiemöglichkeiten zur Verfügung stehen, ist eine Behandlung der Ataxie nach dem derzeitigen Stand der medizinischen Wissenschaft nicht möglich. Der Angeklagte, der gegen seine Erkrankung neben der Einnahme von Vitaminen und Mineralien seit 1987 Cannabis konsumiert, erfuhr spätestens bei seinen seit 1995 regelmäßig etwa einmal im Jahr erfolgenden Aufenthalten in der Klinik Dr. E., einem Krankenhaus für Multiple Sklerose und andere Nervenstoffwechselleiden, von Mitpatienten, dass es Fallbeispiele gebe, bei denen Cannabis bei Symptomen der Ataxie hilfreich sein könne. In Ermangelung anderer Behandlungsalternativen wurde dem Angeklagten in der Vergangenheit einmal das in Deutschland erhältliche tetrahydrocannabinol-haltige Medikament Dronabinol verordnet, dessen Wirkung der Angeklagte als "durchschlagend" empfand. Da die gesetzliche Krankenkasse des Angeklagten die Kostenübernahme für dieses Präparat abgelehnte - insoweit ist ein sozialgerichtliches Verfahren vor dem LSG Baden-Württemberg anhängig - und der Angeklagte wirtschaftlich nicht in der Lage ist, sich Dronabinol in ausreichenden Mengen über Privatverordnungen seiner Ärzte zu beschaffen, steht ihm das Medikament zur Linderung seiner Koordinationsstörungen nicht zur Verfügung.

III.

Der Freispruch hält einer rechtlichen Prüfung nicht stand. Die Annahme des Amtsgerichts, die Taten des Angeklagten nach §§ 29 Abs. 1 Nr. 3, 29 a Abs. 1 Nr. 2 BtMG seien als Notstandshandlungen jeweils gemäß § 34 StGB gerechtfertigt gewesen, wird durch die getroffenen Feststellungen nicht getragen.

1. Im rechtlichen Ausgangspunkt nimmt das Amtsgericht allerdings zutreffend an aus, dass beim Umgang mit Betäubungsmitteln, die zur Abwendung schwerer Gesundheitsbeeinträchtigungen konsumiert werden, eine Rechtfertigung nach § 34 StGB in Betracht kommt (vgl. KG StV 2003, 167; B. v. 1.11.2001 - (4) 1 Ss 39/01 (50/01); OLG Köln StraFo 1999, 314). Eine für ein anerkanntes Rechtsgut bestehende gegenwärtige Gefahrenlage i. S. des § 34 Satz 1 StGB hat der Tatrichter im angefochtenen Urteil ebenfalls rechtsfehlerfrei dargetan. Nach den Feststellungen leidet der Angeklagte als dauerhafte Folge einer Mitte der 80er Jahre aufgetretenen Multiple-Sklerose-Erkrankung unter anderem an Koordinationsstörungen im Sinne einer Ataxie, welche die Fein- und Grobmotorik, sowie den freien Gang, den Stand und die Sprache beeinträchtigen und nach dem derzeitigen Stand der medizinischen Wissenschaft nicht behandelt werden können. In dem mangels anerkannter Therapiemöglichkeiten drohenden Fortbestand der Gesundheitsbeeinträchtigungen liegt eine gegenwärtige Gefahr für die körperliche Unversehrtheit des Angeklagten.

2. Auf der Grundlage der bislang getroffenen tatsächlichen Feststellungen vermag der Senat indes nicht zu beurteilen, ob der Betäubungsmittelbesitz des Angeklagten als geeignete und erforderliche Notstandshandlung gewertet werden kann. Darüber hinaus reichen die Sachverhaltsfeststellungen als Tatsachengrundlage für die bei der Anwendung des § 34 StGB erforderliche umfassende Interessenabwägung nicht aus.

a) Aus dem Erfordernis einer nicht anders als durch die Rettungshandlung abwendbaren Gefahrenlage in § 34 StGB folgt, dass die Notstandshandlung zur Abwendung der drohenden Gefahr geeignet sein muss (vgl. BGHSt 2, 242, 245) und bei mehreren in Betracht kommenden Handlungsalternativen kein milderes Mittel zur Verfügung stehen darf.

Für die Annahme der Eignung zur Gefahrenabwehr ist allerdings nicht erforderlich, dass die Notstandshandlung die Gefahrenlage sicher oder mit hoher Wahrscheinlichkeit beseitigt (vgl. Erb in MünchKomm StGB § 34 Rdnr. 88; Lenckner/Perron in Schönke/Schröder StGB 26. Aufl. § 34 Rdnr. 19; Hirsch in LK-StGB 11. Aufl. § 34 Rdnr. 51; Lenckner in Festschrift für Lackner 1987, 94, 99). Denn die drohende Schädigung des Erhaltungsguts kann so schwerwiegend sein, dass der Eingriff in fremde Interessen auch zur Wahrnehmung unsicherer Rettungschancen rechtlich erlaubt sein muss (vgl. Erb aaO). Es reicht vielmehr aus, dass die erfolgreiche Abwendung des drohenden Schadens nicht ganz unwahrscheinlich ist. Als von vornherein ungeeignet scheiden daher nur solche Handlungen aus, welche die Chancen einer Gefahrenbeseitigung nicht oder nur unwesentlich erhöhen (vgl. Lenckner/Perron aaO; Lenckner aaO; Erb aaO Rdnr. 89). Jenseits dieser Grenze ist die Frage, wie hoch die Erfolgswahrscheinlichkeit sein muss, um die Beeinträchtigung des Eingriffsguts zu rechtfertigen, im Rahmen der Interessenabwägung zu verantworten.

Dazu, ob mit dem Konsum von Cannabis ein die Koordinationsstörungen des Angeklagten lindernder Effekt verbunden ist oder dies - was mit Blick auf den Zweifelssatz für die Anwendung des § 34 StGB ausreichend wäre (vgl. Erb aaO Rdnr. 194) - jedenfalls nicht ausgeschlossen werden kann, teilt das Urteil lediglich die Einschätzung des Sachverständigen Prof. Dr. Meinck mit, wonach in der medizinischen Wissenschaft Befunde vorliegen, welche die Wirksamkeit von Cannabis auf Ataxien in einzelnen Fällen belegen. Weitere Darlegungen hierzu fehlen in den Urteilsgründen. Auf dieser Grundlage lässt sich nicht hinreichend sicher beurteilen, ob der Cannabiskonsum beim Angeklagten zu einer mehr als nur unwesentlichen Verbesserung der Koordinationsstörungen führt. Nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsausführungen dürfte es allerdings nahe liegen, dass eine nicht nur unwesentlichen Linderung der Ataxiesymptome jedenfalls nicht ausgeschlossen werden kann.

Unter dem Gesichtspunkt der geringst möglichen Aufopferung des Eingriffsguts kommt schließlich der Menge des besessenen Marihuanas und Haschischs Bedeutung zu. Nach § 34 StGB gerechtfertigt kann der Besitz von Cannabis nur in dem Umfang sein, der für den Konsum zur Linderung der Gesundheitsbeeinträchtigungen erforderlich ist. Feststellungen zu der Konsummenge, welche der Angeklagte zu sich nimmt, um seine Koordinationsstörungen zu bekämpfen, enthält das angegriffene Urteil nicht. Des Weiteren fehlt eine Erörterung, ob den vorliegenden Einzelfallbefunden über die Wirksamkeit von Cannabis auf Ataxien Aussagen über die Aufnahmemenge entnommen werden können.

b) Eine Rechtfertigung nach § 34 StGB setzt weiterhin voraus, dass bei Abwägung der widerstreitenden Interessen das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Bei der umfassenden, über eine bloße Güterabwägung hinausgehenden Interessenbewertung sind namentlich die miteinander kollidierenden Rechtsgüter mit ihrem Stellenwert in der allgemeinen Güterordnung, die Art und der Umfange der Beeinträchtigungen, welche dem Erhaltungsgut drohen und denen das Eingriffsgut ausgesetzt wird, sowie der Grad der den kollidierenden Gütern drohenden Gefahren und schließlich die Größe der mit der Notstandshandlung verbundenen Rettungschance zu berücksichtigen (vgl. Lenckner/Perron aaO Rdnr. 22 ff m. w. N.).

Die bislang getroffenen tatrichterlichen Feststellungen reichen als Tatsachengrundlage für die erforderliche Interessenabwägung in zweifacher Hinsicht nicht aus. Das Amtsgericht stellt zu der beim Angeklagten diagnostizierten Ataxie zwar fest, dass die Koordinationsstörungen im Wesentlichen die Fein- und Grobmotorik, den freien Gang, den Stand und die Sprache beeinträchtigen und die Einschränkungen der Grob- unter Feinmotorik den Angeklagten zutiefst belasten. Der Tatrichter legt jedoch nicht dar, welche gerade durch die Ataxie bedingten Beeinträchtigungen in den einzelnen Funktionsbereichen beim Angeklagten konkret vorliegen und welches Ausmaß diese Einschränkungen erreichen. Den Urteilsgründen ist insbesondere nicht zu entnehmen, ob der vor der Hauptverhandlung erlittene Sturz des Angeklagten, dem das Amtsgericht nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe erhebliches Gewicht im Rahmen der Interessenabwägung eingeräumt hat, ursächlich auf die Ataxie des Angeklagten zurückzuführen war. Ohne nähere Feststellungen zum Ausmaß der vom Angeklagten konkret zu erleidenden Gesundheitsbeeinträchtigungen ist eine Gewichtung seines auf die Linderung des Krankheitsbildes gerichteten Interesses und damit eine sachgerechte Interessenabwägung nicht möglich.

Da im angefochtenen Urteil - wie bereits ausgeführt - die Wirksamkeit von Cannabis auf Ataxien nicht hinreichend dargetan wird, bleibt des Weiteren offen, mit welcher Wahrscheinlichkeit und in welchem Umfang durch den Konsum von Cannabis ein die Koordinationsstörungen des Angeklagten lindernder Effekt erreicht werden kann. Welche Chancen für eine Linderung der durch die Ataxie bedingten Gesundheitsbeeinträchtigungen des Angeklagten bestehen, entzieht sich daher einer abschließenden Beurteilung im Rahmen der Abwägung.

Die Sache bedarf daher einer erneuten tatrichterlichen Verhandlung und Entscheidung.

IV.

Die verfassungsrechtlichen Einwände, welche die Verteidigung in der Revisionshauptverhandlung gegen die gesetzlichen Vorschriften des geltenden Betäubungsmittelgesetzes vorgebracht hat, teilt der Senat nicht. Das - generalpräventiv begründete - umfassende strafbewehrte Verbot des Umgangs mit Cannabisprodukten ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 90, 145) mit dem Grundgesetz vereinbar. Möglichen Bedenken, welche sich in den atypisch gelagerten Fällen eines Cannabiskonsums zur Linderung schwerer Gesundheitsbeeinträchtigungen aus dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot ergeben können, ist gegebenenfalls durch eine erweiternde Auslegung der Erlaubnisnorm des § 3 Abs. 2 BtMG Rechnung zu tragen (vgl. hierzu BVerfG NJW 2000, 3126).

Ende der Entscheidung

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