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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 10.04.2001
Aktenzeichen: 1 Ss 55/01
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 59
StPO § 60
StPO § 353
StPO § 61 Nr. 3
StPO § 354 Abs. 2
StPO § 244 Abs. 2
StPO § 244 Abs. 4 Satz 2
StPO § 244 Abs. 4 Satz 2 1. Halbsatz
StPO § 244 Abs. 4 Satz 2 2. Halbsatz
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Geschäftsnummer: 1 Ss 55/01

OBERLANDESGERICHT KOBLENZ BESCHLUSS

In der Strafsache

wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht von Tzschoppe, den Richter am Oberlandesgericht Völpel und die Richterin am Landgericht Schmitz

am 10. April 2001 beschlossen:

Tenor:

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der 6. kleinen Strafkammer des Landgerichts Koblenz vom 5. Oktober 2000 mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Koblenz zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Dem Angeklagten wird durch die zugelassene Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Koblenz vom 28. Oktober 1999 zur Last gelegt, an einem datumsmäßig nicht mehr bestimmbaren Tag in den Sommerferien 1993 in W sexuelle Handlungen an der damals 10-jährigen Nebenklägerin A E vorgenommen und an sich von dem Kind vornehmen gelassen zu haben. Das Amtsgericht hat den Angeklagten mit Urteil vom 23. Februar 2000 freigesprochen. Gegen dieses Urteil legte die Staatsanwaltschaft fristgerecht Berufung ein. Die Strafkammer hat in der Hauptverhandlung vom 5. Oktober 2000 das Urteil des Amtsgerichts aufgehoben und den Angeklagten - gestützt auf die Angaben der Nebenklägerin - wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist.

Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit der form- und fristgerecht eingelegten Revision. Er rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

II.

Das zulässige und ordnungsgemäß begründete (§ 344 Abs. 2 StPO) Rechtsmittel hat in der Sache einen zumindest vorläufigen Erfolg.

1.

Die Rüge der Verletzung des Vereidigungsgebots des § 59 StPO greift allerdings nicht. Die auf vermeintliche Eidesunmündigkeit (die Annahme von Eidesunfähigkeit scheidet aus, da es hier einer über das Zitat der Gesetzesvorschrift hinausgehenden Begründung bedurft hätte) gestützte Entscheidung des Vorsitzenden der Kammer über die Nichtvereidigung der 16-jährigen Zeugin S war fehlerhaft. Dies kann jedoch nach allgemeiner Ansicht, welcher der Senat folgt, nur dann erfolgreich gerügt werden, wenn darüber von Amts wegen oder auf Beanstandung der Vorabentscheidung des Vorsitzenden das Gericht entschieden hatte (Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Aufl. 1999 § 60 Rdnr. 31; Karlsruher Kommentar/Senge, 4. Aufl. 1999, § 59 Rdnr. 14 und § 60 Rdnr. 37; Löwe-Rosenberg/Dahs, 25. Aufl. 1999, § 60 Rdnr. 58; BGHSt 1, 322, 325 ff; BGHR StPO § 60 Nr. 2 Rügevoraussetzungen 1 und § 59 Satz 1 Entscheidung, fehlende 2). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ergibt sich im Anwendungsbereich des § 60 StPO nur dann, wenn gar keine Entscheidung über die Vereidigung ergangen ist (BGHR StPO § 59 Satz 1, Entscheidung, fehlende 2; BGH NStZ 1987, 374; BGH NStZ 1981, 71 und BGH StV 92, 146; Kleinknecht, a.a.O. § 59 Rdnr. 11, Karlsruher Kommentar/Tolksdorf § 238 Rdnr. 18). Die von der Revision angeführte Entscheidung des BGH (BGHSt 7, 281, 282) betrifft das Absehen von Vereidigung gemäß § 61 Nr. 3 StPO, mithin eine andere Fallgestaltung.

2.

Zu Recht rügt die Revision allerdings die Verletzung des § 244 Abs. 4 Satz 2 StPO.

Die Verteidigung hat in der Hauptverhandlung vom 5. Oktober 2000 einen Hilfsbeweisantrag gestellt für den Fall, dass das Gericht die Angaben der Nebenklägerin für glaubhaft hält. Beantragt wurde die Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens über die Glaubwürdigkeit der Zeugin E zum Beweis der Tatsache, dass sie an einer krankheitsbedingten Symptomatik leidet, die es ihr unmöglich macht, zwischen Fiktion, gegebenenfalls Autosuggestion und tatsächlich Erlebtem zu unterscheiden. Zur Begründung des Antrags wurden die von der psychologischen Sachverständigen G festgestellten Verhaltensauffälligkeiten der Nebenklägerin, insbesondere deren zahlreiche Suizidversuche, aufgezeigt. Diese lassen nach Ansicht der Revision auf eine hochneurotische Persönlichkeit der Nebenklägerin schließen und rechtfertigen die Diagnose, sie leide am sogenanntem Borderline-Syndrom.

Die Ablehnung dieses Hilfsbeweisantrags war fehlerhaft.

a) Gemäß § 244 Abs. 4 Satz 2 1. Halbsatz StPO kann die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens abgelehnt werden, wenn durch das frühere Gutachten das Gegenteil der behaupteten Tatsache bereits erwiesen ist. Das psychiatrische Sachverständigengutachten hat die Strafkammer zutreffend als "weiteres Gutachten" im Sinne dieser Vorschrift gewertet, obgleich das frühere Gutachten von einer Psychologin stammt. In Bereichen der Kompentenzüberschneidung kann weiterer Sachverständiger ausnahmsweise auch der Angehörige einer anderen Fachrichtung sein (Kleinknecht a.a.O. § 244 Rdnr. 75; Karlsruher Kommentar/Herdegen, § 244 Rdnr. 98, BGHSt 34, 355, 357; SK/Schüchter, § 244 Rdnr. 136).

Die Kammer hat den Hilfsbeweisantrag jedoch mit unzulässiger Begründung abgelehnt, denn sie hat sich dabei nicht auf die Ergebnisse des Gutachtens der Sachverständigen G beschränkt. Die Ablehnung darf nicht auf andere Beweismittel oder eine Gesamtwürdigung aller Beweismittel gestützt werden (Kleinknecht, a.a.O., § 244 Rdnr. 75; Karlsruher Kommentar/Herdegen, § 244 Rdnr. 99; SK/Schlüchter, § 244 Rdnr. 137; BGHSt 39, 49, 52). Das Urteil behandelt den Hilfsbeweisantrag jedoch wie folgt:

"... Die Kammer ist auf der Grundlage der Feststellungen der Sachverständigen G von der zutreffenden Wiedergabe des Vorfalls im Sommer 1993 durch die Nebenklägerin überzeugt. Die Sachverständige G geht in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen Prof. Dr. S von einer neurotischen Persönlichkeitsstruktur der Nebenklägerin aus. Für eine geistige Erkrankung der Nebenklägerin gibt es keine Anhaltspunkte. Eine solche ist weder von dem vorgenannten Sachverständigen in Betracht gezogen noch von dem Zeugen Dr. B diagnostiziert worden. Unter diesen Umständen ist die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens nicht erforderlich. Auch der auf Ladung des Angeklagten erschienene Sachverständige Prof. Dr. S , dessen Aufgabe allein die Überprüfung der Sachkunde und Richtigkeit der Feststellung der gerichtlichen Sachverständigen G gewesen ist, hat keine Anhaltspunkte dafür gefunden, dass die Sachkunde der "psychologischen" Sachverständigen G unzureichend wäre oder ein Psychiater in diesem Fall über überlegene Forschungsmittel verfüge."

Das Gericht hat seine Überzeugung somit nicht nur auf die Angaben der Sachverständigen G gestützt, sondern auch auf die Bekundungen des Sachverständigen Prof. Dr. S sowie des Zeugen Dr. B.

b) Das Gericht war auch gemäß § 244 Abs. 4 Satz 2 2. Halbsatz StPO gehindert, den Hilfsbeweisantrag zurückzuweisen. Selbst wenn die Voraussetzungen des § 244 Abs. 4 Satz 2 1. Halbsatz StPO vorgelegen hätten, wäre die Einholung eines weiteren Gutachtens geboten gewesen. Dem psychologischen Sachverständigen fehlt es nämlich in der Regel an der für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit erforderlichen Sachkunde, wenn die zu begutachtende Person an einer Erkrankung leidet, die Auswirkungen auf ihre Aussagetüchtigkeit haben kann. Grundsätzlich steht es dem Tatrichter zwar frei, ob er sich zur Frage der Glaubhaftigkeit einer Aussage der sachverständigen Hilfe eines Psychologen oder eines Psychiaters bedient (BGH StV, 97, 61). Wenn jedoch Anhaltspunkte für das Vorliegen einer geistigen Erkrankung bestehen, wird die besondere medizinische Sachkunde eines Psychiaters benötigt, um die Aussagetüchtigkeit zu bewerten (Kleinknecht, a.a.O., § 244 Rdnr. 76; BGH StV 97, 60 ff und 61 ff; BGH NStZ 97, 1999).

Die Nebenklägerin zeigt deutliche Verhaltensauffälligkeiten. Im Alter von 14 Jahren zog sie von zu Hause aus, da die Alkoholerkrankung ihrer - zwischenzeitlich verstorbenen - Mutter sie stark belastete. Sie lebte bei Pflegeeltern, später bei ihrem Bruder und ab 1997 in einem Kinderheim. Seit ihrem 14. Lebensjahr unternahm sie mehrere Selbstmordversuche und unterzog sich mehrfach Therapien, zuletzt im Jahre 2000 über mehrere Monate stationär in einer Klinik in B.

Es ist zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass auch ein Psychologe in der Lage ist zu beurteilen, ob ein Fehlverhalten krankhafter Natur ist, dass er mithin die Grenzen seines "Zuständigkeitsbereichs" erkennt und Anhaltspunkte für eine Erkrankung als solche zu deuten weiß. Hiervon kann jedoch nur dann ausgegangen werden, wenn ein klinisch erfahrener Psychologe (d.h. ein solcher, der längere Zeit in einer Klinik unter hauptamtlicher Mitarbeit eines erfahrenen Psychiaters gearbeitet hat) nach Anwendung aller ihm zur Verfügung stehenden diagnostischen Hilfsmittel das Vorliegen krankhafter Erlebnis- und Verhaltensformen ausschließt (BGHSt 23, 8, 14). Inwieweit die von der Strafkammer zugezogene psychologische Sachverständige diese besonderen Voraussetzungen erfüllt, lässt sich weder den Urteilsgründen noch den Akten entnehmen. Das Urteil gibt allerdings wieder, dass die Sachverständige G , der das Gericht in vollem Umfang gefolgt ist, die Persönlichkeitsstruktur der Nebenklägerin als "von psychischen Auffälligkeiten, neurotischen Symptomen und selbstschädigendem Verhalten geprägt", beschreibt. Ausweislich des Protokolls der Hauptverhandlung vom 27. September 2000 (Bl. 357 d.A.) war es die Sachverständige, die die Mitteilung der abschließenden Diagnose des Psychiaters Dr. B , bei welchem sich die Nebenklägerin in Behandlung befand, anregte. Der lediglich als Zeuge vernommene Dr. B hat ausweislich der Urteilsfeststellungen bekundet, dass sich die Nebenklägerin vom 21. bis 27. Dezember 1999 und vom 4. Mai bis 24. August 2000 zur Therapie in der psychiatrischen Klinik B befand, nachdem sie zahlreiche Selbstmordversuche unternommen hatte. Bei dieser Sachlage ist davon auszugehen, dass die psychologische Sachverständige durchaus Symptome erkannt hat, die die Zuziehung eines Psychiaters erforderlich machten. Es hätte nahegelegen, den Zeugen Dr. B als Sachverständigen zu befragen, da er als behandelnder Arzt die Verhaltensweisen der Nebenklägerin am besten einzuschätzen vermag und als Psychiater über die medizinischen-Sachkenntnisse zu deren Beurteilung verfügt. Hierzu hätte um so mehr Anlass bestanden, als auch der Sachverständige Prof. Dr. S , dem zwar lediglich die methodische Überprüfung des Gutachtens der Sachverständigen G oblag, der jedoch erkennbar über seine Aufgabenstellung hinausgehende Aussagen getroffen hat, bei der Nebenklägerin neurotische Symptome diagnostizierte.

Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Kammer nach Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens zu einer abweichenden, für den Angeklagten günstigeren Einschätzung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin gelangt wäre, beruht das Urteil auf der fehlerhaften Ablehnung des Hilfsbeweisantrages. Eines näheren Eingehens auf die weiter erhobene allgemeine Aufklärungsrüge gemäß § 244 Abs. 2 StPO, die ebenfalls auf die Hinzuziehung eines weiteren Sachverständigen zielt, bedarf es nicht mehr.

3.

Das Urteil unterliegt aber auch gestützt auf die ausgeführte Sachrüge der Aufhebung. Die Feststellungen sind widersprüchlich. Wie bereits unter II. 2. b) ausgeführt, wird die Persönlichkeitsstruktur der Nebenklägerin als von psychischen Auffälligkeiten, neurotischen Symptomen und selbstschädigendem Verhalten geprägt beschrieben (S. 14 des Urteils). Ihr wird eine Persönlichkeitsentwicklung zur emotional instabilen Persönlichkeit bescheinigt (S. 12 des Urteils). Ihre zahlreichen Suizidversuche finden Erwähnung (S. 8 und 12 des Urteils), ebenso ihr Aufenthalt in einer Klinik zur Durchführung einer psychiatrischen Therapie. Schließlich wird festgestellt, sie habe eine "neurotische Persönlichkeitsstruktur" (S. 26 des Urteils). Andererseits wird in unmittelbarem Anschluss an diese Feststellung bemerkt: "Für eine geistige Erkrankung der Nebenklägerin gibt es keine Anhaltspunkte" (S. 26 des Urteils). Diese Darstellungen sind nicht miteinander vereinbar. Liegen nämlich neurotische Symptome vor, deutet dies auf das Bestehen einer Neurose, d.h. einer psychischen Störung von Krankheitswert hin. Zwar werden die Übergänge zwischen neurotischen Merkmalen Gesunder und neurotischen Störungen von Krankheits- und Behandlungswert als fließend beschrieben (Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 258. Auflage 1998, Neurose), doch besteht zumindest dann ein hinreichender Anhaltspunkt für das Bestehen einer Erkrankung, wenn sich - wie vorliegend - die Behandlungsbedürftigkeit bereits offenbart hat.

Das Urteil ist nach alldem aufzuheben und zur erneuten Verhandlung und Entscheidung gemäß §§ 353, 354 Abs. 2 StPO zurückzuverweisen.

Ende der Entscheidung

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