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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 10.09.2001
Aktenzeichen: 1 Ws 1021/01
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 119 V 2
StPO § 119 V 1
StPO § 231 I 2
StPO § 238 II
StPO § 305 S. 2
1. Die Anordnung des Vorsitzenden, den Angeklagten in der Hauptverhandlung an den Füßen zu fesseln, ist eine Maßnahme der äußeren Verhandlungsleitung, gegen die gemäß §§ 304 I, 305 Satz 2 StPO Beschwerde zulässig ist.

2. Eine die Fußfesselung entsprechend § 119 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 StPO rechtfertigende Befreiungsgefahr ist bereits dann hinreichend konkret belegt, wenn es sich bei dem Angeklagten aller Wahrscheinlichkeit nach um ein Mitglied der organisierten Kriminalität in hervorgehobener Stellung handelt.


OBERLANDESGERICHT KOBLENZ Beschluss

Geschäftsnummer: 1 Ws 1021/01

In der Strafsache

wegen wegen Versuchs der Beteiligung am Verbrechen des Mordes u.a. hier: Fesselung des Angeklagten in der Hauptverhandlung

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch die Richter am Oberlandesgericht Völpel, Summa und Pott

am 10. September 2001 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Angeklagten gegen die Verfügung des Vorsitzenden vom 14. August 2001, die Anordnung der Fußfesselung des Angeklagten aufrechtzuerhalten, wird als unbegründet auf seine Kosten (§ 473 Abs. 1 S. 1 StPO) verworfen.

Gründe:

I.

Im Hauptverhandlungstermin vom 14. August 2001 hat der Vorsitzende der Schwurgerichtskammer seine zuvor getroffene Anordnung, den Angeklagten während der Hauptverhandlung an den Füßen zu fesseln, aufrechterhalten und damit einen Antrag der Verteidigung auf Aufhebung der Fesselung abgelehnt.

Die Strafkammer hat die Anordnung in einem auf weiteren Antrag der Verteidigung ergangenen, in demselben Hauptverhandlungstermin verkündeten Beschluss bestätigt. Sie begründet ihre Entscheidung mit möglichen Flucht- und Befreiungsversuchen sowie mit der Gefahr von Übergriffen des Angeklagten auf eine geständige Mitangeklagte während der Verhandlung.

Dagegen wendet sich der Angeklagte mit der Beschwerde. Er hält die Fußfesselung für unverhältnismäßig. Konkrete Tatsachen für die angenommenen Fesselungsgründe bestünden nicht.

II.

1.

Vor einer Entscheidung über das Rechtsmittel bedarf dieses zunächst der Auslegung.

Die Beschwerde richtet sich ihrem Wortlaut nach gegen den Beschluss der Strafkammer vom 14. August 2001, mit dem die Anordnung des Vorsitzenden, den Angeklagten für die Dauer der Hauptverhandlung an den Füßen zu fesseln, bestätigt worden ist. Gegen eine solche, gemäß § 238 Abs. 2 StPO nur für die Überprüfung sachleitender Anordnungen des Vorsitzenden vorgesehene Entscheidung ist gemäß §§ 304 Abs. 1, 305 S. 1 StPO die Beschwerde grundsätzlich unzulässig. Nur im Ausnahmefall kann sich eine Zulässigkeit ergeben, wenn und soweit der Beschluss über die Sachentscheidung hinaus eine mit der Revision nicht angreifbare zusätzliche prozessuale Beschwer enthielte (LR-Gollwitzer, StPO, § 238 Rdn. 38). Darauf beruft sich der Angeklagte nicht. Aus der Begründung seiner Beschwerde ergibt sich vielmehr, dass er die Fesselungsanordnung als solche in vollem Umfang anfechten will. Seine Beschwerde ist demgemäß dahingehend zu verstehen (§ 300 StPO entsprechend), dass sie sich gegen die Anordnung selbst richten soll. Mit diesem Inhalt ist, solange die angeordnete Maßnahme andauert, das Rechtsmittel gemäß §§ 304 Abs. 1, 305 S. 2 StPO uneingeschränkt zulässig (LR-Gollwitzer, a.a.O., § 231 Rdn. 33; KK-Tolksdorf, StPO, § 231 Rdn. 15; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, § 231 Rdn. 24).

Ein Eingehen auf die Frage, ob und ggf. in welchem Umfang die Fesselungsanordnung des Vorsitzenden als Maßnahme der äußeren Verhandlungsleitung überhaupt nach § 238 Abs. 2 StPO von einem Beteiligten in der Hauptverhandlung beanstandet und der Entscheidung des Gerichts unterbreitet werden kann (vgl. dazu BGH NJW 1957, 271; LR-Gollwitzer a.a.O., § 231 Rdn. 33), erübrigt sich damit.

2.

Die Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.

Die getroffene Anordnung findet ihre Rechtsgrundlage in § 231 Abs. 1 S. 2 StPO. Danach kann der Vorsitzende geeignete Maßregeln treffen, um die Entfernung des Angeklagten aus der Hauptverhandlung zu verhindern. Zu diesen Maßnahmen zählt auch die Möglichkeit der Fesselung des Angeklagten (BGH a.a.O.). Zwar soll der Angeklagte während der Hauptverhandlung grundsätzlich ungefesselt sein (§ 119 Abs. 5 S. 2 StPO). Von diesem Grundsatz kann jedoch in entsprechender Anwendung des § 119 Abs. 5 S. 1 StPO abgewichen werden, wenn einer der dort aufgeführten Fesselungsgründe vorhanden ist.

Vorliegend greift Nr. 2 Alternative 2 der Vorschrift ein, wonach der Verhaftete gefesselt werden darf, wenn die Gefahr besteht, dass er sich aus dem Gewahrsam befreien wird. Die Annahme einer solchen Gefahr richtet sich gemäß Gesetzeswortlaut nach der Würdigung der Umstände des Einzelfalls, namentlich der Verhältnisse des Angeklagten und der Umstände, die einer Flucht entgegenstehen. Da die Fesselung den stärksten Eingriff in die Bewegungsfreiheit des Gefangenen bewirkt, muss die Vorschrift eng ausgelegt werden. Die Gefahr, die mit der Fesselung abgewendet werden soll, muss mit konkreten Tatsachen belegbar sein. Ereignisse, für deren Eintritt keine fassbaren Anhaltspunkte bestehen, sondern die lediglich denkbar sind, reichen zur Gefahrbegründung nicht aus (KK-Boujong, StPO, § 119 Rdn. 73; Kleinknecht/Meyer-Goßner a.a.O., § 119 Rdn. 41, jeweils m.w.N.).

Die Gefahr, dass der Angeklagte sich - ggf. unter Mitwirkung von außen - dem Gewahrsam in der Hauptverhandlung entzieht, ergibt sich aus dem besonderen kriminellen Hintergrund, vor dem die ihm angelasteten Taten zu betrachten sind, und seiner hervorgehobenen Stellung in diesem Umfeld. Er ist aller Wahrscheinlichkeit nach fest in international tätige kriminelle Organisationen eingebunden. Nach den polizeilichen Ermittlungen (Vermerk vom 14. Mai 2001) ist er schon vor Übersiedelung in die Bundesrepublik Deutschland in seinem Heimatland L. dem Kernbereich der dortigen organisierten Kriminalität zuzurechnen gewesen. Dass er hier mit hoher Wahrscheinlichkeit in gleicher Weise organisiert tätig gewesen ist, ergibt sich insbesondere aus den Vorwürfen der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Koblenz vom 29. Januar 2001 zu I. (Versuch der Beteiligung an einem Mord zum Nachteil eines Koblenzer Oberstaatsanwalts), zu II. 2. (Handeltreiben mit 500 kg Haschisch) und IV. 5. (gewerbsmäßige Verschaffung griechischer Identitäten für Staatsangehörige der ehemaligen Sowjetunion). Auf den Inhalt der Anklageschrift wird Bezug genommen. Schon die Verschiedenartigkeit der Delikte und die unterschiedlichen Teilnehmerkreise, in denen der Angeklagte diese Taten laut Anklage verübt hat, verdeutlicht, dass er nach aller Wahrscheinlichkeit mit organisierter Kriminalität nicht nur am Rande in Berührung gestanden, sondern in ihr eine zentrale Stellung eingenommen hatte. Bei inhaftierten Mitgliedern der organisierten Kriminalität muss stets mit Befreiungsversuchen, von außen unterstützt durch die Mitwirkung Dritter, gerechnet werden. Die Organisationen verfügen erfahrungsgemäß über weitreichende Beziehungen und effektive Handlungsmöglichkeiten, um eine Flucht des Gefangenen von seiner Befreiung bis zum Verbringen in ein sicheres Versteck zu planen und durchzuführen. Dass organisierte kriminelle Kreise davon Gebrauch machen, ist jedenfalls dann konkret zu befürchten, wenn es sich bei dem Inhaftierten, wie vorliegend beim Angeklagten, um ein Mitglied von wichtiger Bedeutung handelt. Ein solches besitzt nicht nur Autorität und Einfluss in der Organisation, sondern vor allem auch interne Kenntnisse, deren Preisgabe der Organisation als solcher und ihren Rädelsführern gefährlich werden könnte. So ist hier davon auszugehen, dass dem Angeklagten die bislang nicht ermittelten Auftraggeber für den Mord an dem Koblenzer Oberstaatsanwalt bekannt sind, woraus sich geradezu zwingend deren Interesse ergibt, eine Weitergabe dieses Wissens zu verhindern.

Damit ist eine ausreichend konkrete Grundlage für die Annahme einer Befreiungsgefahr vorhanden. Sie wird verstärkt durch die polizeilichen Erkenntnisse (Vermerk vom 14. Mai 2001), nach denen der Angeklagte in der Justizvollzugsanstalt offenbar unzulässigen Zugriff auf ein Mobiltelefon besitzt oder besessen hat und ihm damit unkontrollierter Gesprächskontakt nach außen eröffnet ist bzw. möglich gewesen ist. Eine Forderung nach noch näherer Konkretisierung der Gefahr liefe darauf hinaus, gerade im organisierten und damit besonders gefährlichen Bereich der Kriminalität auf die fluchthemmende Sicherungsmaßnahme der Fesselung weitgehend verzichten zu müssen. Es liegt im Wesen dieser Organisationen, dass sie konspirativ vorgehen und ihre Aktivitäten sorgfältig gegen Einblicke von außen absichern. Etwaige Befreiungsvorhaben werden daher, von Zufallserkenntnissen abgesehen, regelmäßig nicht in Erfahrung zu bringen sein.

Zur Minderung der Befreiungsgefahr ist die Fesselung des Angeklagten in der Hauptverhandlung notwendig. Gerade der Verhandlungssaal ist eine Schwachstelle der Gewahrsamssicherung. Er ist, wie das Gerichtsgebäude selbst, der Öffentlichkeit frei zugänglich. Außenstehende Helfer können daher ohne weiteres in die Nähe des Angeklagten gelangen, so dass an diesem Ort Befreiungsmaßnahmen Dritter im besonderem Maße zu besorgen sind. Die angeordneten sitzungspolizeilichen Maßnahmen, wie Ausweiskontrolle und Durchsuchung der Einlass begehrenden Personen, sind gegenüber entschlossenen, möglicherweise mit vorgehaltenen Schusswaffen vorgehenden Befreiungshelfern wirkungslos. Die Abwehrmöglichkeiten der im Sitzungssaal anwesenden Polizeibeamten sind begrenzt. Bei Anwendung unmittelbaren Zwangs hätten sie stets und zuvorderst Rücksicht auf die im Saal und Gebäude anwesenden unbeteiligten Personen zu nehmen. Das würde beispielsweise einen Schusswaffengebrauch weitgehend ausschließen und die Beamten im Fall einer befreiungsunterstützenden Geiselnahme sogar zu gänzlicher Untätigkeit zwingen. Die Fußfesselung selbst ist ein wirksam bewegungshinderndes Mittel, das geeignet ist, eine Flucht des Inhaftierten aus dem Sitzungssaal, die naturgemäß auf seine schnelle Fortbewegung angelegt sein muss, zu verhindern oder sie zumindest soweit zu hemmen, dass die Wiedergreifung des Flüchtenden und die Fortsetzung der Hauptverhandlung ermöglicht wird.

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist damit gewahrt, zumal die Fesselung nur die Füße des Angeklagten betrifft und ihm im übrigen freie Bewegungsmöglichkeiten lässt.

Die Beschwerde ist nach alledem als unbegründet zu verwerfen.

Ende der Entscheidung

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