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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Karlsruhe
Urteil verkündet am 14.11.2007
Aktenzeichen: 7 U 251/06
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 823
BGB § 847 a.F.
1. Auch bei einer schweren Grunderkrankung (hier maligne Tumore in beiden Augen) mit erheblicher Beeinträchtigung der Sehfähigkeit rechtfertigt die erst durch einen Behandlungsfehler notwendige Entfernung beider Augäpfel ein Schmerzensgeld in Form eines Kapitalbetrages und einer Schmerzensgeldrente.

2. Der zuerkannte Betrag darf unter Berücksichtigung der kapitalisierten Rentenverpflichtung nicht außerhalb des sonst für vergleichbare Verletzungen üblichen Entschädigungsrahmens liegen, wenn nicht besondere Umstände des Einzelfalls dies gebieten.


Oberlandesgericht Karlsruhe 7. Zivilsenat Im Namen des Volkes Urteil

Geschäftsnummer: 7 U 251/06

Verkündet am 14. November 2007

In dem Rechtsstreit

wegen Schadensersatz u.a.

hat der 7. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Karlsruhe auf die mündliche Verhandlung vom 04. September 2007 unter Mitwirkung von

Vors. Richter am Oberlandesgericht Richterin am Oberlandesgericht Richter am Oberlandesgericht

für Recht erkannt:

Tenor:

I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 18.09.2006 - 10 O 521/03 - im Kostenpunkt aufgehoben und in Ziff. 1 des Urteilsausspruchs wie folgt abgeändert:

1. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger zu 1 EUR 90.000 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 25.09.2003 zu zahlen.

II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

III. Von den außergerichtlichen Kosten der Kläger zu 2 und 3 im ersten Rechtszug tragen der Beklagte 4/5 und die Kläger zu 2 und 3 1/5. Die außergerichtlichen Kosten der Kläger zu 2 und 3 im Berufungsrechtszug trägt der Beklagte.

Die übrigen Kosten des Rechtsstreits werden zwischen dem Kläger zu 1 und dem Beklagten aufgehoben.

IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Zwangsvollstreckung kann gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages abgewendet werden, sofern nicht die Gegenseite vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Der am 24.04.1998 geborene Kläger zu 1 litt in beiden Augen an Retinoblastomen (bösartige Tumore), die zu einer Entfernung beider Augäpfel führten. Die Kläger werfen dem Beklagten vor, die Erkrankung nicht rechtzeitig erkannt zu haben.

Das Landgericht, auf dessen Urteil wegen des Sach- und Streitstands im ersten Rechtszug sowie der getroffenen Feststellungen Bezug genommen wird, hat den Beklagten verurteilt, dem Kläger zu 1 ein Schmerzensgeld von 260.000,00 EUR und eine monatliche Schmerzensgeldrente von 260,00 EUR zu zahlen sowie den Klägern zu 2 und 3, den Eltern des Klägers zu 1, materiellen Schaden in Höhe von 3.167,99 EUR zu ersetzen. Weiterhin hat es festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, den Klägern weitere materielle Schäden sowie dem Kläger zu 1 auch weitere immaterielle Schäden zu ersetzen, die diesen aus der fehlerhaften Behandlung des Klägers zu 1 vom 24.08.1998 bis 21.01.1999 entstanden ist und noch entstehen werden. Der Beklagte habe einen groben Behandlungsfehler begangen, als er es am 24.08.1998, spätestens aber am 19.11.1998 unterlassen habe, eine augenärztliche Abklärung des Schielens des Klägers zu 1 zu veranlassen. Der Beklagte habe nicht den ihm obliegenden Beweis erbringen können, dass nicht zumindest das linke Auge bei einer Abklärung im August oder November 1998, wenn auch mit reduzierter Sehschärfe hätte erhalten werden können.

Mit seiner Berufung wendet sich der Beklagte gegen seine Verurteilung und begehrt weiterhin die Abweisung der Klage. Anlässlich der Vorsorgeuntersuchung U4 im August sei ein fehlerhaftes Verhalten nicht gegeben, anlässlich der Vorsorgeuntersuchung U5 vom 19.11.1998 sei jedenfalls kein grober Behandlungsfehler anzunehmen. Darüber hinaus sei jedenfalls der Verlust beider Augen nicht einem Fehlverhalten des Beklagten zuzuordnen, und im übrigen seien auch das Schmerzensgeld und die Schmerzensgeldrente übersetzt.

Die Kläger verteidigen das landgerichtliche Urteil und beantragen, die Berufung zurückzuweisen.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstands im zweiten Rechtszug wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen. Der Senat hat Beweis erhoben durch die Erläuterung und Ergänzung der im ersten Rechtszug erstatteten Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. L. (Kinderophthalmologie) und Prof. Dr. N. (Pädiatrie). Wegen des Beweisergebnisses wird auf die Sitzungsniederschrift vom 04.09.2007 (II 125 ff.) verwiesen.

II.

Die Berufung des Beklagten ist zulässig und hat Erfolg, soweit er die Höhe des Schmerzensgeldes angreift.

1. Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Schmerzensgeldanspruch gem. § 847 BGB in der bis zum 31.07.2002 geltenden Fassung (Art. 229 § 8 Abs. 1 EGBGB), weil der Beklagte ihn am 19.11.1998 anlässlich der Vorsorgeuntersuchung U5 nicht zu einem Augenarzt überwiesen hat, was zur Diagnose der Retinoblastome geführt und eine vollständige Erblindung des Klägers verhindert hätte. Darin liegt ein Behandlungsfehler, der eine rechtswidrige schuldhafte Gesundheitsbeschädigung des Klägers zu 1 gem. § 823 Abs. 1 BGB darstellt.

a) Nach den überzeugenden Ausführungen in den kinderärztlichen Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. N. vom 01.03.2005 und der Anhörung vom 04.09.2002 ist der Senat ebenso wie das Landgericht davon überzeugt, dass es einen Behandlungsfehler des Beklagten darstellte, dass dieser den Kläger zu 1 am 19.11.1998 nicht unverzüglich zu einem Augenarzt überwies.

Die Sachverständige hat in ihrer Anhörung vor dem Senat nochmals bekräftigt, jedenfalls der Befund am 19.11.1998 anlässlich der Vorsorgeuntersuchung U5, den der Beklagte selbst mit "Schielen?" dokumentiert hat, wäre unmittelbarer und dringlicher Anlass gewesen, den Kläger zu 1 allerspätestens im Verlauf einer Woche in augenärztliche Untersuchung zu bringen. Dies gehöre zum Grundwissen (bread and butter) eines Kinderarztes und begründe einen groben Fehler, wenn dies nicht geschehe (Protokoll vom 04.09.2007 Seite 3, II 127). Der Beklagte kann sich nicht darauf berufen, dass es sich hier allenfalls um einen Diagnosefehler handle, weil er - objektiv unzutreffend - von einem primären Schielen ausgegangen sei. Zum Einen hat die Sachverständige überzeugend bereits im ersten Rechtszug ausgeführt, es gehöre zum Grundwissen jedes Kinderarztes, dass Schielen nach einem Zeitraum von 3 - 4 Monaten - der Kläger zu 1 war am 19.11.1998 bereits fast 7 Monate alt - stets behandlungsbedürftig sei, weil es ein Symptom für verschiedene ernstzunehmende Augenerkrankungen und ein Leitsymptom für die beim Kläger zu 1 vorliegenden Retinoblastome sei. Zur näheren Begründung wird auf die zutreffenden Ausführungen im angegriffenen Urteil Bezug genommen. Auch wenn ein Diagnosefehler grundsätzlich nur zurückhaltend als Behandlungsfehler zu beurteilen ist (vgl. BGH VersR 1981, 1033, 1034; NJW 2001, 1787, 1788; VersR 1992, 1263, 1265), so schließt das die Annahme eines auch groben Behandlungsfehlers dann nicht aus, wenn der Arzt die für eine Krankheit kennzeichnenden Symptome nicht ausreichend berücksichtigt und ein sogenannter "fundamentaler" Diagnoseirrtum vorliegt (vgl. BGH VersR 2003, 1256, 1257; VersR 2007, 541, 542).

Nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen ist dies hier der Fall. Da in den Lehrbüchern für Kinderheilkunde auf die Problematik des sekundären Schielens und des Schielens als Leitsymptom für Retinoblastome hingewiesen wird, ist dem Beklagten hier ein fundamentaler Diagnoseirrtum unterlaufen, der auch als grober Behandlungsfehler im Sinne der Rechtsprechung anzusehen ist. Es handelt sich um einen Fehler von solchem Gewicht, ein eindeutiges Fehlverhalten, das aus objektiver ärztlicher Sicht bei Anlegung des für den Beklagten als Facharzt für Pädiatrie geltenden Ausbildungs- und Wissensmaßstabs nicht mehr verständlich und verantwortbar erscheint, weil ein solcher Fehler dem Arzt aus dieser Sicht schlechterdings nicht unterlaufen darf (BGH VersR 2000, 1146, 1148 = BGHZ 144, 296).

b) Demgegenüber ist dem Beklagten ein Behandlungsfehler bei der Durchführung der Vorsorgeuntersuchung U4 am 24.08.1998 nicht zur Last zu legen. Selbst wenn zugunsten des Klägers - im Hinblick auf das unzureichende Bestreiten des Beklagten - unterstellt wird, die Klägerin zu 2 habe den Beklagten bereits zu diesem Zeitpunkt auf ein Schielen hingewiesen, so ist nach der kinderärztlichen Sachverständigen ein Abwarten zu diesem Zeitpunkt noch vertretbar gewesen. Unstreitig erfolgte hier der erste Hinweis der Eltern auf das Schielen des Klägers zu 1. Dieser war damals genau 4 Monate alt, also in einem Alter bis zu dem auch noch ein primäres Schielen hätte vorliegen können. Aus kinderfachärztlicher Sicht hat die Sachverständige daher für den Senat überzeugend ausgeführt, bei einem ersten Hinweis auf ein Schielen durch die Eltern hätte der Beklagte eine solche augenärztliche Kontrolle veranlassen können, aber nicht unbedingt müssen. Dies liege noch in der Bandbreite des kinderärztlichen Ermessens, wenn das Schielen selbst nicht festgestellt würde (Protokoll vom 04.09.2007, Seite 2, II 127).

Der augenärztliche Sachverständige Prof. Dr. L. hat dazu erklärt, auf den ihm vorgelegten Fotos, die dem Beklagten aber unstreitig nicht vorlagen, sei zu den angegebenen Daten 16.07.1998 und 08.09.1998 ein Schielen zu erkennen, ebenfalls am 25.10.1998, dagegen seien die Videosequenzen vom 22.08.1998 aufgrund der Qualität und Auflösung nicht ganz eindeutig, auch wenn dort bereits für das Datum 22.08.1998 wohl ein Schielen festzustellen sei; in einer Sequenz vom 04.10.1998 sei es eindeutig zu erkennen. Daraus folge für ihn eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass dieses Schielen beim Kläger zu 1 seit 16.07.1998 konstant war. Er schränkte allerdings insoweit die Erkennbarkeit für den Beklagten ein, als er überzeugend ausgeführt hat, dass die Beurteilung, ob ein Kind schiele, für einen Augenarzt eher möglich sei als für einen Kinderarzt (Protokoll vom 04.09.2007, Seite 5, II 131). Daran anschließend hat auch die kinderärztliche Sachverständige erklärt, es sei möglich, dass bei den Untersuchungen U4 und U5, zu denen auch die Feststellung, ob ein Kind schielt, gehöre, durch den Kinderarzt ein Schielen nicht festgestellt werde (Protokoll vom 04.09.2007, Seite 5, II 131). Dass der Beklagte die Vorsorgeuntersuchung nicht ordnungsgemäß durchgeführt hat, ist nicht bewiesen. Nach alldem steht für den 24.08.1998 bei der U4 Vorsorgeuntersuchung für den Senat nicht mit der gem. § 286 ZPO erforderlichen Sicherheit fest, dass beim Kläger zu 1 ein konstantes Schielen vorlag, das für den Beklagten erkennbar war und Anlass sein musste, ihn zu diesem Zeitpunkt bereits an einen Augenarzt zu überweisen.

Die überzeugende Beurteilung der Sachverständigen wird nicht von den vorgelegten Privatgutachten in Frage gestellt. Auch wenn es sich bei dem Retinoblastom um eine seltene Erkrankung handelt (Inzidenz von 1 zu 14.000 bis 1 zu 34.000), so schließt das bei der Verkennung von Leitsymptomen für eine solche Erkrankung einen - hier auch groben - Fehler nicht aus.

c) Dieser Behandlungsfehler des Beklagten am 19.11.1998 hat dazu geführt, dass beim Kläger zu 1 nicht nur die Enukleation des rechten, bereits vollständig erblindeten Augapfels erfolgen musste, sondern am 10.02.1999 auch diejenige des linken Augapfels. Letztere wäre ihm bei Behandlung im November 1998 erspart und möglicherweise eine Sehschärfe von ca. 30 % (Visus von 0,3) erhalten geblieben. Jedenfalls hat der Beklagte den ihm obliegenden Beweis nicht erbracht, dass auch bei Behandlung im November 1998 die Enukleation des linken Auges hätte erfolgen müssen und dass dem Kläger keine nennenswerte Sehschärfe mehr verblieben wäre.

aa) Wie unter a) festgestellt beging der Beklagte einen groben Behandlungsfehler, als er es am 19.11.1998 unterließ, eine augenärztliche Abklärung des Schielens zu veranlassen. Dies hat nach ständiger Rechtsprechung zur Folge, dass sich die Beweislast für die Kausalität des Behandlungsfehlers für den eingetretenen Schaden umkehrt, die sonst der Patient zu tragen hat (vgl. nur BGHZ 85, 212 = NJW 1983, 333, 334; VersR 2004, 909, VersR 2005, 228, 229), wenn der grobe Behandlungsfehler geeignet war, den konkreten Schaden herbeizuführen; Naheliegen oder Wahrscheinlichkeit ist nicht erforderlich (BGH VersR 2005, 228, 229; VersR 2004, 909, 911). Danach muss der Beklagte die Behauptung der Kläger widerlegen, der Fehler am 19.11.1998 sei für die Enukleation beider Augäpfel ursächlich geworden. Entgegen der Auffassung des Beklagten obliegt ihm auch der Beweis dafür, dass dem Kläger nicht die volle und auch nicht eine reduzierte Sehschärfe auf dem linken Auge verblieben wäre.

Zwar gilt die Beweiserleichterung zunächst nur für Primärschäden (BGH VersR 1994, 52, 54), d. h. für den Schaden in seiner konkreten Ausprägung. Dies ist hier als sog. erster Verletzungserfolg (BGH VersR 2005, 836, 837) die Erblindung des Klägers auf dem linken Auge und die Enukleation am 10.02.1999 zur Vermeidung einer Metastasierung. Selbst wenn hier lediglich die Existenz des Retinoblastoms und dessen Ausmaß durch das Wachstum zwischen dem 19.11.1998 und der verspäteten augenärztlichen Untersuchung am 22.01.1999 als Primärschaden angesehen würden, so wäre die unmittelbar darauf beruhende Minderung der Sehschärfe - der Tumor zerstört die Netzhaut des Auges - die typische Folge des Primärschadens. Solche Sekundärschäden ergreift die Beweislastumkehr aber ebenfalls (BGH VersR 1989, 145; VersR 1993, 969; VersR 2005, 228, 229). Damit erstreckt sich die Beweislastumkehr in jedem Falle auf die Ursächlichkeit des Behandlungsfehlers für die vergebene Möglichkeit, die größtmögliche Sehschärfe zu erhalten.

bb) Selbst wenn nur ein einfacher Behandlungsfehler des Beklagten anzunehmen wäre, so käme es dennoch zu der unter aa) dargestellten Beweislastumkehr. Wird ein medizinisch gebotener Befund behandlungsfehlerhaft nicht erhoben, so begründet dies die Vermutung, "dass der Befund, wäre er erhoben worden, ein positives Ergebnis im behaupteten Sinn gehabt hätte, sofern ein solches hinreichend wahrscheinlich war (grundlegend BGH VersR 1996, 633, 634 = BGHZ 132, 47, 52; VersR 2004, 645, 647; VersR 2004, 790, 791). Zwar gilt die Vermutung zunächst nur dafür, dass der Befund ein reaktionspflichtiges Ergebnis gebracht hätte, was der Sachverständige Prof. L. hier bereits für den August 1998 und dementsprechend auch für November 1998 bejaht hat (Protokoll vom 04.09.2007 Seite 3, II 127). Wenn sich jedoch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben hätte, dass sich dessen Verkennung als fundamental fehlerhaft (BGH VersR 1999, 231, 232) oder die Nichtreaktion als grob fehlerhaft darstellen müsste (ständige Rechtsprechung, BGH VersR 1999, 1282, 1283; VersR 2003, 1256, 1257; VersR 2007, 541, 542), so erstreckt sich die Beweislastumkehr auch in diesem Fall auf die Ursächlichkeit des Fehlers für den Schaden. Dies wäre hier der Fall. Der Sachverständige Prof. L. hat dazu erklärt, bei einer augenärztlichen Untersuchung wären mit Sicherheit und zwar unabhängig von dem klinischen Eindruck - ob der Augenarzt ein Schielen feststellt oder nicht - der Augenhintergrund untersucht und die Tumorinseln gesehen worden. Es wäre schlechthin unverständlich falsch gewesen, wenn daraufhin nicht innerhalb eines Tages eine Überweisung an eine entsprechende Fachabteilung einer augenärztlichen Klinik erfolgt wäre (Protokoll vom 04.09.2007, Seite 3, II 127).

cc) Der Beklagte hat weder bewiesen, dass die Enukleation des linken Augapfels auch bei fachgerechter Behandlung hätte erfolgen müssen noch dass dann der Kläger zu 1 erblindet wäre oder über keine nennenswerte Sehschärfe mehr verfügt hätte. Vielmehr ist davon auszugehen, dass dem Kläger zu 1 bei einer sachgerechten Behandlung am 19.11.1998 immerhin eine Sehschärfe von 30 % (Visus 0,3) auf dem linken Auge erhalten geblieben wäre. Eine solche reduzierte Sehschärfe ist nach den überzeugenden Ausführungen des augenärztlichen Sachverständigen nicht mit der Erblindung gleichzusetzen. Sie führt zu einem unscharfen Sehen in jedem Sichtbereich und darüber hinaus zu einem Gesichtsfeldausfall in dem Bereich, in dem der Tumor die Netzhaut zerstört hat, bei einem Visus von 0,3 bleibt die Lesefähigkeit erhalten (Protokoll vom 04.09.1998 Seite 4 f., II 129 f.).

Der Sachverständige hat zur Kausalität des Behandlungsfehlers am 19.11.1998 für die Erblindung des Klägers ausgeführt, das rechte Auge hätte in jedem Fall entfernt werden müssen. Dies sei bei einem genetisch bedingten Retinoblastom, wie es bei dem Kläger zu 1 vorlag (Retinoblastome auf beiden Augen) unabhängig vom genauen Ausmaß des Tumors ärztlicher Standard. Dem hat die kinderfachärztliche Sachverständige zugestimmt (Protokoll vom 04.09.2007, II 129).

Für die Behandlung des linken Auges ist nach den Ausführungen des augenärztlichen Sachverständigen die zeitliche Verzögerung von wesentlicher Bedeutung, wenn auch die Risiken einer Alternativbehandlung und der Rettung zumindest des linken Auges nicht statistisch zu quantifizieren seien. Immerhin war aber auf den für Oktober 1998 datierten Fotographien eine Leukokorie als Spätzeichen eines Retinoblastoms nur im rechten Auge zu erkennen, nicht aber im linken (Gutachten Prof. L. vom 04.11.2005 S. 2, I 390).

Der Senat hat keine Zweifel daran, dass die Datierung der Fotos durch Aufdruck auf den Abzügen richtig ist und nicht nachträglich von den Klägern gefälscht wurde. Anhaltspunkte dafür bestehen nicht. Auch die Entwicklung des Kindes vom Säugling in den ersten Lebensmonaten bis zum 6. Monat ist auf den Bildern nachvollziehbar. Dies kann der Senat aus eigener Sachkunde beurteilen, da die altersgemäße Erscheinung des Klägers zu 1 nach allgemeiner Lebenserfahrung dem Üblichen entsprach.

Es ist für den Senat auch überzeugend, dass sich die Frage, ob das Augenlicht hätte gerettet werden können, nicht präzise beantworten lässt. Die Möglichkeit dazu war aber gegeben (Gutachten Prof. L. vom 13.06.2005 S. 4, I 355). Nach Auswertung des histologischen Befundes des Zentrums für Augenheilkunde des Universitätsklinikums E. vom 16.02.1999 über den linken Augapfel nach dessen Entfernung hat der Sachverständige Prof. L. die Angaben im schriftlichen Gutachten auf Fragen des Senats zu den einzelnen Untersuchungsterminen präzisiert, auch wenn er - für den Senat nachvollziehbar - auch hier angegeben hat, keine genauen statistisch gesicherten Angaben machen zu können. Danach ist es aufgrund des fortgeschrittenen Wachstums mit Glaskörperaussaat für den 19.11.1998 unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich, dass eine Lesefähigkeit des Klägers zu 1 (Visus von 0,3) hätte erhalten werden können. Es sei bei der Behandlung von Retinoblastomen in beiden Augen ärztlicher Standard, möglichst ein Auge zu erhalten. Man wäge das Risiko einer Metastasierung gegen die Heilungschancen ab und komme im Allgemeinen zu dem Ergebnis, dass das andere Auge durch Chemotherapie erhalten werden könne (Ausführungen beider Sachverständigen, Protokoll vom 04.09.1998 Seite 4, II 129). Dementsprechend wäre dieses Vorgehen auch beim Kläger zu 1 möglich gewesen. Die Wahrscheinlichkeit zur Erhaltung einer gewissen Sehschärfe nehme mit der Verzögerung der Behandlung ab. Dementsprechend war hier der Fehler des Beklagten geeignet, den eingetretenen Erfolg herbeizuführen (Wachstum der Tumore, Erblindung und Notwendigkeit der Enukleation des Auges). Dass die Erhaltung einer Sehschärfe von 0,3 im November 1998 unwahrscheinlich war, hindert die Annahme nicht, da die Wahrscheinlichkeit des Behandlungserfolgs nicht gegeben sein muss. Die Eignung des Fehlers zur Herbeiführung des Erfolgs reicht aus (BGH VersR 2005, 228, 229; VersR 2004, 909, 911).

d) Dem Kläger steht wegen der erheblichen Gesundheitsbeeinträchtigung durch den Behandlungsfehler des Beklagten eine angemessene Entschädigung gem. § 847 BGB a.F. zu. Diese kann nach ständiger Rechtsprechung in Kapital oder einer Rente oder in einer Kombination von beidem gewährt werden. Der Senat hält hier die Zuerkennung eines einmaligen Kapitalbetrages von 90.000,00 EUR und einer monatlichen Rente von 260,00 EUR für angemessen.

aa) Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes sind alle für die Höhe maßgebenden Umstände vollständig zu berücksichtigen. Hier fällt vor allem die schwere Gesundheitsschädigung des Klägers ins Gewicht, die die gesamte Lebensführung für eine weitere statistische Lebensdauer von ca. 70 Jahren in erheblichen Umfange beeinträchtigten wird. Der Kläger wird nur mit größter Mühe ein selbstständiges Leben führen können und in vielerlei Hinsicht immer auf fremde Hilfe angewiesen bleiben. Zwar kann grundsätzlich bei der Bemessung des Schmerzensgeldes eine Vorerkrankung, die für das Schicksal des Geschädigten mitursächlich geworden ist, schmerzensgeldmindernd berücksichtigt werden. Dies führt hier aber, wie wohl der Beklagte meint, nicht dazu, dass die Grunderkrankung des Klägers, nämlich die Retinoblastome und die damit bereits ohne den Behandlungsfehler verbundene Enukleation des rechten Augapfels und die Verminderung der Sehschärfe auf dem linken Auge, der maßgebende Punkt für das Schicksal des Klägers ist. Denn entscheidend für das weitere Schicksal des Klägers ist nicht nur die Grunderkrankung, sondern gerade der Umstand, dass er aufgrund des Behandlungsfehlers des Beklagten vollständig erblindet ist und gerade dadurch in erheblich größerem Umfang in der Berufswahl und seiner gesamten Lebensführung eingeschränkt sein wird als dies allein mit seiner Grunderkrankung der Fall gewesen wäre. Denn bei einer verbleibenden Sehschärfe von 30 % auf dem linken Auge hätte der Kläger sich in seiner Umgebung orientieren können, er hätte - wenn auch unscharf - auf alle Entfernungen sehen können, er hätte lesen können ohne auf die Blindenschrift und die inzwischen vorhandenen elektronischen Hilfen zurückgreifen zu müssen, er hätte damit eine normale Schulausbildung durchlaufen und - wenn auch nicht ohne Einschränkungen - doch eine erheblich freiere Berufswahl gehabt, als dies nun vollständig erblindet der Fall ist. Auch wenn Autofahren nicht möglich gewesen wäre, so hätte er sich doch mit öffentlichen Verkehrsmitteln selbstständig in seiner Umgebung bewegen können, die Verrichtungen des täglichen Lebens ohne die zusätzlichen Schwierigkeiten eines vollständig Erblindeten meistern können, was sich unmittelbar auch auf soziale Beziehungen, Freundeskreis und die Wahl einer Lebenspartnerin auswirkt. Darüber hinaus ist auch die psychische Belastung des Kindes aufgrund der Enukleation und der Versorgung mit Prothesen in beiden Augen nicht zu vernachlässigen, die die Kläger zu 2 und 3 in der Verhandlung vor dem Senat eindrucksvoll geschildert haben.

Schließlich ist hier ausnahmsweise das Regulierungsverhalten der Haftpflichtversicherung des Beklagten schmerzensgelderhöhend zu berücksichtigen, das ihm zuzurechnen ist. Zwar steht es jedem Beklagten frei, sich gegen den Vorwurf eines Behandlungsfehlers zu verteidigen und auch Rechtsmittelmöglichkeiten auszuschöpfen. Jedoch hat hier im Jahr 2000 das Verfahren vor der ärztlichen Gutachterstelle begonnen, die im Jahr 2002 bereits einen Behandlungsfehler konstatiert hat. Außer dem von allen Sachverständigen als unhaltbar bezeichneten Privatsachverständigengutachten des Allgemeinmediziners Prof. K. (in der Akte der Gutachterkommission) hat hier kein Gutachter und Sachverständiger an dem Behandlungsfehler des Beklagten gezweifelt. Dennoch hat die Haftpflichtversicherung keinerlei Bereitschaft zur Regulierung gezeigt, sondern über weitere 4 Jahre die klaren Gutachten in Zweifel gezogen. Dies geht über das hinzunehmende Maß der Verteidigung einer Versicherung hinaus.

bb) Angesichts der lebenslangen gravierenden, den Kläger ständig neu vor Augen geführten Beeinträchtigungen hält der Senat für angemessen, neben einem Kapitalbetrag, der die derzeitige Situation des Klägers lindern soll, eine monatliche Rente auszuweisen, und zwar in der Höhe, wie das Landgericht dies für angemessen erachtet hat, nämlich in Höhe von 260 EUR monatlich. Daneben hält der Senat einen Kapitalbetrag von 90.000,00 EUR für angemessen, um einen einmaligen Ausgleich für die erlittene Schädigung zu gewähren.

Der Kapitalbetrag, den das Landgericht neben der Rente zugesprochen hat, liegt weit oberhalb dessen, was die Rechtsprechung in der Regel für vergleichbare Fälle als Schmerzensgeld gewährt. Selbst für schwere hirnorganische Schäden werden kaum Summen von insgesamt ca. 320.000,00 EUR ausgeworfen, wie sie vom Landgericht - mit dem Schmerzensgeldkapital von 260.000 EUR und unter Berücksichtigung der kapitalisierten Schmerzensgeldrente auf einen Betrag von ca. 61.000 EUR - zugesprochen wurde. Auch die bisher ausgeurteilten Schmerzensgeldbeträge des Senats liegen deutlich darunter. Die vom Kläger zitierte Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt (VersR 1996, 1509 f.), mit der ein Schmerzensgeldkapital von 500.000,00 DM sowie eine monatliche Schmerzensgeldrente in Höhe von 500,00 DM zuerkannt wurde, ist eine "Ausreißerentscheidung". So hat das Oberlandesgericht Frankfurt 1990 für die Erblindung beider Augen, eine Hirnschädigung und zahlreiche Frakturen eines 30-jährigen Mannes bei einem Mitverschulden von einem Drittel ein Schmerzensgeld von 35.000,00 EUR und eine monatliche Rente von 337,05 EUR für angemessen erachtet. Das OLG Hamm hat bei Erblindung eines Kleinkindes infolge ärztlichen Fehlers 30.000,00 EUR und 300,00 EUR monatliche Rente bei einem immateriellen Vorbehalt zugesprochen (VersR 1996, 756). In einem ähnlichen Rahmen bewegen sich auch die anderen Entscheidungen der Oberlandesgerichte. Der Senat hat im Jahre 1998 60.000,00 EUR für die Erblindung des rechten Auges und Verminderung der Sehkraft des linken Auges auf etwa 60 % in Folge einer Frühgeborenenretinopathie zugesprochen (VersR 2000, 229).

Der Senat hält sich dagegen bei einer Kapitalisierung des Rentenbetrages, die zu einem Barwert von ca. 61.000,00 EUR führt unter Berücksichtigung des Kapitalbetrages von 90.000,00 EUR bereits im oberen Rahmen der üblicherweise zuerkannten Entschädigung. Bei einer Gesamtentschädigung aus Schmerzensgeldkapital und Schmerzensgeldrente muss der monatliche Rentenbetrag so bemessen werden, dass er kapitalisiert mit dem zuerkannten Kapitalbetrag einen Gesamtbetrag ergibt, der in seiner Größenordnung einem in ausschließlicher Kapitalform zuerkannten Betrag zumindest annähernd entspricht (vgl. BGH VersR 1976, 697, 698 f.; NJW 2007, 2475, 2476 m.w.N.). Diese Art der Berechnung trägt der Tatsache Rechnung, dass der Geschädigte, soweit ihm Schmerzensgeldrente statt des Kapitalbetrags zuerkannt wird, gehindert ist, das Kapital gewinnbringend anzulegen, während der Schädiger die Möglichkeit hat, die Renten aufgrund einer gewinnbringenden Anlage des Kapitals zu bedienen (BGH NJW 2007, 2475, 2476).

Die monatliche Rente ist so bemessen, dass dem Kläger zu 1 eine spürbare Entschädigung für seine ihm ständig neu bewusstwerdende Beeinträchtigung gewährt, während der um knapp 30.000,00 EUR höhere Kapitalbetrag eine Entschädigung darstellt, die dem Kläger zu 1 sofort zur Verfügung steht, um gewisse Annehmlichkeiten und eine Ausstattung zur Erleichterung des täglichen Lebens und zur Förderung seiner Fähigkeiten zu erlangen.

2. Sowohl der Kläger zu 1 als auch die Kläger zu 2 und 3 haben wegen des Behandlungsfehlers gegen den Beklagten einen Anspruch auf Ersatz der materiellen Schäden wegen einer Verletzung der Pflichten aus dem Behandlungsvertrag (PVV, Art. 229 § 5 EGBGB).

Der Kläger ist bei der H. Ersatzkasse K. versichert. Unabhängig von der konkreten Vertragsgestaltung zwischen den Klägern, der Krankenkasse und dem Beklagten entfaltet jedenfalls der Behandlungsvertrag Schutzwirkungen im Sinne des § 328 BGB zugunsten des untersuchten Kindes und seiner Eltern (vgl. nur BGH NJW 1992, 2962; Geiß/Greiner, Arzthaftungsrecht, 4. Auflage, Teil A IV Rn. 93, jeweils m.w.N.). Danach hat nicht nur der Kläger zu 1 als behandeltes Kind einen vertraglichen Anspruch auf Ersatz seiner materiellen Schäden. Auch die Kläger zu 2 und 3 als seine Eltern können im Hinblick auf die Schädigung des Kindes in den durch dessen Schaden gezogenen Grenzen ihre schädigungsbedingten Mehraufwendungen für Pflege und Versorgung des Kindes als eigenen Schaden geltend machen (vgl. BGH a.a.O., S. 2963 m.w.N.). Die Höhe des den Klägern zu 2 und 3 zugesprochenen Schadensersatzes greift der Beklagte nicht an.

3. Die im Urteilsausspruch Nr. 3 des angegriffenen Urteils enthaltene Feststellung der Ersatzpflicht für zukünftige Schäden ist zu Recht ergangen. Bei der Verletzung eines absoluten Rechtsguts, wie hier der Gesundheit des Klägers zu 1 reicht die bloße Möglichkeit weiterer Schäden aus (BGH VersR 2005, 228, 230), um erfolgreich die Feststellung zu betreiben. Darüber hinaus liegt hier auch eine gewisse Wahrscheinlichkeit weiterer Vermögensschäden der Kläger zu 2 und 3 für vermehrte Aufwendungen der Pflege und Betreuung des Klägers zu 1 vor, so dass auch ihr Antrag begründet ist (vgl. BGH VersR 2007, 708).

Die vom Beklagten nach Schluss der mündlichen Verhandlung begehrte Einschränkung des Feststellungsausspruchs auf Schäden "durch Verlust des linken Auges des Klägers zu 1" (Schriftsatz vom 02.10.2007, S. 3, I 163) ist nicht gerechtfertigt. Aus den Gründen der Entscheidung ergibt sich deutlich, dass der Verlust des rechten Auges nicht auf der fehlerhaften Behandlung des Beklagten beruht. Dies ist zwischen den Parteien rechtskräftig festgestellt, ohne dass es eines Ausspruchs im Tenor bedarf, der lediglich das festzustellende Rechtsverhältnis bezeichnen soll.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 1, 2, 97, 100 Abs. 2 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision gem. § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor. Entgegen der Auffassung des Klägers ist die Abweichung bei der Bemessung des Schmerzensgeldes von der Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt kein Grund, die Revision zuzulassen. Zum Einen ist die Bemessung des Schmerzensgeldes eine auf den individuellen Fall zugeschnittene Entscheidung des Gerichts, so dass auch differierende Entscheidungen der Oberlandesgerichte nicht unbedingt vergleichbar sind. Dies zeigt sich bereits darin, dass das Oberlandesgericht Frankfurt die Erblindung eines nicht sehbehinderten Kindes zu entscheiden hatte, während der Kläger zu 1 ohne den Behandlungsfehler nur noch eine Sehleistung von 30 % auf einem Auge erreicht hätte. Zum Anderen, ist - wie oben dargelegt - die zitierte Entscheidung gerade eine solche, die den von den anderen Gerichten eingehaltenen Rahmen der Schmerzensgeldbemessung deutlich verlässt.

Ende der Entscheidung

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