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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 05.08.2002
Aktenzeichen: (1) 4420 BL - III - 73/02
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 121 I
StPO § 122
Unzulässig ist es, die Rechtfertigung für einen eingetretenen Verfahrensstillstand zwischen Anklageerhebung und Eröffnungsbeschluss in einem hypothetischen Verfahrensablauf zu suchen, etwa mit dem Hinweis auf eine angespannte Terminslage der Kammer, die ohnehin selbst bei zeitgerechter Eröffnungsentscheidung die Durchführung der Hauptverhandlung und den Erlass eines Urteils innerhalb der Sechsmonatsfrist des § 121 Abs. 1 StPO nicht zugelassen hätte.
OBERLANDESGERICHT KOBLENZ BESCHLUSS

Geschäftsnummer: (1) 4420 BL III 73/02

In der Strafsache

wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz

hier: Haftprüfung gemäß §3 121, 122 StPO

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht von Tzschoppe, den Richter am Oberlandesgericht Völpel und die Richterin am Oberlandesgericht Hardt am 5. August 2002 beschlossen:

Tenor:

Der Haftbefehl der 5. Strafkammer des Landgerichts T. vom 11. Januar 2002 gegen den Angeklagten G. wird aufgehoben.

Gründe:

I.

Der Angeklagte befindet sich seit dem 5. Februar 2002 in Untersuchungshaft. Haftgrundlage ist ein Haftbefehl vom 11. Januar 2002, den die zuständige Strafkammer auf Antrag der Staatsanwaltschaft nach Anklageerhebung erlassen hat. Er entspricht im Tatvorwurf dem in der Anklageschrift vom 30. Oktober 2001 dargestellten Anklagesatz.

Dem Angeklagten werden darin neun Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz zur Last gelegt. In der Zeit zwischen Januar und März 2000 soll er in T., M./N. und anderenorts in zwei Fällen mit Betäubungsmitteln gewerbsmäßig sowie in sieben Fällen mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unerlaubt Handel getrieben, bei zwei von sieben Taten tateinheitlich auch Betäubungsmittel in nicht geringer Menge eingeführt haben.

II.

Der Fortbestand des Haftbefehls scheitert nicht an den allgemeinen Haftvoraussetzungen des § 112 Abs. 1 und 2 StPO. Diese liegen vor.

Der dringende Tatverdacht für den Tatvorwurf folgt aus dem in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft T. vom 30. Oktober 2001 dargelegten Ermittlungsergebnis, insbesondere den Bekundungen des Zeugen B. Sch. und der geständigen Einlassung des Mitangeklagten M. H. Sch..

Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Es ist zu erwarten, dass der Angeklagte sich dem Strafverfahren durch Flucht entziehen wird, sobald er sich auf freiem Fuß befindet. Er sieht im Fall seiner Verurteilung einer erheblichen Gesamtfreiheitsstrafe entgegen. Der davon ausgehende Fluchtanreiz wird verstärkt durch seine persönlichen Verhältnisse. Er ist weder beruflich noch persönlich fest gebunden. Er ist arbeitslos und verfügte zum Zeitpunkt seiner Festnahme weder über einen eigenen Wohnsitz noch einen festen Aufenthaltsort. Polizeilich gemeldet ist er noch unter der Anschrift einer ehemaligen Freundin, bei der er jedoch nicht mehr wohnhaft ist. Von seinen Lebensverhältnissen vor seiner Inhaftierung ist nur soviel bekannt, dass er nach eigenen Angaben "manchmal" bei einer neuen Freundin genächtigt hat. Angesichts dieses unsteten Lebenswandels ist die Gefahr, dass er unter dem Druck der Straferwartung untertauchen oder die Flucht ergreifen wird, so hoch zu veranschlagen, dass weniger einschneidende Maßnahmen als der Vollzug der Haft (§ 116 Abs. 1 StPO) nicht geeignet sind, den Verfahrenssicherungszweck zu gewährleisten.

III.

Der Haftbefehl ist dennoch aufzuheben, weil die besonderen Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO für eine Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus nicht vorliegen. Das Verfahren ist weder besonders umfangreich oder schwierig, noch liegt ein wichtiger Grund vor, der dem Erlass eines Urteils innerhalb der Sechsmonatsfrist entgegengestanden hat. Der Grund für die Dauer der Untersuchungshaft liegt in einer mit dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht mehr zu vereinbarenden Sachbehandlung durch die zuständige Strafkammer. Da der Haftbefehl erst nach Anklageerhebung ergangen ist, fällt die Einhaltung der Sechsmonatsfrist allein in ihre Verantwortung.

Die Kammer hat nach Festnahme des Angeklagten das Verfahren zunächst auch zügig fortgeführt. Noch am Tage der Haftbefehlseröffnung am 5. Februar 2002 hat der Vorsitzende dem Angeklagten die Anklageschrift mit einer Erklärungsfrist gemäß § 201 Abs. 1 StPO von zwei Wochen zugestellt. Weiter hat er ihm am 18. Februar 2002 einen Pflichtverteidiger bestellt. Nachdem der Mitangeklagte am 11. März 2002 ebenfalls festgenommen worden war, beschloss die Kammer zeitnah am 2. April 2002, beide Angeklagte durch einen medizinischen Sachverständigen auf die Voraussetzungen der §§ 20, 21, 63, 64 StGB sowie des § 35 BtMG untersuchen zu lassen. Am selben Tag verfügte der Vorsitzende auch die Übersendung des Gutachtenauftrags und der Zweitakten an den Sachverständigen.

In der Folgezeit wurde das Verfahren aber über einen Zeitraum von 11 Wochen nicht weiter gefördert. Erst am 19. Juni 2002 setzte die Kammer die Sachbearbeitung mit Erlass des Eröffnungsbeschlusses fort. Ein sachlicher Grund, der den zwischenzeitlichen Verfahrensstillstand rechtfertigen könnte, ist nicht erkennbar.

a) Zwar liegt das medizinische Sachverständigengutachten bis heute noch nicht vor. Daraus hat sich jedoch kein Hindernis für eine zügige Fortführung des Verfahrens ergeben. Es ist regelmäßig überflüssig, vor Eröffnung des Hauptverfahrens ein medizinisches Untersuchungsergebnis abzuwarten, das, wie vorliegend, aller Voraussicht nach nicht zur Annahme von Schuldunfähigkeit, sondern allenfalls einer verminderten Schuldfähigkeit des Angeklagten führen und damit Bedeutung nur für den Strafausspruch eines späteren Urteils sowie die Frage der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt erlangen wird. Das hat auch die Strafkammer erkannt. Sie hat die Eröffnung des Hauptverfahrens schließlich unabhängig vom Ausgang der Sachverständigenbegutachtung beschlossen.

b) Einen besonderen Bearbeitungsaufwand hat die Eröffnungsentscheidung nach dem 2. April 2002 nicht erfordert.

Der Umfang des Verfahrens gegen den Angeklagten G., das die Staatsanwaltschaft T. zunächst unter dem Aktenzeichen 8004 Js 28476/00 geführt hatte, war gering. Die Akte hatte bei Anklageerhebung lediglich 119 Blätter umfasst. Von seinem Recht gemäß § 201 Abs. 1 StPO, innerhalb der gesetzten Frist Einwendungen gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens vorzubringen oder zuvor die Vornahme von Beweiserhebungen zu beantragen, hatte der Angeklagte keinen Gebrauch gemacht. An Beweismitteln waren im Wesentlichen nur eine Zeugenaussage und die Einlassung des jetzigen Mitangeklagten zu würdigen. Zudem hatte die Strafkammer zuvor bereits mit Erlass des Haftbefehls am 11. Januar 2002 dringenden Tatverdacht für die in der Anklageschrift aufgeführten Taten bejaht. Nach Abschluss der Ermittlungen beinhaltet der dringende Tatverdacht zugleich auch die Annahme eines hinreichenden Tatverdachts gemäß § 203 StPO. Damit hatte die Kammer zu diesem frühen Zeitpunkt auch schon die Voraussetzung für die Eröffnung des Hauptverfahrens festgestellt.

Aus der Tatsache, dass die Verfahren gegen beide Angeklagte zunächst getrennt geführt worden und nach Anklageerhebung vor der Eröffnungsentscheidung erst noch miteinander zu verbinden waren, hat sich kein zusätzlicher Bearbeitungsaufwand ergeben. In dem jetzt registermäßig führenden Verfahren gegen den Mitangeklagten Sch. hatte die Staatsanwaltschaft mit Anklageschrift vom 17. September 2001 bereits am 21. September 2001 Anklage zur Strafkammer erhoben. Der Verfahrensumfang war ebenfalls gering. Die Akte hatte bei Anklageerhebung 156 Blätter umfasst. Auch in diesem Verfahren hatte die Strafkammer anschließend am 19. Oktober 2001 auf Antrag der Staatsanwaltschaft einen im Tatvorwurf dem Anklagesatz entsprechenden Haftbefehl erlassen. Damit hatte zu diesem Zeitpunkt ebenfalls schon hinreichender Tatverdacht als Eröffnungsvoraussetzung festgestanden. Die Entscheidung, die Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung zu verbinden, hatte die Kammer im übrigen bereits am 25. Januar 2002 getroffen, so dass sich daraus kein Hinderungsgrund für eine Verfahrensfortführung in der Zeit vom 2. April bis 19. Juni 2002 ergeben konnte.

Auch in der zeitgleich mit der Eröffnungsentscheidung erfolgten Übernahme des Verfahrens 8002 Js 20767/00 4 Ls (mit den Verbundsachen 8002 Js 7644/01 und 22156/01) gegen den Mitangeklagten Sch. vom Amtsgericht und seiner Verbindung mit dem vorliegenden Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung ist keine Erklärung für die Bearbeitungslücke in dem genannten Zeitraum zu finden. Dieses Verfahren des Amtsgerichts wegen Körperverletzung, Bedrohung und räuberischer Erpressung ist von sehr geringem Umfang. Es hat der Strafkammer außerdem bereits seit dem 21. März 2002 vorgelegen. An diesem Tag hatte der Vorsitzende der Verteidigerin des Mitangeklagten gemäß § 225 a Abs. 2 StPO Gelegenheit zur Abgabe von Erklärungen binnen einer Frist von 10 Tagen eingeräumt, ohne dass diese davon Gebrauch gemacht hat. Damit kann sich ein verfahrenshemmender Mehraufwand nach dem 2. April 2002 aus der Verfahrensübernahme nicht ergeben haben.

c) Unzulässig wäre es, die Rechtfertigung für den eingetretenen Verfahrensstillstand in einem hypothetischen Verfahrensablauf zu suchen, etwa mit dem Hinweis auf eine angespannte Terminslage der Kammer, die ohnehin selbst bei zeitgerechter Eröffnungsentscheidung die Durchführung der Hauptverhandlung und den Erlass eines Urteils innerhalb der Sechsmonatsfrist des § 121 Abs. 1 StPO nicht zugelassen hätte (BVerfG NStZ 1995, 459). Das liefe auf eine Umgehung des wahren Hinderungsgrundes hinaus. Dieser läge dann nämlich in einer Terminsüberlastung der Kammer, die die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus nur unter bestimmten Voraussetzungen rechtfertigen kann (BVerfG a.a.0., 460; vgl. dazu ausführlich Senatsbeschluss vom 23. März 1998 (1) 4420 BL III 35/98 m.w.N.).

d) Ein Ausgleich der eingetretenen Bearbeitungslücke durch eine anschließend besonders beschleunigte Verfahrensfortführung hat nicht stattgefunden. Mit der Eröffnungsentscheidung hat der Vorsitzende Termin zur Hauptverhandlung vielmehr erst auf den 23. September 2002 bestimmt.

Der Haftbefehl gegen den Angeklagten G. muss nach alledem aufgehoben werden.

Ende der Entscheidung

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