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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 04.12.2000
Aktenzeichen: (2) 4420 BL - III - 97/00
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 121
StPO § 122
Leitsatz:

Wird der Haftbefehl nachträglich aufgrund in demselben Verfahren durchgeführten Ermittlungen erweitert, so ist bei der Berechnung der Frist des § 121 I StPO die bis zur Erweiterung des Haftbefehls verstrichene Zeit einzubeziehen (gegen OLG Koblenz - 1. Strafsenat - Beschlüsse vom 14.1.00 - (1) 4420 BL - III - 83/00 - und 25.9.1999 -(1) 4420 BL - III - 127/99 = StV 00, 629).


Geschäftsnummer: (2) 4420 BL - III - 97/00 2090 Js 39485/99 StA Koblenz

In der Strafsache

gegen

R. D.,

- Verteidiger: Rechtsanwalt R. -

wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz

hier: Entscheidung nach § 122 StPO

hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. Vonnahme sowie die Richter am Oberlandesgericht Mertens und Henrich

am 4. Dezember 2000 beschlossen:

Tenor:

1. Die Fortdauer der Untersuchungshaft wird angeordnet.

2. Der nächste Haftprüfungstermin vor dem Senat findet erforderlichenfalls am 2. März 2001 statt.

3. Bis zu diesem Zeitpunkt werden die weiteren Haftentscheidungen dem Gericht übertragen, das nach den allgemeinen Vorschriften dafür zuständig ist.

Gründe:

I.

Der Angeschuldigte befindet sich aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Koblenz vom 11. Mai 2000 in Untersuchungshaft. Dort werden ihm zwei Verbrechen des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zur Last gelegt. In der Anklage der Staatsanwaltschaft Koblenz vom 15. November 2000 werden ihm weitere 270 Fälle des gewerbsmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln vorgeworfen. Die weiteren Tatvorwürfe sind nach der Auswertung von Telefonüberwachungsprotokollen durch Vernehmung von Gesprächsteilnehmern des Angeschuldigten in der Zeit vom 13. Juli bis zum 31. Oktober 2000 ermittelt worden. Die 3. große Strafkammer des Landgerichts Koblenz hat den Haftbefehl des Amtsgerichts Koblenz durch Beschluss vom 28. November 2000 entsprechend den in der Anklageschrift erhobenen Vorwürfen erweitert.

II.

Eine Entscheidung des Senats nach §§ 121, 122 StPO hat ungeachtet der vorgenannten Erweiterung des Haftbefehls zu ergehen. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats ist nämlich im Falle der nachträglichen Erweiterung des Haftbefehls aufgrund in demselben Verfahren durchgeführter Ermittlungen bei der Berechnung der Frist des § 121 Abs. 1 StPO die bis zur Erweiterung des Haftbefehls verstrichene Zeit einzubeziehen (Beschluss vom 20. Oktober 2000 - (2) BL - III - 44/00). Hieran hält der Senat auch angesichts der gegenteiligen Rechtsprechung des 1. Strafsenats des Oberlandesgerichts Koblenz, zuletzt dargelegt im Beschluss vom 14. November 2000 ([1 4420 BL - III - 83/00), fest.

1.

Der Tatbegriff des § 121 StPO ist seit Einführung der Vorschrift umstritten. Schon Rebmann (NJW 1965, 1752, 1753) hatte auf die Probleme hingewiesen, die sich im Falle einer nachträglichen Erweiterung des Haftbefehls ergeben können, und die Auffassung vertreten, der Zweck der §§ 121, 122 StPO gebiete es, den Begriff "derselben Tat" in § 121 Abs. 1 StPO nicht nur auf die im Haftbefehl umrissenen geschichtlichen Vorgänge zu beziehen, sondern darüber hinausgreifend auf gewisse weitere Tatkomplexe des Ermittlungsverfahrens. Eb. Schmidt (NJW 1968, 2209, 2212), auf den sich der 1. Strafsenat unter anderem zur Stützung seiner Rechtsauffassung beruft, hatte dem allerdings widersprochen und die Ansicht vertreten, der erweiterte Haftbefehl sei ein neuer Haftbefehl, mit dessen Vollzug Untersuchungshaft "wegen derselben Tat" neu einsetze. Er hält es für äußerst zweifelhaft, "ob nicht jede einigermaßen mit dem (aller Klarheit baren) Gesetz verträgliche Vermeidung der Aktenvorlegung beim OLG und der hiermit stets verbundenen Verfahrens- und UHaftvollzugs-Verlängerung letzten Endes dem Grundgedanken des § 121 StPO (und dem Art. 5 III Satz 2 MRK) weit besser entspricht als die sich an den Wortlaut anklammernde Auslegung eines Gesetzes, dessen technische Mangelhaftigkeit noch bedeutend größer ist als seine rechtspolitische Verfehltheit". Es ist indes schon nicht nachvollziehbar, dass die Haftprüfung durch das Oberlandesgericht notwendigerweise zu einer Verfahrensverzögerung führt, da die Sache parallel hierzu weiter gefördert werden kann und muss (vgl. insoweit Nr. 54 Abs. 3, 56 RiStBV, Anlegung von Zweitakten). Im übrigen lässt diese Sichtweise außer Betracht, dass sich der Beschuldigte tatsächlich aufgrund der in den ursprünglichen Haftbefehl aufgenommenen Tat(en) und der neu hinzugekommenen Tat(en) in Untersuchungshaft befindet. Der Senat hält es mit dem Sinn und Zweck des Haftprüfungsverfahrens, den Anspruch des Beschuldigten auf beschleunigte Aburteilung zu sichern, schlichtweg für unvereinbar, die zunächst verbüßte Untersuchungshaft völlig unberücksichtigt zu lassen. Es steht außer Zweifel, dass die in dem ursprünglichen Haftbefehl erhobenen Vorwürfe Grundlage des gesamten Verfahrens und sämtlicher weiterer Ermittlungen sind. Folgte man der Rechtsprechung des 1. Strafsenats des Oberlandesgerichts Koblenz, könnte dies dazu führen, dass das Haftprüfungsverfahren nach den §§ 121, 122 StPO auf vielfältige Weise umgangen würde. So könnten etwa durch eine bewusst unvollständige Befragung eines Zeugen Vorwürfe zurückgehalten und für eine Haftbefehls-Erweiterung "aufgespart" werden. Außerdem hätte es ein Zeuge durch eine mehr oder weniger sorgfältige Anspannung seines Gedächtnisses in der Hand, ob bzw. wann ein Haftprüfungsverfahren durchzuführen ist. Sollte ihm einige Monate nach einer ersten Aussage einfallen, dass der Beschuldigte eine oder mehrere weitere Straftaten begangen hat, oder hielte er es, aus welchen Gründen auch immer, erst nachträglich für geboten, eine entsprechende Aussage zu machen, so führte dies im Falle der Erweiterung des Haftbefehls dazu, dass eine neue Sechs-Monats-Frist nach § 121 Abs. 1 StPO in Gang gesetzt würde. Im Extremfall kann dies dazu führen, dass ein Beschuldigter über ein Jahr Untersuchungshaft verbüßt, ohne dass ein Haftprüfungsverfahren durchgeführt wurde. Das macht das Verfahren (1) 4420 BL - III - 127/99 des 1. Strafsenats deutlich. Der dort Beschuldigte saß aufgrund eines Haftbefehls vom 20. April 1999 in Untersuchungshaft. Nachdem der Haftbefehl durch Beschluss vom 15. Oktober 1999 unter anderem aufgrund von Angaben einer in der Zeit vom 1. bis 20. Juni 1999 mehrfach vernommenen Zeugin erweitert worden war, lehnte der 1. Strafsenat durch Beschluss vom 25. Oktober 1999 die Durchführung eines Haftprüfungsverfahrens ab. Durch Beschluss vom 6. April 2000 lehnte es der 1. Strafsenat wiederum ab, ein Haftprüfungsverfahren durchzuführen, nachdem die gleiche Zeugin in einer richterlichen Vernehmung vom 20. März 2000 eine weitere Straftat des Beschuldigten geschildert hatte und der Haftbefehl am 4. April 2000 erneut erweitert worden war. Bereits Rebmann (a.a.O.) hat die Auffassung vertreten, es liege auf der Hand, "dass ein solches Verfahren in eklatantem Widerspruch zu den gesetzgeberischen Absichten stehen würde, die mit der neu eingeführten Sechsmonatsgrenze des § 121 StPO und dem neu eingeführten Prüfungsverfahren nach § 122 StPO verfolgt worden sind". Deshalb hält es der erkennende Senat für geboten, im Ansatz davon auszugehen, dass "dieselbe Tat" im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO das Gleiche wie "in demselben Verfahren" bedeutet (so bereits Beschluss vom 20. Oktober 2000 - (2) BL - III - 44/00; ebenso, teilweise auch weitergehend OLG Celle, NJW 1966, 1574; NJW 1969, 245; StV 1984, 340; StV 1989, 255; OLG Braunschweig, NJW 1976, 363; OLG Hamm, MDR 1977, 426; OLG Koblenz, OLGSt § 122 StPO S. 11 f.; OLG Stuttgart, StV 1983, 156; OLG Schleswig, StV 1983, 466; OLG Bremen, StV 1984, 340; KK-Boujong, StPO, 4. Aufl., § 121 StPO Rdnr. 10 m.w.N. sowie in jüngerer Zeit: OLG Thüringen, StV 1999, 329, 330, linke Spalte mittig: "Dieselbe Tat" bedeutet nach der jüngeren Rspr. und Kommentierung im Ansatz das Gleiche wie "in demselben Verfahren"; OLG Köln NStZ-RR 1998, 181 mit zustimmender Anmerkung Lange, NStZ 1998, 606).

2.

Der Hinweis des 1. Strafsenats, seine Rechtsansicht sei "seit Jahrzehnten" Rechtsprechung dieses Spruchkörpers, ist unzutreffend. Das Gegenteil ist richtig. Beide Senate des Oberlandesgerichts Koblenz haben bis in die jüngste Zeit in Fällen wie dem vorliegenden, in denen im Laufe der Ermittlungen weitere Vorwürfe bekannt wurden, stets ein Haftprüfungsverfahren unter Zugrundelegung der ursprünglich in Gang gesetzten Frist durchgeführt. Erstmals mit Beschluss vom 25. Oktober 1999 ist der 1. Strafsenat von dieser ständigen Praxis abgewichen. Der Hinweis im nachfolgenden Beschluss des 1. Senats vom 14. November 2000 auf die Entscheidungen des Oberlandesgerichts Koblenz vom 2. Juni 1982 (MDR 1982, 953) und 4. August 1977 (OLGSt § 122 S. 11) geht fehl. Im Beschluss vom 2. Juni 1982 hat der 1. Strafsenat ausgeführt:

"Der Angeklagte befindet sich zwar mehr als sechs Monate in U-Haft; deren Vollzug erfolgte jedoch nicht wegen derselben Tat, da er nacheinander wegen zweier völlig verschiedener Tatgeschehen ... in getrennten Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaften Frankfurt und Mainz aufgrund zweier verschiedener Haftbefehle in Haft genommen worden ist."

Im Beschluss vom 4. August 1977 hat der 2. Strafsenat (nicht der 1. Strafsenat) ausgeführt: "Der Begriff bedeutet vielmehr im Regelfalle das gleiche wie "in demselben Verfahren" (so OLG Celle NJW 1969, 246; vgl. auch OLG Köln OLGSt zu § 121 StPO S. 47).

3.

Der Tatbegriff bedarf jedoch, wie der 2. Senat im vorgenannten Beschluss vom 4. April 1977 ausgeführt hat, einer Relativierung dort, wo es gilt, der "Reservehaltung" von Tatvorwürfen vorzubeugen (vgl. KK-Boujong, StPO, 4. Aufl., § 121 Rdnr. 10 a.E.). Er ist deshalb in derartigen Fällen dahin zu erweitern, dass hierzu alle Taten eines Beschuldigten von dem Zeitpunkt an gehören, in dem sie als mit dringendem Tatverdacht bekannte Taten in einen erweiterten oder in einen neu erlassenen Haftbefehl hätten aufgenommen werden können. Dies hat auch der 2. Strafsenat in seinem Beschluss vom 2. März 1998 - (2) 4420 BL - 28/98 - deutlich gemacht. Die Behauptung des 1. Strafsenats, die Rechtsprechung des erkennenden Senats widerspreche den Entscheidungen der Oberlandesgerichte Celle, NStZ 1987, 571, 572, Frankfurt, StV 1990, 269, 270, Karlsruhe, Die Justiz 1984, 307, 308, Hamburg, StV 1989, 489, Brandenburg, StV 1997, 537, Zweibrücken, StV 1998, 556, 557, Bremen, StV 1998, 140, 141, Hamm, StV 1998, 555 und Karlsruhe StV 00, 513, trifft deshalb nicht zu. Diese Oberlandesgerichte haben auf der Grundlage des erweiterten Tatbegriffs ein Haftprüfungsverfahren durchgeführt (Celle, Frankfurt, Hamburg, Brandenburg, Zweibrücken, Bremen, Hamm, Karlsruhe, StV 00, 513) bzw. sonstige Entscheidungen getroffen, jedenfalls die Durchführung eines Haftprüfungsverfahrens auf der Grundlage des erweiterten Tatbegriffs nicht abgelehnt. Dem stimmt der Senat im Grundsatz zu, wobei offen bleiben mag, ob sämtlichen Entscheidungen für die jeweilige Einzelfallgestaltung zu folgen ist. Der Senat hält es aber nicht für vertretbar, den erweiterten Tatbegriff dazu zu verwenden, von der Durchführung eines Haftprüfungsverfahrens dann Abstand zu nehmen, wenn der Haftbefehl aufgrund in demselben Ermittlungsverfahren gewonnener Erkenntnisse erweitert wird. Der erweiterte Tatbegriff wurde entwickelt, um eine Umgehung der §§ 121, 122 StPO zu vereiteln. Durch eine Anwendung, wie sie der 1. Strafsenat praktiziert, würde er geradezu in sein Gegenteil verkehrt. Schmid (a.a.0., S. 2214) hat ausgeführt, es liege ihm völlig fern zu behaupten, dass seine Thesen im Sinne dessen, was dem Gesetzgeber im Hinblick auf § 121 StPO vorgeschwebt hat, unbedingt als die allein richtigen anzusehen seien, da das, was mit der Klausel "wegen derselben Tat" gemeint sei, im Stadium der Gesetzesvorbereitung nicht erkannt und den daran Beteiligten offenbar selbst nicht klar geworden sei. So sieht dies im Prinzip auch der Senat. Er hält seine Auffassung jedoch für diejenige, die dem Zweck der §§ 121, 122 StPO am Besten gerecht wird.

III.

In der Sache ist die Fortdauer der Untersuchungshaft anzuordnen.

Der dringende Tatverdacht hinsichtlich der dem Angeschuldigten in dem erweiterten Haftbefehl vom 28. November 2000 und der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Koblenz vom 15. November 2000 zur Last gelegten Straftaten beruht auf dem bisherigen Ermittlungsergebnis, wie es in der Anklageschrift dargelegt und gewürdigt worden ist. Der Angeschuldigte ist teilweise geständig und wird im Übrigen durch die von der Staatsanwaltschaft benannten Beweismittel im Sinne des Anklagevorwurfs belastet.

Es besteht weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Insoweit verweist der Senat auf die ausführliche Begründung in seinem Beschluss vom 20. Juli 2000 (2 Ws 452/00), durch den die weitere (Haft-)Beschwerde des Angeschuldigten gegen den Beschluss der 9. großen Strafkammer des Landgerichts Koblenz vom 23. Juni 2000 als unbegründet verworfen worden war. Die damals maßgeblichen Umstände haben sich inzwischen nicht zugunsten des Angeschuldigten verändert. Im Gegenteil, durch die weiteren Ermittlungen hat sich die Straferwartung noch wesentlich erhöht.

Ein Urteil in der Sache konnte bisher nicht ergehen. Dem standen der besondere Umfang und durch die besondere Schwierigkeit der Ermittlungen als wichtiger Grund (§ 121 Abs. 1 StPO) entgegen. Nach der Festnahme des Angeschuldigten musste zunächst das Ergebnis der Telefonüberwachung ausgewertet werden. Daran anschließend wurden in der Zeit vom 13. Juli bis zum 31. Oktober 2000 die hierdurch und die Angaben eines Verdeckten Ermittlers als Betäubungsmittelabnehmer des Angeschuldigten identifizierten Personen vernommen. Nach Abschluss der Vernehmungen und Eingang sämtlicher Vernehmungsprotokolle hat die Staatsanwaltschaft Koblenz unter dem 15. November 2000 Anklage zur 3. Strafkammer des Landgerichts Koblenz erhoben. Deren Vorsitzender hat am 17. November 2000 die Zustellung der Anklageschrift mit einer Stellungnahmefrist von drei Wochen verfügt.

Unter diesen Umständen ist die Fortdauer der Untersuchungshaft anzuordnen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bleibt angesichts der Schwere der Tatvorwürfe gewahrt.

Ende der Entscheidung

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