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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 07.12.2000
Aktenzeichen: 1 Ss 265/00
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 329 III
Leitsatz:

Beruft sich der Angeklagte auf den Entschuldigungsgrund der Erkrankung, so kann er auch dann, wenn die Krankheit als solche dem Berufungsgericht bekannt gewesen und als nicht zur Entschuldigung ausreichend gewürdigt worden ist, den Wiedereinsetzungsantrag zulässigerweise auf neue Tatsachen stützen, die geeignet sind, sein Befinden am Terminstag in einem anderen Licht erscheinen zu lassen.


Geschäftsnummer: 1 Ws 719/00/1 Ss 265/00 2101 Js 51296/96 - StA Koblenz

In der Strafsache

gegen

D. M.,

- Verteidiger: 1. Rechtsanwalt G. K., 2. Rechtsanwalt R. B. -

wegen Beleidigung

hier: Wiedereinsetzung gemäß § 329 Abs. 3 StPO

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht von Tzschoppe, den Richter am Oberlandesgericht Summa und den Richter am Landgericht Hardt

am 7. Dezember 2000 beschlossen:

Tenor:

1. Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss der 11. Strafkammer des Landgerichts Koblenz vom 19. Juli 2000 aufgehoben.

2. Dem Angeklagten wird auf seine Kosten (§ 473 Abs. 7 StPO) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Hauptverhandlung über seine Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts Koblenz vom 14. Juni 1998 gewährt.

3. Die Staatskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht hatte den Angeklagten (Beschwerdeführer) am 4. Juni 1998 wegen Verletzung der Unterhaltspflicht und Beleidigung in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt.

Dagegen legte er form- und fristgerecht Berufung ein.

Der Terminierung der Berufungshauptverhandlung stand bis Ende 1999 zunächst eine Erkrankung des Beschwerdeführers, dann eine Verhinderung des früheren Verteidigers entgegen. Im Termin vom 20. Dezember 1999 wurde die Hauptverhandlung "auf unbestimmte Zeit unterbrochen", weil der neue Verteidiger noch Beweismittel benennen wollte. Der auf den 17. April 2000 bestimmte Hauptverhandlungstermin wurde wegen einer Bandscheibenerkrankung des Beschwerdeführers aufgehoben.

Daraufhin bestimmte der Strafkammervorsitzende neuen Termin auf Montag, den 19. Juni 2000, 9.00 Uhr. Zu diesem Termin wurde der Angeklagte am 20. April 2000 ordnungsgemäß geladen.

Am Abend des 16. Juni 2000, einem Freitag, teilte der Beschwerdeführer per Fax mit, er werde dem Termin aus gesundheitlichen Gründen fernbleiben. Beigefügt war eine ärztliche Bescheinigung des Orthopäden Dr. med. W. vom selben Tage mit folgendem Wortlaut:

"Ich bescheinige, dass der oben Genannte sich weiterhin in meiner ambulanten Behandlung befindet. Es besteht eine außerordentlich hartnäckige luboischialgieforme Schmerzsymptomatik bei MRT-gesicherter Bandscheibenprotrusion L3/L4 und links dorsomedianer, nach caudal sequestrierender Nucleus pulposus-Situation BWK 11/12. Die zuletzt durchgeführte MRT-Untersuchung am 10.04.2000 hatte gegenüber Ausgangsbefunden keine radiomorphologische Verbesserung der Situation dokumentiert bei anhaltender Hypästhesie in den betroffenen Dermatomen des linken Beines und reflektorischer Steifstellung und Muskelverspannung.

Entgegen meinem Rat hat sich Herr M. am 15.05.2000 zu einer langstreckigen Autoreise entschlossen. Es kam, wie nicht anders zu erwarten, zu einer Verschlechterung der subjektiven und objektiven Situation, was ich bei einer Nachkontrolluntersuchung am 07.06.2000 objektiviert habe. Aufgrund der Erkrankungssituation besteht eine starke Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit. Ich rate weiterhin von Tätigkeiten, welche mit mehrstündigem Sitzen wie bei längeren Autofahrten oder Zugreisen notwendig, dringend ab, da mit solchem Tun Verschlechterungen der Gesundheitskonstellation provoziert werden.

Ich halte Herrn M. derzeit aufgrund der akuten Schmerzsituation für verhandlungsunfähig".

Die in dem Attest angesprochene Autoreise hatte der Wahrnehmung eines Hauptverhandlungstermins als Angeklagter in einem anderen Verfahren (2010 Js 31678/98 - StA Koblenz) gedient.

Am Morgen des 19. Juni 2000 rief der Vorsitzende den behandelnden Arzt an. Als Ergebnis der Unterredung hielt er in einem Vermerk unter anderem fest: Der Ausstellung des Attestes sei keine Untersuchung, sondern ein Telefonat mit dem Patienten vorausgegangen. Bei einer Bahnreise im Liegewagen sei eine Gefährdung der Gesundheit nicht zu erwarten. Die Frage nach einer möglichen Gefährdung bei einer "normalen" Zugreise habe der Arzt nicht beantwortet.

Mit Urteil vom 19. Juli 2000 verwarf die Strafkammer die Berufung des Beschwerdeführers gemäß § 329 Abs. 1 StPO und führte zur Begründung im Wesentlichen aus: Das Attest vom 16. Juni 2000 enthalte keine substantiierten medizinischen Aussagen, die in Bezug auf die Möglichkeit des Angeklagten, an einer Hauptverhandlung in Koblenz teilzunehmen, Rückschlüsse zuließen. Insbesondere würden die Folgen einer Reise von München nach Koblenz nicht konkret beschrieben. Auch auf Nachfrage habe der Arzt nur "eine Verschlechterung der gesundheitlichen Gesamtsituation und eine mögliche Verschlimmerung der Schmerzen" angegeben. Bereits deshalb sei die Unzumutbarkeit einer Anreise nach Koblenz und der Teilnahme an einer Hauptverhandlung nicht ersichtlich. Auch im Hinblick auf die Dauer des Verfahrens sei dem Angeklagten eine Anreise per Liegewagen zumutbar gewesen. Weiterhin hätte bei einer Anreise mit der Bahn auch ohne Liegewagen die Möglichkeit bestanden, negative Folgen mehrstündigen Sitzens durch Stehen oder Umhergehen zu vermeiden. Schließlich sei es dem Angeklagten auch zumutbar gewesen, in mehreren, seinem Gesundheitszustand entsprechenden Etappen anzureisen. Im Termin hätte durch Unterbrechungen und Pausen sowie die Möglichkeit des Aufstehens und Umhergehens und die Auswahl einer weniger belastenden Körperposition den negativen Folgen der Erkrankung des Angeklagten in zumutbarer und ausreichender Weise begegnet werden können.

Gegen dieses am 4. Juli 2000 zugestellte Urteil beantragte der Beschwerdeführer am 11. Juli 2000 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 329 Abs. 3 StPO.

Unter Bezugnahme auf eine eidesstattliche Erklärung des Dr. med. W. vom 11. Juli 2000 (Einzelheiten unter II) trug er vor, er sei am 19. Juni 2000 weder reise- noch verhandlungsfähig gewesen.

Mit Beschluss vom 19. Juli 2000, zugestellt am 4. August 2000, hat die Strafkammer den Wiedereinsetzungsantrag als unbegründet verworfen und zur Begründung ausgeführt: Die von dem Angeklagten im Antrag vom 11. Juli 2000 vorgebrachten Tatsachen seien bereits im Verwerfungsurteil als zur Entschuldigung nicht geeignet gewürdigt worden. Insoweit bleibe nur die Möglichkeit einer Überprüfung im Revisionsverfahren. Im Übrigen sei auch der neuen ärztlichen Stellungnahme nicht zu entnehmen, dass eine Anreise nach Koblenz sowie eine Teilnahme an der Hauptverhandlung unter den im Urteil vom 19. Juni 2000 dargestellten Bedingungen unzumutbar gewesen sei.

Dagegen wendet sich der Angeklagte mit der am 10. August 2000 bei Gericht eingegangenen sofortigen Beschwerde (§ 46 Abs. 3 StPO).

II.

Das Rechtsmittel ist begründet.

Die Strafkammer ist zwar zutreffend davon ausgegangen, dass der Wiedereinsetzungsantrag (§ 329 Abs. 3 StPO) nicht alleine auf Tatsachen gestützt werden kann, die das Berufungsgericht im Verwerfungsurteil als zur Entschuldigung nicht geeignet gewürdigt hat. Dem Antragsteller ist es aber nicht verwehrt, früheres Vorbringen im Zusammenhang mit neu vorgebrachten Tatsachen zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags zu verwenden. Beruft er sich auf den Entschuldigungsgrund der Erkrankung, so kann er auch dann, wenn die Krankheit als solche dem Gericht bekannt gewesen und als nicht zur Entschuldigung ausreichend gewürdigt worden ist, neue Tatsachen vortragen, die geeignet sind, sein Befinden am Terminstag in einem anderen Licht erscheinen zu lassen (OLG Düsseldorf VRS Bd. 90/96, 184).

Vorliegend hat der Beschwerdeführer im Wiedereinsetzungsverfahren - durch zulässige Bezugnahme auf die ärztliche Stellungnahme vom 11. Juli 2000 (OLG Düsseldorf VRS Bd. 90, 187) - folgende Tatsachen vorgetragen und glaubhaft gemacht, die der Strafkammer am 19. Juni 2000 noch nicht bekannt gewesen waren:

- Die durch zwei schwere Bandscheibenschäden verursachten Beschwerden (starke Schmerzen, Steifstellung der gesamten Wirbelsäule) hätten sich als Folge einer Autoreise nach Koblenz am 15. Mai 2000 bis zur nächsten Untersuchung am 7. Juni 2000 durch den im Mai in Urlaub befindlichen Arzt verschlimmert;

- aufgrund des am 7. Juni 2000 erhobenen Befundes habe Dr. med. W. zu einer Erhöhung der Medikation und strenger Bettruhe mit wechselweiser Stufenbett- und Flachlagerung der Beine geraten;

- bis zur nächsten Untersuchung am 21. Juni 2000 sei keine Besserung eingetreten. Eine stationäre Behandlung sei empfohlen worden;

- bei einer weiteren Untersuchung am 26. Juni 2000 habe der Arzt eine massive Verschlechterung mit neurologischen Symptomen in Höhe der Brustwirbel 10/11 sowie auf eine Nervenschädigung hinweisende Muskelzuckungen im linken Oberschenkel festgestellt und sofort die stationäre Behandlung in einer Spezialklinik in die Wege geleitet.

Bei dieser Sachlage ist das Ausbleiben des Angeklagten im Termin vom 19. Juni 2000 als entschuldigt anzusehen.

Infolge Krankheit genügend entschuldigt ist ein Angeklagter, wenn die Erkrankung nach ihrer Art oder ihren Wirkungen, insbesondere nach dem Umfang der von ihr ausgehenden körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen eine Teilnahme an der Hauptverhandlung unzumutbar erscheinen lässt (OLG Hamm NStZ-RR 98, 281). Auch chronische Krankheiten können ein Ausbleiben entschuldigen. Eine krankheitsbedingte Verhandlungsunfähigkeit ist nicht erforderlich (OLG Düsseldorf StV 94, 364).

Entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft beschrieb Dr. med. W. nicht nur Krankheitsbilder, die am 21. und 26. Juni 2000 vorgelegen hatten, sondern die sich verschlimmernde Symptomatik seit längerem bestehender schwerer Bandscheibenschäden, welche bereits Grund für die Aufhebung des auf den 17. April 2000 bestimmten Hauptverhandlungstermins gewesen waren. Seinen Ausführungen ist zu entnehmen, dass der Befund, der am 7. Juni 2000 zu dem ärztlichen Rat der Einhaltung strenger Bettruhe geführt hatte, auch am 21. Juni 2000 noch gültig war. Folglich gibt es keine Anhaltspunkte für die Annahme, dem Beschwerdeführer sei es an den für die Anreise nach Koblenz zur Verfügung stehenden Tagen vor dem 19. Juni 2000 besser gegangen.

Einem Angeklagten, der infolge schwerer Bandscheibenschäden unter starken Schmerzen leidet und dem ein Arzt deshalb Bettruhe verordnet hat, sind die Anreise zu einem weit entfernten Gerichtsort und die Teilnahme an einer voraussichtlich ganztägigen Hauptverhandlung auch dann nicht zuzumuten, wenn das Verfahren, wiederum bedingt durch die Erkrankung des Angeklagten, schon länger andauert.

Hinzu kommt, dass Dr. med. W. den Beschwerdeführer am 16. Juni 2000 "aufgrund der akuten Schmerzsituation für verhandlungsunfähig" gehalten hatte. Ein Angeklagter kann in einem solchen Fall grundsätzlich darauf vertrauen, dass ein ärztliches Attest eine genügende Entschuldigung darstellt und die Berufung trotz seines Fernbleibens nicht verworfen wird (OLG Düsseldorf StV 85, 316; OLG Hamm StV 93, 7).

Etwas anderes gilt allerdings, wenn das Attest durch Täuschung des Arztes erschlichen wurde. Dafür könnte vorliegend sprechen, dass die ärztliche Bescheinigung vom 16. Juni 2000, obwohl die Erkrankung schon seit längerem bestand, erst am letzten Arbeitstag vor der für den darauffolgenden Montag vorgesehenen Hauptverhandlung nur aufgrund eines Telefonats zwischen Arzt und Patient erstellt worden ist. Angesichts der im Wiedereinsetzungsverfahren glaubhaft gemachten neuen Tatsachen, insbesondere der Untersuchungsergebnisse vom 21. und 26. Juni 2000, erscheint dies aber unwahrscheinlich.

Dem Beschwerdeführer ist somit Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung zu gewähren. Das Urteil der Strafkammer vom 19. Juni 2000 und die dagegen gerichtete Revision des Angeklagten werden durch die vorliegende Entscheidung gegenstandslos.

Ende der Entscheidung

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