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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 14.11.2001
Aktenzeichen: 1 Ws 1437/01
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 454 I 2
StPO § 309 II
1. Es ist kein Verfahrensfehler, wenn die Strafvollstreckungskammer angesichts eines klaren, eindeutigen, dem Verurteilten erläuterten Einwilligungswiderrufs von einer mündlichen Anhörung abgesehen hat (Aufgabe von Senat GA 77, 246 und MDR 85, 426).

2. Ist es wegen bisher verweigerter Einwilligung noch zu keiner erstinstanzlichen Sachprüfung gekommen, fehlt es zudem an der bei (nunmehr) vorliegender Einwilligung zwingend erforderlichen persönlichen Anhörung des Verurteilten (§ 454 Abs. 1 Satz 2 StPO) und würde diesem bei eigener Sachentscheidung durch den Senat die gesamte erste Instanz genommen, ist eine Zurückverweisung durch das Beschwerdegericht an die Vorinstanz ausnahmsweise auch ohne erstinstanzlichen Verfahrensfehler zulässig.


Geschäftsnummer: 1 Ws 1437/01

OBERLANDESGERICHT KOBLENZ

BESCHLUSS

In der Strafvollsteckungssache

gegen

wegen: Diebstahls u. a.

hier: Reststrafaussetzung zur Bewährung

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht von Tzschoppe, den Richter am Oberlandesgericht Völpel und die Richterin am Oberlandesgericht Hardt

am 14. November 2001 beschlossen:

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss der kleinen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Koblenz vom 23. September 2001 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, an die Strafvollstreckungskammer zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Mit dem angefochtenen Beschluß hat die Strafvollstreckungskammer es ohne mündliche Anhörung des Verurteilten abgelehnt, das letzte Drittel einer Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen, weil der Verurteilte in die bedingte Entlassung nicht eingewilligt habe. Dem lag eine schriftliche "Erklärung des Strafgefangenen zur bedingten Entlassung gemäß § 57 Abs. 1 StGB" zugrunde, die folgenden Wortlaut hat:

"Im Hinblick auf die ablehnende Stellungnahme der JVA Koblenz bin ich mit einer bedingten Entlassung nicht mehr einverstanden..." (Bl. 51).

Diese Erklärung hatte der Verurteilte am 16.10.2001 eigenhändig unterschrieben, nachdem die ebenfalls unterzeichnende Amtsrätin K. sich zuvor im Auftrag der Strafvollstreckungskammer davon überzeugt hatte, daß der Verurteilte ausreichend deutsch spricht und auf eine bedingte Entlassung tatsächlich verzichten wolle (Bl. 50 R).

Gegen den ihm am 26. 10. 2001 zugestellten Ablehnungsbeschluß hat der Verurteilte mit einem am 02. 11. 2001 eingegangenen Schreiben Beschwerde eingelegt. Ohne auf das Schriftstück vom 16. 10. 2001 einzugehen, macht er geltend, er habe "geglaubt, meine Einwilligung zu einer bedingten Entlassung nach 2/3 schon gegeben zu haben" (Bl. 60).

II.

In dem Verzicht der Strafvollstreckungskammer auf eine persönliche mündliche Anhörung des Verurteilten sieht der Senat entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft keinen Verfahrensfehler.

Allerdings hat der Senat in einer Entscheidung vom 08. 02. 1977 (GA 77,246, ebenso MDR 85,426) und ihm folgend die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 9.11.2001 die gegenteilige Auffassung vertreten.

Der Senat hat damals wesentlich darauf abgestellt, die Aufrechterhaltung der Anhörungspflicht trotz Verweigerung der Einwilligung des Verurteilten entspreche einer "konsequenten Fortführung seiner Rechtsprechung, daß die Anhörung des Verurteilten durch alle Mitglieder der Strafvollstreckungskammer zu erfolgen hat und weder durch den beauftragten noch gar den ersuchten Richter zulässig ist (vgl. Beschluß des Senats vom 13.01.1977 in 1 Ws 9/77)". An dieser Auffassung hält der Senat nicht mehr fest. Die Frage, in welcher Besetzung die Strafvollstreckungskammer die Anhörung durchführen muß, wenn sie durchzuführen ist, hat mit der Frage, ob eine Anhörung überhaupt erforderlich ist, nichts zu tun.

Auch die weitere Argumentation des Senats in seiner damaligen Entscheidung, eine Ausnahme vom Grundsatz der obligatorischen mündlichen Anhörung, die über die gesetzlich abschließend geregelten Ausnahmen hinausginge, "würde einer unzulässigen Analogie zum Nachteil des Verurteilten gleichkommen", überzeugt nicht mehr, nachdem es in Rechtsprechung und Schrifttum seit langem unumstritten ist, daß es solche Ausnahmen aus anderen als den gesetzlich geregelten Gründen sehr wohl gibt (statt aller: Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. A., § 454, Rnrn. 29, 30 mit einer Vielzahl von Rechtsprechungsnachweisen).

Nicht tragfähig ist auch die dritte in der damaligen Senatsentscheidung genannte Begründung, "der Verurteilte, der zunächst einer Maßnahme nach § 57 StGB nicht zugestimmt hat, (könne) an dieser Erklärung für das weitere Verfahren nicht gebunden sein; er (könne) in diesem Verfahren etwa aufgrund neuer Umstände in seinen Lebensverhältnissen jederzeit seine Meinung ändern und die Zustimmung noch erteilen". Das ist zwar richtig, jedoch kein Grund, ihn trotz vorliegender wirksamer Zustimmungsverweigerung (bzw. Zustimmungswiderrufs) mündlich anzuhören. Wie Meyer-Goßner (aaO. § 454, Rnr. 29) zutreffend hervorhebt, besteht kein Grund, einem Verurteilten, der kein Interesse (mehr) an der Aussetzung des Strafrestes hat, die mündliche Anhörung aufzudrängen. Im Regelfall wird der Verurteilte, der seine Einwilligung verweigert oder, wie hier, widerruft, dafür aus seiner Sicht gute Gründe haben. Diese sind von der Strafvollstreckungskammer zu respektieren. Auch der Strafgefangene ist ein "mündiger Bürger". Der Senat sieht keinen Sinn darin, auf einen Verurteilten, der etwa im Hinblick auf eine absolut negative Stellungnahme der JVA und in zutreffender Einschätzung der Sach- und Rechtslage seine Einwilligung widerrufen hat, in einer mündlichen Anhörung einzuwirken, er möge sich diese Verweigerung noch einmal überlegen, um ihn dann, wenn er es sich daraufhin "überlegt" und seine Zustimmung doch noch erteilt hat, per Gerichtsbeschluß dahin zu bescheiden, daß er aus eben den von der JVA angeführten Gründen nicht vorzeitig entlassen werden kann. Eine solche Verfahrensweise wäre widersinnig; gerade der Verurteilte würde sie am wenigsten verstehen.

Der Senat sieht deshalb unter Aufgabe von GA 77, 246 und MDR 85, 426 keinen Verfahrensfehler darin, daß die Strafvollstreckungskammer angesichts des klaren, eindeutigen, dem Verurteilten erläuterten und ausdrücklich mit der negativen JVA-Stellungnahme begründeten Einwilligungswiderrufs von einer mündlichen Anhörung abgesehen hat (ebenso die heute h. M.; vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, aaO.; KK-Fischer § 454 Rnr. 26; HK-Krehl, 3. A., § 454 Rnr. 14; alle m. w. N.).

III.

Dennoch hat das Rechtsmittel zumindest vorläufig Erfolg.

Zwar hat die Strafvollstreckungskammer die bedingte Entlassung, bezogen auf den Zeitpunkt ihrer Entscheidung, zu Recht ohne weitere Sachprüfung abgelehnt. Inzwischen steht jedoch fest, dass der Verurteilte mit einer solchen Maßnahme einverstanden ist. Dies ergibt sich aus seiner Beschwerdeschrift vom 31. 10. 2001. An seine Einwilligungsverweigerung ist der Verurteilte bis zur Rechtskraft der Entscheidung nicht gebunden. Die Verweigerung ist bis dahin ebenso wie die Einwilligung selbst widerruflich (Senatsbeschluss vom 12. Mai 1998 - 1 Ws 312/98 - m.w.N.). Auch aus der Natur des Beschwerdeverfahrens, in dem neue Tatsachen zu berücksichtigen sind, folgt, dass die nunmehr erklärte Einwilligung ungeachtet der Gründe für ihre frühere Versagung und für die nachträgliche Einwilligungserklärung sowie ohne Rücksicht auf die damit verbundene Erhöhung der Verfahrenskosten Beachtung finden muss.

Der angefochtene Beschluss ist daher wegen nachträglichen Wegfalls seiner Entscheidungsgrundlage aufzuheben.

IV.

Obwohl ein Verfahrensfehler nicht vorliegt, scheidet eine eigene Sachentscheidung durch den Senat (§ 309 Abs. 2 StPO) aus. Denn die Strafvollstreckungskammer hat bisher von ihrem Standpunkt aus zu Recht lediglich rein formal entschieden und sich mit dem zugrundeliegenden Sachverhalt selbst noch nicht befasst. Ist es aber bisher noch zu keiner auch nur ansatzweisen erstinstanzlichen Sachprüfung gekommen, fehlt es zudem an der bei (nunmehr) vorliegender Einwilligung zwingend erforderlichen persönlichen Anhörung des Verurteilten (§ 454 Abs. 1 Satz 2 StPO) und würde diesem bei eigener Sachentscheidung durch den Senat die gesamte erste Instanz genommen, ist eine Zurückverweisung durch das Beschwerdegericht an die Vorinstanz ausnahmsweise auch ohne erstinstanzlichen Verfahrensfehler zulässig (OLG Karlsruhe StV 99, 385, 386; OLG Frankfurt NStZ 83, 426; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 309, Rnr. 9 unter Hinweis auf OLG Koblenz MDR 75, 241; ebenso [mit dem vom Vorliegen eines Verfahrensverstoßes unabhängigen Hinweis darauf, daß eine mündliche Anhörung im Beschwerdeverfahren regelmäßig nicht stattfindet KG NStZ 99, 319, 320).

Bei der auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu treffenden neuen Entscheidung wird ggf. die durch das Prozessverhalten des Verurteilten verursachte Erhöhung der Verfahrenskosten zu berücksichtigen sein (Rechtsgedanke des § 467 Abs. 2 StPO; vgl. Senatsbeschluss vom 12. 05. 1998).

Ende der Entscheidung

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