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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 23.10.2001
Aktenzeichen: (1) Ausl. - III - 4/01 (1)
Rechtsgebiete: MRK, IRG


Vorschriften:

MRK Art. 3
IRG § 6 II
IRG § 15 II
IRG § 23
IRG § 26 I
IRG § 33 II
IRG § 73
Die Auslieferung ist nach Art. 3 MRK und § 73 IRG unzulässig, wenn begründete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass dem Verfolgten im ersuchten Staat die Gefahr droht, dort gefoltert oder in anderer Weise menschenrechtswidrig behandelt zu werden (vgl. auch BVerfG NStZ 2001, 100 f; EGMR NJW 1990, 2183 f
Geschäftsnummer: (1) Ausl. - III - 4/01

OBERLANDESGERICHT KOBLENZ

Beschluss

In der Auslieferungssache

gegen

wegen Anstiftung zum versuchten Mord

hier: Fortdauer der Auslieferungshaft und Anordnung des Auslieferungsaufschubs

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht von Tzschoppe, den Richter am Oberlandesgericht Völpel und die Richterin am Oberlandesgericht Hardt

am 23. Oktober 2001 beschlossen:

Tenor:

1. Der Senat tritt erneut in die Prüfung der Zulässigkeit der Auslieferung ein.

2. Der Aufschub der Auslieferung des Verfolgten an die Russische Föderation wird bis zur erneuten Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung angeordnet.

3. Die Fortdauer der Auslieferungshaft wird angeordnet.

4. Der Senat wird am 4. Dezember 2001 erneut über die Fortdauer der Auslieferungshaft entscheiden.

Gründe:

I.

Mit Beschluss vom 25. Juni 2001 hat der Senat gegen den Verfolgten Auslieferungshaft angeordnet, die seit seiner Festnahme am 31. Juli 2001 vollzogen wird. Durch Beschluss vom 24. August 2001 wurde die Auslieferung des Verfolgten an die Russische Föderation zum Zwecke der Strafverfolgung wegen der im Haftbefehl der Staatsanwaltschaft des N. Gebiets vom 7. Juni 2000 aufgeführten Tat für zulässig erklärt und die Fortdauer der Auslieferungshaft angeordnet.

Mit Schriftsatz seines Verfahrensbeistands vom 8. September 2001, eingegangen bei der Generalstaatsanwaltschaft am 11. September 2001, hat der Verfolgte gemäß § 23 IRG Einwendungen gegen den Auslieferungshaftbefehl und dessen Vollzug geltend gemacht und Aufhebung, hilfsweise Außervollzugsetzung, beantragt. Er macht unter Vorlage des Jahresberichts von Amnesty International für das Jahr 2000 geltend, die Auslieferung sei nach den Vorschriften des Art. 3 MRK i.V.m. § 73 IRG unzulässig, da begründete Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass ihm im ersuchten Staat die Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung drohe. Die Zustände in russischen Gefängnissen seien menschenunwürdig und es komme zu Übergriffen des Gefängnispersonals auf Gefangene durch Misshandlung und Folter. Außerdem bestehe ein Auslieferungsverbot gemäß § 6 Abs. 2 IRG, da ernstliche Gründe für die Annahme bestünden, dass er im Falle seiner Auslieferung seitens der Russische Föderation politischer Verfolgung ausgesetzt sei. Inzwischen habe er Klage auf Anerkennung als Asylberechtigter, hilfsweise auf Feststellung von Abschiebehindernissen, zum Verwaltungsgericht Trier erhoben.

Von dem Schriftsatz des Verfahrensbeistandes des Verfolgten vom 8. September 2001 hat der Senat erst am 22. Oktober 2001 durch Aktenvorlage seitens der Generalstaatsanwaltschaft, und zwar im Zusammenhang mit dem am 23. Oktober 2001 anstehenden Ablauf der Zweimonatsfrist des § 26 Abs. 1 IRG, Kenntnis erlangt. Dies, obwohl die Prüfung der in dem genannten Schriftsatz aufgeworfenen, äußerst komplexen Fragen erkennbar erhebliche Zeit in Anspruch nimmt und das Vorbringen des Verfolgten - bei korrekter Auslegung - auch als Gegenvorstellung gegen die Senatsentscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung vom 24. August 2001 hätte gewertet werden müssen, in deren erneute Prüfung der Senat bei rechtzeitiger - das kann hier nur heißen: unverzüglicher - Vorlage durch die Generalstaatsanwaltschaft bereits vor Wochen hätte eintreten können.

II.

1.

Nach der Entscheidung des Senats vom 24. August 2001 sind Umstände eingetreten, die möglicherweise geeignet sind, eine andere Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung zu begründen (§ 33 Abs. 1 IRG).

1.1

Die Auslieferung ist nach Art. 3 MRK und § 73 IRG unzulässig, wenn begründete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass dem Verfolgten im ersuchenden Staat die Gefahr droht, dort gefoltert oder in anderer Weise menschenrechtswidrig behandelt zu werden (vgl. BVerfG NStZ 2001, 100 f; Kammergericht vom 4. September 2000 und 22. Januar 2001 - (4) Ausl. A. 855/99 [158/99 -). Schon nach Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG zählt es zu den unabdingbaren Grundsätzen der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung, dass eine angedrohte oder verhängte Strafe nicht grausam, unmenschlich oder erniedrigend sein darf. Die zuständigen Organe der Bundesrepublik Deutschland sind deshalb gehindert, an der Auslieferung eines Verfolgten mitzuwirken, wenn dieser eine solche Strafe zu gewärtigen oder zu verbüßen hat (BVerfGE 75, 1, 16 f; BVerfG NStZ 2001, 101).

Der Senat nimmt das ihm jetzt zur Kenntnis gelangte Vorbringen des Verurteilten deshalb zum Anlass, inhaltlich in die Prüfung der Haftbedingungen in russischen Gefängnissen einzutreten.

Es sind nunmehr folgende Fragen zu klären:

1.1.1

In welcher Untersuchungshaftanstalt wird der Verurteilte nach seiner Auslieferung untergebracht werden ?

1.1.2

In welcher Justizvollzugsanstalt wird er im Falle seiner Verurteilung Strafhaft verbüßen ?

1.1.3

Entsprechen diese Anstalten der europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 ?

1.1.4

Im Falle der Verneinung von Punkt 1.1.3:

Gibt es überhaupt in der Russischen Föderation eine diesen Anforderungen genügende Haftanstalt ?

1.1.5

Dürfen deutsche Botschaftsangehörige nach Auslieferung auf Wunsch des Verfolgten bei ihm Haftbesuche durchführen ?

Der Senat überlässt es der Generalstaatsanwaltschaft Koblenz, die Klärung dieser Fragen herbeizuführen (vgl. auch KG a.a.O.).

1.2

Der Verfolgte beruft sich nunmehr auch auf ein Auslieferungsverbot gemäß § 6 Abs. 2 IRG, weil ihm in der Russischen Förderation politische Verfolgung drohe. Es ist deshalb erforderlich, die Unterlagen des inzwischen beim Verwaltungsgericht Trier anhängigen Asylanerkennungsverfahrens beizuziehen (vgl. Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 3. A., § 30 IRG Rdn. 25 m.w.N.), und zwar ebenfalls über die Generalstaatsanwaltschaft Koblenz.

2.

Gemäß § 33 Abs. 4 IRG ist der Aufschub der Auslieferung bis zur erneuten Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung anzuordnen. Nach vorläufiger Beurteilung kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Auslieferung aus den vom Verfolgten dargelegten Gründen unzulässig sein könnte (vgl. Schomburg/Lagodny a.a.O., § 33 IRG Rdn. 34 m.w.N.).

3.

Der gemäß § 33 IRG zulässige Antrag des Verfolgten auf Aufhebung der Anordnung der Auslieferungshaft hat in der Sache keinen Erfolg.

Da bisher keine hinreichenden Gründe für das Bestehen eines Auslieferungshindernisses gegeben sind und die Behauptungen des Verfolgten erst noch überprüft werden müssen, war gemäß § 26 Abs. 1 IRG Haftfortdauer anzuordnen. Ebenso wie die Anordnung der Auslieferungshaft bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen nur zu unterbleiben hat, wenn die Auslieferung von vornherein unzulässig erscheint (§ 15 Abs. 2 IRG), ist auch bei Anordnung der Fortdauer der Auslieferungshaft lediglich die Feststellung erforderlich, dass die Voraussetzungen für eine Auslieferung gegeben sein können (Schomburg/Lagodny a.a.O., § 15 IRG Rdn. 31 m.w.N.).

Es besteht nach wie vor der Haftgrund der Fluchtgefahr. Der Zweck der Auslieferungshaft kann auch nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen erreicht werden (§ 25 IRG i.V.m. § 116 Abs. 1 StPO). Der Verfolgte hatte sich der Strafverfolgung in seinem Heimatland durch Flucht entzogen. Ausgestattet mit einem gefälschten, auf "A. S." lautenden Reisepass hatte er sich bis zu seiner Festnahme in anderer Sache am 10. Februar 2001 illegal und ohne festen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten. Nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft am 22. Mai 2001 hat er zwar politisches Asyl beantragt, woraufhin er einer Aufnahmeeinrichtung in Trier zugewiesen wurde. Als er dort am Morgen des 30. Juli 2001 aufgrund des Auslieferungshaftbefehls vom 25. Juni 2001 festgenommen werden sollte, war er aber unauffindbar. Festgenommen wurde er am Folgetag in Koblenz. Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung der Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe ist trotz seiner Bindung an seine Lebensgefährtin zu befürchten, dass er sich der Auslieferung durch Flucht oder Untertauchen entziehen wird.

Derzeit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unter Berücksichtigung der Schwere des Tatvorwurfs und der Kürze der bisher erlittenen Auslieferungshaft gewahrt, zumal die seit dem Eingang des Haftaufhebungsantrags bei der Generalstaatsanwaltschaft (11. September 2001) verstrichene Zeit von dieser zur Anforderung einer Stellungnahme des Bundesministeriums der Justiz zu den Haftbedingungen der Russischen Föderation genutzt wurde, die bislang jedoch noch nicht vorliegt. Sollte die Aufklärung längere Zeit in Anspruch nehmen, wird die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit neu zu beurteilen sein.

Mit Rücksicht auf die Besonderheiten des vorliegenden Verfahrens und die durch Nichtvorlage der Gegenvorstellung vom 8. September 2001 verstrichene Zeit (s.o. I.) hat der Senat gemäß § 26 Abs. 1 S. 2 IRG angeordnet, dass die nächste Haftprüfung innerhalb einer kürzeren als der in § 26 Abs. 1 S. 1 genannten Frist vorgenommen wird.

Der Senat erwartet, dass ihm die Akten mindestens drei Arbeitstage vor dem 4. Dezember 2001 vorgelegt werden.

Ende der Entscheidung

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