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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 27.11.2003
Aktenzeichen: 1 Ss 315/03
Rechtsgebiete: OWiG


Vorschriften:

OWiG § 73 II
1. Liegen die Voraussetzungen der Entbindung von der Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung vor, hat das Amtsgericht dem Antrag des Betroffenen zu entsprechen. Ein Ermessen steht ihm nicht zu.

2. Erklärt der Betroffene, er werde von seinem Schweigerecht Gebrauch machen, kann sein Entpflichtungsantrages kann nicht mit der Begründung abgelehnt werden, er werde sich dies in der Hauptverhandlung vielleicht anders überlegen.


Geschäftsnummer: 1 Ss 315/03 2040 Js 34823/03 StA Koblenz

In der Bußgeldsache

wegen Geschwindigkeitsüberschreitung hier: Rechtsbeschwerde des Betroffenen

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht von Tzschoppe, den Richter am Oberlandesgericht Summa und die Richterin am Oberlandesgericht Hardt

am 27. November 2003 beschlossen:

Tenor:

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Bad Neuenahr-Ahrweiler vom 9. September 2003 aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Rechtsmittelkosten, an dieselbe Abteilung dieses Gerichts zurückverwiesen.

Gründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte sowie begründete Rechtsbeschwerde des Betroffenen richtet sich gegen das Urteil des Amtsgerichts Bad Neuenahr-Ahrweiler vom 9. September 2003, durch das sein Einspruch gegen den Bußgeldbescheid der Kreisverwaltung Bad Neuenahr-Ahrweiler vom 24. April 2003 (Bußgeld von 100 € und 1 Monat Fahrverbot wegen Überschreitung der außerörtlichen Höchstgeschwindigkeit um 41 km/h) gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen wurde.

Das Rechtsmittel hat mit der den Anforderungen der §§ 79 Abs. 3 OWiG, 344 Abs. 2 S. 2 StPO genügenden Verfahrensrüge, mit der die fehlerhafte Anwendung der §§ 73 Abs. 2, 74 Abs. 2 OWiG geltend gemacht wird, Erfolg.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat im Aufhebungsantrag vom 21. November 2003 ausgeführt:

"Es liegt ein Verstoß gegen § 74 OWiG vor.

Nach den in der Rechtsmittelbegründung dargelegten Tatsachen, die das Oberlandesgericht im Rechtsbeschwerdeverfahren zu überprüfen hat (Anm. des Senats: und nach Aktenlage zutreffend wiedergegeben wurden), hat das Gericht den Einspruch des Betroffenen zu Unrecht § 74 Abs. 2 StPO verworfen, da es den Betroffenen zu Unrecht nicht vom Erscheinen in der Hauptverhandlung gemäß § 73 Abs. 2 OWiG entbunden hatte.

Gemäß § 73 Abs. 2 OWiG entbindet das Gericht den Betroffenen auf seinen Antrag von der Verpflichtung zum Erscheinen nach § 73 Abs. 1 OWiG, wenn er sich zur Sache geäußert oder erklärt hat, dass er sich in der Hauptverhandlung nicht zur Sache äußern werde und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtpunkte des Sachverhalts nicht erforderlich ist. Diese Voraussetzungen waren vorliegend erkennbar gegeben, nachdem der Betroffene mit Schreiben vom 25. August 2003 (Bl. 58 d.A.) durch seinen Verteidiger hatte mitteilen lassen, er habe das im Bußgeldbescheid genannte Fahrzeug zur Tatzeit geführt; darüber hinaus mache er von seinem Schweigerecht Gebrauch. Zugleich beantragte er die Entbindung von der Pflicht zum Erscheinen gemäß § 73 Abs. 2 OWiG.

Da sämtliche Voraussetzungen der Entbindung von der Pflicht zum Erscheinen gegeben waren, hätte das Amtsgericht dem Antrag des Betroffenen entsprechen müssen, da ihm insoweit ein Ermessen nicht zusteht (Göhler OWiG, 13. Aufl. Rz. 9 zu § 79, OLG Celle, Beschluss v. 08.06.2000 322 Ss 71/00 <OWi> in: www.jurisweb.de). Dennoch wies das Gericht mit Beschluss vom 1. September 2003 (Bl. 70 ff. d. A.) den Entbindungsantrag des Betroffenen zurück. Soweit das Gericht in dem Beschluss darauf abstellt, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Betroffene, nachdem er sich im Vorverfahren bereits teilweise eingelassen habe, auch bei Rückfragen hinsichtlich der weiteren Tatbegehung durch Angaben zur Sache zur Aufklärung des Sachverhaltes beitragen werde, handelt es sich um eine Spekulation. Von der bloßen Anwesenheit des nicht aussagebereiten Betroffenen in der Hauptverhandlung ist keine weitere Aufklärung zum Schuldspruch zu erwarten. Auch die Erwägung des Gerichts, bezüglich der Frage, ob ausnahmsweise von der Anordnung eines Fahrverbotes abgesehen werden könne, sei eine Entscheidung nicht möglich, wenn der Betroffene nicht an der Hauptverhandlung teilnehme, vermag die Pflicht zur Anwesenheit des Betroffenen nicht zu begründen. Zum einen kommt es für die Entscheidung dieser Frage grundsätzlich nicht auf den persönlichen Eindruck von dem Betroffenen in der Hauptverhandlung an (OLG Stuttgart, Beschluss v. 14.01.2003 - 4 Ss 566/02 in: www.jurisweb.de). Zum anderen stellt sich für das Gericht das Problem in gleicher Weise, wenn der Betroffene in der Hauptverhandlung zwar anwesend ist, aber von dem Recht, keine Angaben zur Sache und zur Person zu machen, Gebrauch macht. Da mit seiner Anwesenheit mithin nichts gewonnen ist, hätte er auf seinen Antrag von der Verpflichtung zum Erscheinen entbunden werden müssen.

Die Vermutung, der Betroffene könne - entgegen seiner Mitteilung - doch bereit sein, sich in einer Hauptverhandlung zu seinen persönlichen Verhältnissen, insbesondere zur ausgeübten Tätigkeit oder zu Eintragungen im Verkehrszentralregister äußern, wird i.Ü. durch das ausweislich des Protokolls der Sitzung vom 9. September 2003 (Bl. 84 d.A.) in der Hauptverhandlung verlesene Schreiben des Verteidigers vom 25. August 2003 (Bl. 80 d.A.) widerlegt. Mit diesem Schreiben hatte der Betroffene mitteilen lassen, dass er auch in Kenntnis des Beschlusses vom 1. September 2003 von seinem Schweigerecht Gebrauch mache.

Bei dieser Sachlage durfte das Gericht den Einspruch des Betroffenen nicht gemäß § 74 Abs. 2 StPO verwerfen. Da das Urteil auf diesem Verfahrensfehler beruht und bereits wegen dieses Verstoßes der Aufhebung unterliegt, kommt es nicht darauf an, ob auch der Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzt ist. Ebenso ist eine Prüfung der vom Betroffenen erhobenen Rüge der Verletzung materiellen Rechts entbehrlich.

Diese in Einklang mit der nahezu einhelligen Rechtsprechung aller Oberlandesgerichte (zahlreiche Nachweise in www.jurisweb.de unter Suchbegriff "OWiG § 73") stehenden Ausführungen sind zutreffend. Die gegenteilige Auffassung des hiesigen 2. Strafsenats (Beschl. v. 31.5.01 - 2Ss 152/01, ZfS[ch 01, 476 mit Anm. Bode: "nicht mit der obergerichtlichen Rechtsprechung zu vereinbaren") teilt der erkennende Senat nicht.

Ergänzend ist auf folgendes hinzuweisen:

Die Auffassung des Tatrichters, eine Entscheidung über die (Nicht-)Verhängung eines Fahrverbots könne ohne Informationen durch den Betroffenen nicht getroffenen werden, ist nicht nachvollziehbar. Die BKatV sieht für das angelastete Fehlverhalten als Regelsanktion (siehe dazu BGHSt 38, 125 ff.; 232 ff.) ein einmonatiges Fahrverbot vor. Von dessen Verhängung kann ausnahmsweise absehen werden, wenn dies wegen Besonderheiten des Einzelfalls zur Vermeidung eines Verstoßes gegen das Übermaßverbot (BVerfG NJW 96, 1809) geboten erscheint. In sehr seltenen Fällen kann sich eine erhebliche Abweichung vom Regelfall zugunsten des Betroffenen aus dem objektiven Tatgeschehen ergeben (wobei Umstände wie geringe Verkehrsdichte zur Tatzeit oder fehlende konkrete Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer unerheblich sind). Ansonsten ist das Tatgericht nur gehalten, entsprechende Ermittlungen anzustellen und Feststellungen zu treffen, wenn die Einlassung des Betroffenen hierfür einen erkennbaren Anlass bietet (BGHSt 43, 241). Entschließt sich ein - hier sogar anwaltlich beratener - Betroffener, von dem ihm zustehenden Schweigerecht Gebrauch zu machen, so mag dies auch zur Folge haben, dass entlastende Umstände, die nur er kennt, dem Gericht verborgen bleiben. Dies würde dann aber auf seiner freien Entscheidung beruhen, was das Gericht hinzunehmen hat und keinesfalls der Verhängung der Regelsanktion entgegenstünde.

Soweit der Tatrichter im Beschluss vom 1. September 2003 straßenverkehrsrechtliche Vorbelastungen erwähnt, ist anzumerken, dass deren prozessordnungsgemäße Feststellung (mit Tatzeit, Datum und insbesondere Rechtskraft der Entscheidung) und Berücksichtigung bei der Rechtsfolgenbemessung die Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung nicht erfordern.

Weil der Betroffene in Harrislee (bei Flensburg) wohnt, jedoch für ein Unternehmen tätig ist, das seinen Sitz im Elsaß und eine Zweigstelle in Oppau (bei Offenburg) hat, ist die Annahme nicht fernliegend, dass er regelmäßig Nord-Süd-Verbindungen, darunter auch die A 61, benutzt und die Geschwindigkeitsbeschränkungen kennt. Sollte der Tatrichter eine Verurteilung wegen vorsätzlicher Geschwindigkeitsüberschreitung in Erwägung ziehen, wäre es für den Fall, dass der Betroffene erneut einen Antrag nach § 73 Abs. 2 OWiG stellen und diesem stattgegeben werden sollte, zweckmäßig (KK-Senge, OWiG, 2. Aufl., § 74 Rdn. 16), den notwendigen rechtlichen Hinweis vor der Hauptverhandlung schriftlich zu erteilen.

Ende der Entscheidung

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