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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 02.12.2003
Aktenzeichen: 1 Ss 245/03
Rechtsgebiete: OWiG, StPO


Vorschriften:

OWiG § 74
OWiG § 77 b I 1
OWiG § 77 b I 3
OWiG § 77 b II
OWiG § 79 IV
StPO § 341 II
Beginnt die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde für den Betroffenen mit der Zustellung eines nicht mit Gründen versehenen Urteils, wenn das Urteil gemäß § 74 Abs. 1 StPO in seiner Abwesenheit ergangen ist und die Voraussetzungen des § 77 b Abs. 1 Satz 3 OWiG nicht vorliegen? (Vorlage an den BGH)
OBERLANDESGERICHT KOBLENZ BESCHLUSS

Geschäftsnummer: 1 Ss 245/03

2040 Js 12974/03. 3 OWi StA Koblenz

In der Bußgeldsache

gegen

wegen Geschwindigkeitsüberschreitung

hier: Antrag auf Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts

hat der 1. Strafsenat - Senat für Bußgeldsachen - des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht von Tzschoppe, den Richter am Oberlandesgericht Völpel und die Richterin am Oberlandesgericht Hardt am 2. Dezember 2003 beschlossen:

Tenor:

Die Sache wird dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung folgender Rechtsfrage vorgelegt:

Beginnt die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde für den Betroffenen mit der Zustellung eines nicht mit Gründen versehenen Urteils, wenn das Urteil gemäß § 74 Abs. 1 StPO in seiner Abwesenheit ergangen ist und die Voraussetzungen des § 77 b Abs. 1 Satz 3 OWiG nicht vorliegen?

Gründe:

I.

Das Amtsgericht Linz am Rhein hat den Betroffenen in der Hauptverhandlung am 27. Mai 2003 wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften zu einer Geldbuße von 400 € verurteilt und gegen ihn ein Fahrverbot von zwei Monaten angeordnet. An der Hauptverhandlung hat weder der Betroffene noch sein Verteidiger teilgenommen. Der Betroffene war durch Beschluss vom 31. März 2003 von seiner Pflicht zum persönlichen Erscheinen im Hauptverhandlungstermin gemäß § 73 Abs. 2 OWiG entbunden worden.

Das nicht mit Gründen versehene Urteil ist in die Sitzungsniederschrift aufgenommen worden. Sie ist am selben Tag durch den zugleich als Urkundsbeamten der Geschäftsstelle tätigen Richter unterzeichnet worden.

Am 27. Mai 2003 hat der Bußgeldrichter die Zustellung einer Ausfertigung dieses Urteils mit Rechtsmittelbelehrung an den Betroffenen gegen Zustellungsurkunde und an den Verteidiger, dessen Vollmacht zuvor nicht zur Akte gelangt war, gegen Empfangsbekenntnis angeordnet. Ferner hat er die Aktenvorlage an die Staatsanwaltschaft zwecks Zustellung des in die Sitzungsniederschrift aufgenommenen Urteils verfügt.

Die Urteilsausfertigung nebst Rechtsmittelbelehrung ist dem Betroffenen am 31. Mai 2003 im Wege der Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten seiner Wohnung zugestellt worden.

Am 3. Juni 2003 sind die Akten zur Staatsanwaltschaft gelangt. Sie sind am 5. Juni 2003 mit deren Rechtsmittelverzichtserklärung wieder beim Amtsgericht eingegangen.

Ob eine Urteilsausfertigung an den Verteidiger übersandt worden ist, steht nicht fest. Das Empfangsbekenntnis ist jedenfalls nicht zur Akte zurückgelangt. Mit Schriftsatz vom 25. Juni 2003 hat der Verteidiger allerdings die schriftliche Vollmacht unaufgefordert überreicht. Sie ist am 27. Juni 2003 erstmals zur Akte gelangt.

Nachdem die Staatsanwaltschaft mit Schreiben vom 25. Juni 2003 eine Kopie des in das Sitzungsprotokoll aufgenommenen Urteils an den Betroffenen und an seinen Verteidiger übermittelt hatte, hat der Betroffene mit an das Amtsgericht gerichtetem Telefax seines Verteidigers vom 1. Juli 2003 Rechtsbeschwerde eingelegt und Akteneinsicht beantragt.

Am 18. Juli 2003 hat der Verteidiger per Telefax darauf hingewiesen, dass das Urteil "bislang weder dem Betroffenen gemäß den §§ 46 OWiG, 232 Abs. 4 StPO, noch dem unterzeichnenden Verteidiger gemäß den §§ 55 Abs. 3 OWiG, 145 a StPO zugestellt worden" sei (Bl. 59 d.A.). Zugleich hat er die Rechtsbeschwerde "höchstvorsorglich" begründet und die Verletzung formellen und materiellen Rechts, insbesondere das Fehlen der Urteilsgründe und die Überschreitung der Urteilsabsetzungsfrist des § 275 Abs. 1 S. 2 StPO, gerügt.

Mit Beschluss vom 28. Juli 2003 hat das Amtsgericht die Rechtsbeschwerde wegen Versäumung der Einlegungsfrist als unzulässig verworfen. Die Zustellung an den Betroffenen ist am 1. August 2003 erfolgt.

Mit am 7. August 2003 beim Amtsgericht eingegangenen Schriftsatz des Verteidigers hat der Betroffene Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts beantragt. Zur Begründung hat er ausgeführt, die Rechtsbeschwerdeeinlegungsfrist beginne erst mit der Zustellung des mit Gründen versehenen Urteils an den Betroffenen bzw. seinen Verteidiger.

II.

Auf den gemäß §§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG, 346 Abs. 2 StPO statthaften und fristgerecht gestellten Antrag des Betroffenen beabsichtigt der Senat, den Beschluss des Amtsgerichts vom 28. Juli 2003 aufzuheben, weil die Rechtsbeschwerde nicht verspätet eingelegt worden ist. Die Einlegungsfrist hat nicht einmal zu laufen begonnen.

1.

Gemäß §§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG, 341 Abs. 1 StPO muss die Rechtsbeschwerde bei dem Gericht, dessen Urteil angefochten wird, binnen einer Woche nach Verkündung des Urteils zu Protokoll der Geschäftsstelle oder schriftlich eingelegt werden. Ist das Urteil - wie hier - in Abwesenheit des Beschwerdeführers verkündet worden, so beginnt für diesen die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde ebenso wie die Frist zur Stellung eines Wiedereinsetzungsantrags gegen das Urteil mit dessen Zustellung (§§ 79 Abs. 4, 74 Abs. 1 S. 1 OWiG).

Würde das an den Betroffenen zugestellte Urteil nicht die unten (2.) aufgezeigten Mängel aufweisen, wäre die Wochenfrist bei Eingang der Rechtsbeschwerde am 1. Juli 2003 abgelaufen gewesen:

Für die Form der Zustellung des gemäß § 74 Abs. 1 OWiG in Abwesenheit des Betroffenen ergangenen Urteils gelten die allgemeinen Vorschriften. Einschränkungen, wie sie § 232 Abs. 4 StPO für in Abwesenheit des Angeklagten ergangene Urteile vorsieht, bestehen nicht (Göhler, OWiG, 13. Auflage, § 74 Rdn. 42 m. zahlr. w. N.). Es ist dem Betroffenen deshalb am Samstag, dem 31. Mai 2003, in zulässiger Weise im Wege der Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten gemäß §§ 46 Abs. 1 OWiG, 37 Abs. 1 StPO, 180 ZPO zugestellt worden. Die Wochenfrist lief mithin - weil Montag, der 9. Juni 2003, ein gesetzlicher Feiertag war - am 10. Juni 2003 ab.

Auch die an den Verteidiger überflüssigerweise veranlasste Doppelzustellung kann zu keinem anderen Ergebnis führen. Es kann dahinstehen, ob und ggf. wann die an den Verteidiger gegen Empfangsbekenntnis veranlasste Zustellung diesen erreicht hat. Als der Bußgeldrichter die Zustellung verfügte, befand sich keine Verteidigervollmacht bei der Akte. An ihn konnte deshalb nach § 145 a Abs. 1 StPO nicht wirksam zugestellt werden. Allerdings ist anerkannt, dass die Zustellung an den Verteidiger wirksam ist, wenn die Vollmacht vor Ausführung der Zustellung zu den Akten gelangt (Meyer-Goßner, StPO, 46. Auflage, § 145 a Rdn. 8). Selbst wenn die Zustellung den Verteidiger erst nach Eingang der Vollmacht am 27. Juni 2003 erreicht hätte, bliebe die Zustellung unbeachtlich. Zwar ist bei mehreren wirksamen Zustellungen gemäß § 37 Abs. 3 StPO grundsätzlich nur die spätere maßgebend. War allerdings die durch die erste Zustellung eröffnete Frist bereits abgelaufen, so wird sie durch die Zustellung an einen weiteren Empfangsberechtigten selbst dann nicht wieder eröffnet, wenn die Zustellung noch vor Ablauf der Frist angeordnet war (BGHSt 22, 221; Meyer-Goßner a.a.O. § 37 Rdn. 29 m.w.N.).

Auch die möglicherweise fehlende Unterrichtung des Verteidigers nach § 145 a Abs. 3 StPO wäre auf den Fristenlauf grundsätzlich ohne Einfluss. Sie könnte allenfalls die - hier allerdings nicht beantragte - Wiedereinsetzung begründen (BGH NJW 1977, 640; Meyer-Goßner a.a.O. § 145 a Rdn. 14 m.w.N.).

2.

Nach Auffassung des Senats konnte die Zustellung des nicht mit Gründen versehenen Urteils an den Betroffenen die Rechtsbeschwerdeeinlegungsfrist jedoch nicht in Lauf setzen.

a) Wird ein Urteil in Abwesenheit des Anfechtungsberechtigten verkündet, beginnt die Rechtsmitteleinlegungsfrist für diesen im Allgemeinen nicht vor Zustellung des mit Gründen versehenen Urteils zu laufen. Nach § 341 Abs. 2 StPO wird die Revisionseinlegungsfrist, wenn die Verkündung des Urteils nicht in Anwesenheit des Angeklagten stattgefunden hat, für ihn erst mit der Zustellung des vollständigen Urteils in Lauf gesetzt (BGHSt 15, 263, 265; Meyer-Goßner a.a.O. § 341 Rdn. 11; Kuckein in KK-StPO, 4. Auflage, § 341 Rdn. 19; LR-Hanack, StPO, 25. Auflage, § 341 Rdn. 21). Gleiches gilt für die Berufungseinlegungsfrist (Meyer-Goßner a.a.O. § 314 Rdn. 8; Ruß in KK-StPO a.a.O. § 314 Rdn. 2; LR-Gössel a.a.O. § 314 Rdn. 36). Die Zustellung allein der Urteilsformel genügt deshalb nicht. Abweichendes hat im Strafverfahren gemäß § 401 Abs. 1 S. 3 StPO lediglich für den in der Hauptverhandlung nicht anwesenden oder vertretenen Nebenkläger und entsprechend für den Privatkläger Geltung (vgl. OLG Frankfurt NStZ-RR 1996, 43).

Auch im Bußgeldverfahren war vor Inkrafttreten des durch das OWiGStVÄndG vom 7. Juli 1986 eingefügten § 77 b OWiG anerkannt, dass die Zustellung des Urteilstenors nicht genügt, um die Rechtsbeschwerdeeinlegungsfrist für den Anfechtungsberechtigten, der nicht an der Hauptverhandlung teilgenommen hat, in Lauf zu setzen (OLG Koblenz VRS Bd. 64, 213 m.w.N.; Göhler, OWiG, 13. Auflage, § 74 Rdn. 42). Nach dieser durch das OWiGÄndG vom 26. Januar 1998 um Abs. 1 S. 3 erweiterten Bestimmung kann der Bußgeldrichter von jeglicher Begründung des Urteils absehen, wenn alle Anfechtungsberechtigten auf die Einlegung der Rechtsbeschwerde verzichten oder wenn innerhalb der Frist Rechtsbeschwerde nicht eingelegt wird (§ 77 b Abs. 1 S. 1 OWiG). Weil bei Abwesenheitsurteilen erst die Zustellung des schriftlichen Urteils die Einlegungsfrist in Lauf setzt, bliebe die Vorschrift bei Nichtteilnahme der Staatsanwaltschaft bzw. des Betroffenen ohne Anwendungsbereich, wenn nicht § 77 b Abs. 1 S. 2 und 3 OWiG die Verzichtserklärung der Anfechtungsberechtigten in bestimmten Fällen für entbehrlich erklären würden:

- die der Staatsanwaltschaft, wenn sie nicht an der Hauptverhandlung teilgenommen und auch vor der Hauptverhandlung keine schriftliche Begründung des Urteils beantragt hat (§ 77 b Abs. 1 S. 2 OWiG);

- die des Betroffenen, wenn er von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden, im Laufe der Hauptverhandlung von einem Verteidiger vertreten und im Urteil lediglich eine Geldbuße von nicht mehr als 250 € festgesetzt worden ist (§ 77 b Abs. 1 S. 3 OWiG).

Damit scheidet eine Anwendung der letztgenannten Bestimmung auf die zulassungsfreie Rechtsbeschwerde von vornherein aus.

In den Fällen des § 77 b Abs. 1 S. 2 und 3 OWiG setzt die Zustellung der Urteilsformel die Rechtsbeschwerdeeinlegungsfrist in Lauf (vgl. für die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft: BGHSt 44, 190, 192 f; BayObLGSt 1996, 61 ff = NStZ-RR 1997, 48 = JR 1996, 433 f. mit Anm. Göhler; für die Rechtsbeschwerde des Betroffenen: Senge in KK-OWiG, 2. Auflage, § 77 b Rdn. 9; Rebmann/Roth/Herrmann, OWiG, § 77 b Rdn. 5). Die Urteilsgründe können dann nach Einlegung der Rechtsbeschwerde ebenso in zulässiger Weise ergänzt werden wie im Falle der Gewährung von Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Frist für die Rechtsbeschwerde (§ 77 b Abs. 2 OWiG).

Die Voraussetzungen des § 77 b Abs. 2 OWiG, unter denen die Verzichtserklärung des Betroffenen entbehrlich ist, lagen hier aber nicht vor. Er war zwar vom Erscheinen entbunden, wurde in der Hauptverhandlung aber nicht von einem Verteidiger vertreten. Außerdem lagen die gegen ihn erkannte Geldbuße und das Fahrverbot jenseits der Rechtsfolgen, die bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen ein Absehen von Urteilsgründen gestattet hätten.

b) Der Bundesgerichtshof hat die Frage, ob die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde für den Betroffenen mit der Zustellung eines nicht mit Gründen versehenen Urteils beginnt, wenn das Urteil in seiner Abwesenheit ergangen ist und die Voraussetzungen des § 77 b Abs. 1 Satz 3 OWiG nicht gegeben sind, bisher nicht entschieden.

aa) Zwar hat er über den Wortlaut des § 77 b Abs. 2 OWiG hinaus eine Nachholung der Urteilsbegründung auch dann für zulässig erachtet, wenn das Gericht den vor der Hauptverhandlung gestellten Antrag der Staatsanwaltschaft auf eine schriftliche Begründung des Urteils übersehen hat (BGHSt 43, 22; s. auch Senge in KK-OWiG a.a.O. § 77 b Rdn. 12; Göhler a.a.O. § 77 b Rdn. 4; Rebmann/Roth/Herrmann a.a.O. § 77 b Rdn. 4). Für die Gleichbehandlung dieses Falles mit dem gesetzlich geregelten hat er entscheidend auf den Zweck des § 77 b Abs. 1 S. 2 HS 2 OWiG abgestellt. Durch den Antrag der Staatsanwaltschaft, das Urteil bereits vor der Einlegung eines Rechtsmittels schriftlich zu begründen, sollen die "Ressourcen" der Staatsanwaltschaft geschont werden, indem sie in die Lage versetzt wird, das Urteil zu prüfen, ohne an der Hauptverhandlung teilzunehmen oder vorsorglich Rechtsbeschwerde einlegen zu müssen. Die Vorschrift dient somit - wie § 77 b OWiG insgesamt - der Entlastung der Justiz. Das Gegenteil hiervon würde bewirkt, wenn beim Übersehen des Antrags der Staatsanwaltschaft eine in der Frist des § 275 Abs. 1 S. 2 StPO nachgeholte Urteilsbegründung als unzulässig angesehen würde und das Urteil insgesamt aufgehoben werden müsste. Es besteht auch kein sachlicher Grund dafür, dass ein Urteil mit Gründen ergänzt werden darf, falls die Staatsanwaltschaft ursprünglich keine Begründung beantragt hat, eine nachträgliche Begründung aber unzulässig wäre, wenn der Antrag bereits früher gestellt (und lediglich übersehen) worden war (BGH a.a.O.). Die vorgenannte Entscheidung des Bundesgerichtshofs enthält jedoch keine Ausführungen zur Rechtsbeschwerdeeinlegungsfrist.

bb) Daran anknüpfend hat er in einer Folgeentscheidung ausgeführt, dass nach § 77 b Abs. 2 OWiG, wenn die Staatsanwaltschaft an der Hauptverhandlung nicht teilgenommen hat, die Zustellung des Urteils ohne Gründe als Bekanntmachung an die Stelle der mündlichen Urteilsverkündung tritt und die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde in Lauf setzt (BGHSt 44, 190, 192 f). Wegen der ausdrücklichen Bezugnahme auf BGHSt 43, 22 (Übersehen des vor der Hauptverhandlung gestellten Antrags auf Urteilsbegründung) dürfte davon auszugehen sein, dass der Bundesgerichtshof die Zustellung des Urteils ohne Gründe an die Staatsanwaltschaft stets ausreichen lässt, um für sie die Frist zur Rechtsbeschwerdeeinlegung in Lauf zu setzen, wenn sie nicht an der Hauptverhandlung teilgenommen hat. Denn im Zeitpunkt der Zustellung sind der Staatsanwaltschaft die Gründe, weshalb ihrem zuvor gestellten Antrag auf Urteilsbegründung nicht entsprochen wurde, nicht bekannt.

cc) Aus den genannten, zu § 77 b OWiG ergangenen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs ergeben sich keine Hinweise gegen die vom Senat für die Rechtsbeschwerde des Betroffenen vertretene Auffassung. Insbesondere hat der Bundesgerichtshof die Frage, inwieweit eine nachträgliche Urteilsbegründung bei einer Rechtsbeschwerde des Betroffenen zulässig ist, ausdrücklich offen gelassen (vgl. BGHSt 43, 22, 25). BGHSt 44, 190 stellt ausschließlich auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft ab und stimmt der die Auffassung des vorlegenden Senats teilenden Entscheidung des BayObLG (a.a.O.) - wenn auch expressis verbis nur für die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft - zu. Auch BGHSt 42, 187, wonach die Rechtsbeschwerde nach § 79 Abs. 1 S. 2 OWiG nicht allein deshalb zuzulassen ist, weil das angefochtene Urteil keine Gründe enthält, geht auf die Problematik nicht ein. Dieser Entscheidung lag zwar ein gegen den Betroffenen ergangenes Abwesenheitsurteil zugrunde (vgl. KG NStZ 1995, 508 = NZV 1995, 242). Das ursprünglich ohne Gründe zugestellte Urteil wurde später jedoch ergänzt, so dass offen bleibt, ob der Bundesgerichtshof die Einlegungsfrist für den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde durch die Zustellung des Urteiltenors oder erst durch die spätere Zustellung des ergänzten Urteils als in Lauf gesetzt angesehen hat.

dd) Obwohl zahlreiche veröffentlichte und unveröffentlichte Entscheidungen der Oberlandesgerichte (vgl. z. B. BayObLG VRS Bd. 78, 464; OLG Frankfurt ZfS 1995, 277; KG NStZ 1995, 508 = NZV 1995, 242; OLG Koblenz, 2. Strafsenat, Beschlüsse vom 24. Juni 2002 - 2 Ss 128/02 - und vom 4. Februar 2003 - 2 Ss 280/02 - ; Senat, Beschluss vom 12. März 2003 - 1 Ss 79/03 -) belegen, dass es verbreiteter Praxis entspricht, dem in der Hauptverhandlung nicht anwesenden Betroffenen trotz Nichtvorliegens der Voraussetzungen des § 77 b Abs. 1 S. 3 OWiG nur ein Urteil ohne Gründe zuzustellen, hat dies - soweit ersichtlich - bis zur Entscheidung des Thüringer Oberlandesgerichts (NStZ-RR 2003, 273; s. dazu III.) nie die eindeutige Beantwortung der Frage erfordert, ob die Rechtsbeschwerdeeinlegungsfrist mit der Zustellung des unzulässig abgekürzten Urteils beginnt. In allen vorgenannten Verfahren ist binnen einer Woche nach Zustellung des Urteilstenors Rechtsbeschwerde eingelegt worden. Ebenso wie in dem BGHSt 42, 187 zugrunde liegenden Fall sind stets auch Urteilsgründe nachgeschoben worden, so dass spätestens deren Zustellung die Einlegungsfrist und daran anschließend die Begründungsfrist in Lauf gesetzt hat. Soweit der Beschluss des 2. Strafsenats des OLG Koblenz vom 4. Februar 2003 - 2 Ss 280/02 - die Aussage enthält, die Rechtsbeschwerdeeinlegungsfrist sei mit der Zustellung des nicht mit Gründen versehenen Urteils in Lauf gesetzt worden, war diese Erwägung nicht mit einer Begründung versehen.

c) Anders als bei der Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft kann - mit Ausnahme des in § 77 b Abs. 1 S. 3 OWiG geregelten Falles - die Zustellung des nicht mit Gründen versehenen Urteils für den in der Hauptverhandlung abwesenden Betroffenen die Rechtsbeschwerdeeinlegungsfrist nicht in Lauf setzen (BayObLG a.a.O.; Rebmann/Roth/Herrmann a.a.O. § 77 b Rdn. 3, 4 a; Senge in KK-OWiG a.a.O. § 77 b Rdn. 4, 9; Göhler JR 1996, 434). An seiner in der Einzelrichterentscheidung vom 12. März 2003 - 1 Ss 79/03 - vertretenen gegenteiligen Auffassung hält der Senat nicht fest. Zur Unterrichtung des Betroffenen, die bei seiner Anwesenheit in der Hauptverhandlung durch die Eröffnung der Urteilsgründe im Rahmen der mündlichen Urteilsverkündung nach §§ 46 Abs. 1 OWiG, 268 StPO erfolgt, ist die schriftliche Begründung hier unerlässlich (Senge in KK-OWiG a.a.O. Rdn. 4; vgl. a. BGHSt 15, 263, 265). Der Gesetzgeber hat mit dem OWiGÄndG 1998 nach einem Interessenausgleich zwischen dem Bedürfnis nach Entlastung der Justiz bei massenhaft vorkommenden Verfahren und der für eine sachgerechte Verteidigung unerlässlichen Information des Betroffenen gesucht. Nach seinem Willen wird die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde gegen ein in Abwesenheit des Betroffenen ergangenes Urteil für diesen durch Zustellung des nicht mit Gründen versehenen Urteils nur in Lauf gesetzt, wenn der Betroffene in der Hauptverhandlung durch einen Verteidiger vertreten war und im Urteil lediglich Geldbuße von nicht mehr als 250 € festgesetzt worden ist. Nur in diesem Fall ist es Sache des Betroffenen, sich durch seinen Verteidiger über die mündliche Urteilsbegründung unterrichten zu lassen und auf dieser Grundlage über die Einlegung eines Rechtsmittels zu entscheiden (BT-Drucks. 13/5418 S. 10; Senge in KK-OWiG a.a.O. Rdn. 9, Rebmann/Roth/Herrmann a.a.O. Rdn. 4a). Der Zugang zum Rechtsmittelgericht darf nämlich nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert oder mit einem Risiko belastet werden (vgl. BVerfG NJW 1991, 417; BVerfGE 54, 277, 292 f.; 74, 228, 234). Mit der Regelung des § 77 b Abs. 1 S.3 OWiG hat der Gesetzgeber den Rahmen dessen abgesteckt, was er unter Beachtung rechtsstaatlicher Grundsätze dem Bürger für zumutbar hält (vgl. BT Drucks. 13/5418 S. 1).

III.

Der Senat sieht sich an der beabsichtigten Entscheidung durch den Beschluss des Thüringer Oberlandesgerichts (NStZ-RR 2003, 273) gehindert.

1.

Dieses ist der Auffassung, dass die Zustellung eines unzulässig abgekürzten Abwesenheitsurteils für den Betroffenen die Rechtsbeschwerdeeinlegungsfrist und - mittelbar - die sich nach seiner Meinung daran anschließende Begründungsfrist in Gang setzt. Letztere beginne nur dann nicht eine Woche nach Zustellung des nicht mit Gründen versehenen Urteils, wenn seine Ergänzung nach dem Gesetz (noch) möglich sei. Nur auf diese Weise werde sichergestellt, dass der Eintritt der Rechtskraft nach Zustellung des Urteilstenors nicht zunächst in der Schwebe bliebe. Denn die Rechtskraft sei sonst davon abhängig, ob und wann der Richter die später zuzustellenden Gründe verfasse. Bei Nichtvorliegen der Voraussetzungen des § 77 b Abs. 1 S. 3 OWiG sei eine Nachholung der Begründung anders als in dem durch den Bundesgerichtshof (BGHSt 43, 22 ff) für die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft entschiedenen Fall nicht zulässig. Sie für rechtmäßig zu erachten, bedeute letztlich, den Grundsatz der Unzulässigkeit der nachträglichen Änderung eines Urteils, wenn es aus dem inneren Dienstbereich herausgegeben worden ist, im Ordnungswidrigkeitsverfahren gänzlich aufzugeben.

2.

Der vorlegende Senat vermag dem nicht beizutreten.

Nach der vom Senat vertretenen Auffassung kann eine wirksame Zustellung des Urteils erst erfolgen, wenn der Bußgeldrichter die schriftliche Begründung nachgeholt hat. Dadurch bleibt der Eintritt der Rechtskraft des Urteils aber nicht - wie vom Thüringer Oberlandesgericht angenommen - in der Schwebe. Denn auch nach Ablauf der Frist des § 275 Abs. 1 S. 2 StPO bleibt der Richter zur Absetzung des vollständigen Urteils verpflichtet. Die Urteilsabsetzungsfrist ist keine Ausschlussfrist, nach deren Ablauf nicht mehr begründet werden dürfte (BGHSt 44, 190, 193 f; Gollwitzer in LR, StPO, 24. Auflage, § 267 Rdn. 144 m.w.N.). Die Pflicht zur Absetzung besteht unabhängig davon, ob die Urteilsabsetzungsfrist eingehalten ist oder eingehalten werden kann (BGH a.a.O., Gollwitzer a.a.O. § 275 Rdn. 18; a.A. OLG Düsseldorf NStZ 2003, 97, 98).

Zwar ist die nachträgliche Anfertigung der zu Unrecht unterbliebenen Urteilsbegründung im Rechtsbeschwerde- ebenso wie im Revisionsverfahren unbeachtlich, wenn das nicht mit Gründen versehene Urteil - wie im hier zu entscheidenden und vom Thüringer Oberlandesgericht entschiedenen Fall - aus dem inneren Dienstbereich des Gerichts herausgegeben worden ist (vgl. BGHSt 33, 183, 185 f.; 42, 187, 188; 43, 22, 26; BGH bei Holtz MDR 1990, 490; OLG Koblenz VRS 70, 24; 2. Strafsenat, Beschlüsse vom 24. Juni 2002 - 2 Ss 128/02 - und vom 4. Februar 2003 - 2 Ss 280/02 - ; BayObLG VRS 78, 464; OLG Frankfurt ZfS 1995, 277; KG VRS 82, 135; NStZ 95, 508; DAR 2001, 228; Köln NZV 97, 371). Sie behält aber für die Entscheidung des Betroffenen, ob er Rechtsbeschwerde einlegen bzw. sein vor Fristbeginn eingelegtes Rechtsmittel aufrechterhalten will, ihren Sinn. Denn nur die Urteilsgründe geben dem in der Hauptverhandlung abwesenden Betroffenen Aufschluss, welche Tatsachen das Gericht festgestellt hat und welche tragenden Gründe der Überzeugungsbildung zugrunde liegen. Ohne ihre Kenntnis kann er nicht beurteilen, ob das Urteil trotz des formellen Rechtsfehlers in der Sache zutreffend ist und der Erfolg im Rechtsbeschwerdeverfahren deshalb nur vorläufiger Natur sein könnte, oder ob es weitere Rechtsverstöße enthält, die es sinnvoll erscheinen lassen, das - auch unter Berücksichtigung des § 8 Abs. 1 GKG - zumindest hinsichtlich der Verteidigergebühren bestehende Kostenrisiko einer erneuten Hauptverhandlung einzugehen.

3.

Die hier vertretene Auffassung ist auch geeignet, der oben (II.2.b) bereits erwähnten Praxis zahlreicher Bußgeldrichter entgegenzuwirken, dem in der Hauptverhandlung nicht anwesenden Betroffenen trotz Fehlens der Voraussetzungen des § 77 b Abs. 1 S. 3 OWiG zunächst nur ein nicht mit Gründen versehenes Urteil zuzustellen.

Diese Handhabung hat folgenden Hintergrund: Die Neufassung des § 73 OWiG durch das OWiGÄndG 1998 hat nicht die erhoffte Erleichterung gebracht. Während früher die Anordnung des persönlichen Erscheinens des Betroffenen zu zusätzlichen Rechtsbeschwerden geführt hat (vgl. Göhler a.a.O. § 73 Rdn. 1), war es fortan die Regelung § 73 Abs. 2 OWiG. Diese Vorschrift verpflichtet die Bußgeldrichter, den Betroffenen unter bestimmten Voraussetzungen von der nunmehr bestehenden Verpflichtung zum Erscheinen zu entbinden. Da diese Bestimmung nicht weniger Rechtbeschwerden als die alte Regelung verursacht hatte, wird sie inzwischen - unter Berücksichtigung der obergerichtlichen Rechtsprechung - von den Bußgeldrichtern großzügiger gehandhabt. Das aber führt zu mehr Abwesenheitsverfahren nach § 74 Abs. 1 OWiG, die - von den seltenen Ausnahmefällen des § 77 b Abs. 1 S. 3 OWiG abgesehen - als Kehrseite die Belastung mit vollständig abzusetzenden Urteilen mit sich bringen. Die vom Senat vertretene Rechtsauffassung gewährleistet, dass in Zukunft alle Bußgeldrichter ihrer gesetzlichen Verpflichtung nachkommen, Abwesenheitsurteile nach § 74 Abs. 1 OWiG von vornherein zu begründen, weil sie sonst nicht rechtskräftig werden können. Sie beseitigt auch die bei den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle auftretenden Zweifel, wann der Rechtskraftvermerk für ein solches Urteil zu erteilen ist.

Die verbreitete Handhabung der Bußgeldrichter führt im Übrigen nur scheinbar zu einer Entlastung der Justiz. Zwar wird ein Teil der Betroffenen die Zustellung des Urteilstenors zum Anlass nehmen, gegen das Urteil kein Rechtsmittel einzulegen. In diesen Fällen haben die Bußgeldrichter die Begründung des Urteils erspart. In den übrigen Fällen fertigen sie nachträglich Urteilsgründe, befassen mit diesen Entscheidungen die Bußgeldsenate, die das Urteil wegen ursprünglich fehlender Urteilsgründe aufheben und die Sache zurückverweisen, ohne dass eine sachliche Überprüfung des Urteils stattgefunden hätte. Sodann ist der Bußgeldrichter mit einer erneuten Hauptverhandlung und Urteilsabsetzung belastet. Im Falle erneuter Verurteilung besteht erst danach für die Betroffenen die Möglichkeit, das Urteil endlich sachlich überprüfen zu lassen.

IV.

Die Sache wird deshalb gemäß § 121 Abs. 2 GVG i.V.m. § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung der aus dem Tenor ersichtlichen Rechtsfrage vorgelegt.



Ende der Entscheidung

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