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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 27.03.2000
Aktenzeichen: 1 Ws 31/00
Rechtsgebiete: StGB


Vorschriften:

StGB § 57 I
StGB § 176 a I Nr. 1
Leitsatz:

Auch bei Sexualstraftätern vorgerückten Alters (hier: 65 J.) und schlechten Gesundheitszustandes kommt trotz bestmöglicher Sachaufklärung bei unklar gebliebener Kriminalitätsprognose wegen der Bedeutung der bedrohten Rechtsgüter eine vorzeitige Entlassung regelmäßig nicht in Betracht.

(siehe auch BVerfG NStZ 2000, 109, 110)


Geschäftsnummer: 1 Ws 31/00 7 StVK 211 und 505/99 LG Koblenz (Diez) 22 VRs 786/90 und 23 VRs 222/94 StA Trier

In der Strafvollstreckungssache

gegen

den Rentner N. A. G. S., geboren am 1. ............ in I., zur Zeit in Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt ................,

- Verteidiger: Rechtsanwalt K., wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.

hier: Reststrafaussetzung zur Bewährung

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht von Tzschoppe, den Richter am Oberlandesgericht Völpel und den Richter am Amtsgericht Schmickler am 27. März 2000

beschlossen:

Tenor:

Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer Diez des Landgerichts Koblenz vom 27. Dezember 1999 wird auf seine Kosten als unbegründet verworfen.

Gründe:

Zwar hat die Strafvollstreckungskammer sich erneut und trotz zahlreicher Hinweise des Senats (Senatsbeschlüsse vom 29. April 1999 - 1 Ws 247/99 -, 23. März 1999 - 1 Ws 145, 146/99 -, 29. Dezember 1998 - 1 Ws 833/98 -), die allesamt Entscheidungen derselben Strafvollstreckungskammer, und zwar auch in derselben Besetzung, betrafen, darüber hinweggesetzt, dass die von ihr immer noch als Entscheidungsgrundlage zitierte Fassung des § 57 Abs. 1 StGB ("wenn verantwortet werden kann zu erproben, ob der Verurteilte außerhalb des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird") seit dem 31. Januar 1998 (!) nicht mehr existiert.

Doch führt die Anwendung des geltenden Rechts zu keinem anderen Ergebnis. Nach der seit 31. Januar 1998 geltenden Fassung ist die Vollstreckung des Strafrestes nur dann auszusetzen, "wenn dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann"; dabei sind vor allem die Persönlichkeit des Verurteilten, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, sein Verhalten im Vollzug, seine Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für ihn "zu erwarten", d.h. wahrscheinlich, sind. Dass eine bloße "Chance", also Möglichkeit, einer Bewährung in Freiheit besteht, genügt nicht mehr, und zwar auch dann nicht, wenn man diese Möglichkeit, wie die Strafvollstreckungskammer es tut, wenig erhellend als "reelle" bezeichnet (vgl. ausführlich OLG Koblenz NJW 99, 734; StV 98, 667; NStZ 98, 591; ebenso jetzt auch BVerfG NStZ 2000, 109, 110: "... verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das [Oberlandes-]Gericht grundsätzlich davon ausgeht, dass eine [vorzeitige] Entlassung nur in Betracht kommt, wenn eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für künftige Straffreiheit besteht").

Wendet man die Kriterien der geltenden Gesetzesfassung auf den Verurteilten an, kommt eine vorzeitige Entlassung nicht in Betracht. Zwar ist das Vollzugsverhalten von der Justizvollzugsanstalt als "ordentlich" und beanstandungsfrei bezeichnet worden (Bl. 88, 89). Das Verhalten im Vollzug ist jedoch nur eines von mehreren Merkmalen, die nach § 57 Abs. 1 StGB zu gewichten sind. Angepasstes, unauffälliges, mitunter sogar beflissenes Vollzugsverhalten ist, wie der Senat aus einer Vielzahl von Fällen weiß, gerade bei Sexualstraftätern, die wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt wurden, die Regel und lässt kaum Rückschlüsse auf die innere Einstellung zu den abgeurteilten Taten und eventuellen künftigen Straftaten zu.

Zu berücksichtigen ist ferner, dass der Verurteilte nach wie vor gesundheitlich stark angeschlagen ist (siehe die Aufzählung seiner Gebrechen in der undatierten, aber jedenfalls nach August 1999 verfassten Stellungnahme des Anstaltsarztes, Bl. 92, der aber Bl. 94 zugleich auch darauf hinweist, dass der Verurteilte wenig Bereitschaft zeigt, durch eine zwingend gebotene Umstellung seiner Ernährung in Verbindung mit einer geeigneten Medikamentierung eine Verbesserung seines Gesundheitszustandes zu erreichen). Der daraus und aus dem Alter des Verurteilten hergeleiteten Einschätzung des stellvertretenden Anstaltsleiters, dass "insbesondere die Begehung neuer Sexualstraftaten an Kindern schon aufgrund seines Alters und seines Gesundheitszustandes unwahrscheinlich" erscheine, kann der Senat sich jedoch nicht anschließen. Die Erfahrungen mit einer Vielzahl von Kindesmissbrauchsfällen zeigen, dass Männer auch in vorgerücktem Alter und sogar jenseits der Pensionierungsgrenze durchaus noch willens und imstande sind, Kinder sexuell zu missbrauchen, wobei dann diese Täter lediglich weniger anstrengende Sexualpraktiken bevorzugen. Gegenseitige Masturbation und Oralverkehr mit Kindern, die er durch Geldgeschenke, aber auch Morddrohungen gefügig gemacht hatte, waren schon Gegenstand der zugrunde liegenden Verurteilung des bisexuell und päderastisch veranlagten Beschwerdeführers zu sechs Jahren Freiheitsstrafe durch das Landgericht Trier vom 22. Juni 1994; es ist deshalb nicht fernliegend, dass er sich in Freiheit erneut solcher Praktiken bedienen wird, um seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Seine zahlreichen Vorstrafen nicht nur im sexualstrafrechtlichen Bereich, sondern auch auf anderen Gebieten (Unterschlagung, Hausfriedensbruch, Diebstahl, Urkundenfälschung, falsche Verdächtigung und immer wieder Betrug), die auch schon wiederholt zu Freiheitsentzug geführt haben, deuten zudem darauf hin, dass der Verurteilte charakterlich labil und nicht imstande ist, aus Bestrafung, Vollzug und Bewährungschancen die nötigen Lehren zu ziehen.

Dem steht auch nicht entgegen, dass der Verurteilte während seiner eineinhalbjährigen Strafunterbrechung sowie zahlreicher Urlaube und Ausgänge (siehe die vom Leiter der Justizvollzugsanstalt mit Schreiben vom 8. Februar 2000 vorgelegte Urlaubs- und Ausgangsliste) nicht rückfällig geworden ist. Zwar kommt solchen "Bewährungsphasen" im Allgemeinen erhebliches prognostisches Gewicht zu. Im vorliegenden Fall kann das jedoch nur so eingeschränkt gelten, dass sich daraus eine erhöhte Wahrscheinlichkeit künftiger Straffreiheit nicht herleiten lässt: Die Unterbrechung der Vollstreckung erfolgte am 23. Dezember 1996 wegen krankheitsbedingter Haftunfähigkeit (Bl. 35) und endete am 10. Juni 1998, nachdem die Wiederherstellung der Haftfähigkeit des Verurteilten ärztlicherseits festgestellt worden war. Aufgrund der die Haftunterbrechung auslösenden ärztlichen Befunde (Bl. 35 ff.) ist davon auszugehen, dass der Gesundheitszustand des gerade von einem Schlaganfall betroffenen Verurteilten während dieses Zeitraums derart eingeschränkt war, dass sein Bedürfnis nach sexuellen Kontakten als stark gedämpft angesehen werden muss (vgl. insbesondere den neurologischen Befund des Nervenarztes Dr. Binz vom 20. August 1996, Bl. 39). Zwar sind diese Befunde durch den Psychiater Dr. B. zum Teil in Frage gestellt worden (Bl. 59: "V.a. Zweckreaktion, um den Haftbedingungen zu entgehen"); attestiert wurde dem Verurteilten jedoch auch von diesem Facharzt ein Parkinson-Syndrom mit Tremor im Vordergrund sowie ein subdepressives Syndrom i.V.m. deutlicher Antriebsarmut und verminderter Schwingungsfähigkeit (Bl. 57 - 60). Vor diesem Hintergrund sieht der Senat in dem Verzicht des Verurteilten auf sexuelle Aktivitäten mit Kindern in der Zeit von Ende 1996 bis Mitte 1998 noch keine tragfähige Grundlage für eine erhöhte Wahrscheinlichkeit künftiger Straffreiheit.

Das Gleiche gilt hinsichtlich des Umstandes, dass es bisher zu keinem Missbrauch der zahlreichen Vollzugslockerungen (Urlaub, Ausgang) gekommen ist. Der Anstaltspsychologe W. hat dazu in seiner Stellungnahme vom 18. Oktober 1995 Folgendes ausgeführt:

"Vollzugslockerungen werden gewährt ausschließlich aufgrund des Kriteriums der Gefahr oder der Wahrscheinlichkeit von Flucht oder Missbrauch, d.h. gleichzeitig, dass Behandlungsauftrag und Behandlungsanspruch weitgehend außen vor bleiben. In diesem Fall wären Vollzugslockerungen befürwortbar. Gewaltanwendung gehört nämlich nicht zum Repertoire des Gefangenen. Außerdem bedarf er zur Begehung seiner Delikte einer Anlaufphase. S. knüpfte bisher immer zunächst Beziehungen zu seinen Tatopfern an. Bei Vollzugslockerungen, die zunächst z.B. mit Ausführungen beginnen könnten und später in Ausgänge und auch Urlaube münden würden, wäre die Gefahr eines Wiederholungsdeliktes des sexuellen Missbrauchs hinreichend gering."

Im Hinblick auf die Kriminalitätsprognose bei vorzeitiger Entlassung darf jedoch nicht übersehen werden, dass der Verurteilte bei der Organisation seines Sexuallebens dann völlig frei wäre von den Zwängen des Strafvollzugs. Dabei werden seine gravierenden Defizite bei der Bewältigung seiner homo- und pädophil geprägten Sexualität zum Tragen kommen. Insoweit haben alle mit ihm in Berührung gekommenen Anstaltspsychologen das völlige Scheitern jedweder Behandlungsbemühungen festgestellt. Der Psychologierat W. hat über seine Gespräche mit dem Verurteilten berichtet, dass diese "im Wesentlichen immer so aussahen, dass Herr S. mir über den Fortgang seiner Bemühungen um Rehabilitierung bzw. Richtigstellung der gegen ihn erhobenen Anklagen berichtete. Psychodynamisch ist dies als Abwehrarbeit zu werten".

Der Sachverständige fährt dann fort:

"Ich lernte Herrn S. kennen, und dieser Eindruck verdichtete sich im Laufe der Zeit, als einen Mann, der zu seinen Delikten weitestgehend nicht steht. Die psychodynamische Struktur bei dem Gefangenen sieht so aus, dass die von ihm gewählte Bevorzugung deutlich jüngerer und mindestens jugendlicher Sexualpartner eine Lösung in seiner Sexualorganisation darstellt und eigentlich keinen Konflikt mehr. Die Konflikte erwachsen aus den aus dieser Lösung resultierenden gesellschaftlichen Problemen. Siehe auch dazu meine Basisdiagnostik: Herr S. hat im Leben gelernt, zu verheimlichen, zu hinterziehen und auch zu betrügen. Neben diesem Punkt (Sexualorganisation eher Lösung als Konflikt) besteht bzw. besser bestünde aber auch noch das Problem des Lebensalters. Herr S. ist mit mittlerweile über 61 Lebensjahren in einem Alter, in dem die seelische Struktur unbeweglich geworden ist. Außerdem ist das durchzuarbeitende Material mittlerweile wahrscheinlich auch zu reichhaltig. Auch von daher sähe ich schlechte Chancen für eine erfolgversprechende Behandlung."

Die Sozial- und Kriminalitätsprognose ist daher eher negativ, zumindest aber unklar. Die Oberpsychologierätin S. hat in ihrem Gutachten vom 7. Juni 1999 (Bl. 117 ff.) in Fortführung der Basisdiagnostik des Oberpsychologierats W. vom 7. Oktober 1994 Folgendes ausgeführt (Bl. 117 ff.):

"Herr W. beschreibt eine vorhandene Tendenz pädophiler Neigung und sein Bemühen, davon abzulenken.

Die Sexualentwicklung von Herrn St. habe in wesentlichem Maße dessen gesellschaftliche Orientierung bestimmt. Seine Lebensweise habe etwas mit "tarnen müssen" und "hinterziehen" zu tun gehabt (s. dazu auch Vorstrafen wegen Betruges).

...

Auch heute lässt sich kein anderes Bild von Herrn St. zeichnen. Auch heute leugnet er oder verharmlost die von ihm begangenen Straftaten ... (wird ausgeführt).

...

Er selbst beschreibt sich als bisexuell. ... Obwohl er einerseits angibt, keine sexuelle Beziehung zu Kindern gehabt zu haben, gibt er als Motiv für den sexuellen Missbrauch von Kindern an, dass Kinder eben verfügbar gewesen seien.

...

Seine Freunde seien keine Sexualpartner, sondern Männer, mit denen er gemeinsam die Freizeit gestalte. So würden sie z.B. an die Mosel fahren und Wein trinken. Im gesamten Explorationsgespräch wirkt Herr St. recht massiv und aggressiv. Er weicht aus und verwickelt sich in Widersprüchlichkeiten.

...

Er verbirgt sich und seine Gefühle. Damit ist die Erstellung einer differenzierten Prognose fast unmöglich. Aufgrund theoretischer Überlegungen und den Informationen, die mir zu Herrn St. zugänglich sind, komme ich ebenfalls wie Herr Oberpsychologierat W. zu dem Ergebnis, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern bei Herrn St. die Lösung in seiner Sexualorganisation darstellte und für ihn keinen Konflikt bedeutet. Somit gibt es auch nichts zu bedenken und zu ändern. Hinzu kommt, dass Herr St. einschlägig vorbestraft ist. Da von Herrn St. sehr wenig über sich zu erfahren ist, kann ich auch nicht feststellen, ob konkrete Gefahr für einen sexuellen Missbrauch besteht. Möglicherweise ist Herr St. durchaus in der Lage, seine sexuellen Bedürfnisse mit erwachsenen Männern und Frauen zu befriedigen. Ob er jedoch in seinem Alter und Gesundheitszustand in der Lage sein wird, entsprechende Sexualpartner zu finden, mag ich eher anzweifeln. Der Rückgriff auf Kinder bietet sich an, da Kinder eher verfügbar sind. Die Kriminalitätsprognose wird von mir als eher ungünstig angesehen. Weitere Missbrauchshandlungen an Jungens lassen sich nicht ausschließen."

Damit liegen hinsichtlich des Verurteilten aktuelle und differenzierte Erkenntnisse über seine Persönlichkeitsstruktur und deren - ausgebliebene - Entwicklung im Vollzug vor, die deutlich machen, dass die die Taten auslösenden psychischen Faktoren in der Persönlichkeit des Verurteilten fest und dauerhaft verankert sind. Eine Veränderung seiner Einstellung zu sexuellen Kontakten mit Kindern männlichen Geschlechts hat nicht stattgefunden und ist auch für die Zukunft nicht mehr zu erwarten. Von einer Wahrscheinlichkeit straffreien Verhaltens kann somit keine Rede sein. Nach der geltenden Fassung des § 57 StGB ist gerade bei schweren Delikten, insbesondere solchen auf sexualstrafrechtlichem Gebiet, im Hinblick auf die dadurch gefährdeten besonders bedeutenden Rechtsgüter - speziell von kindlichen Opfern - in Verbindung mit einer, wie hier, eher negativen, zumindest aber - trotz bestmöglicher Sachaufklärung - unklaren Kriminalitätsprognose eine vorzeitige Entlassung ausgeschlossen (vgl. Senat a.a.O.).

Kosten: § 473 Abs. 1 StPO.

Ende der Entscheidung

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