Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 03.08.2000
Aktenzeichen: 1 Ws 343/00
Rechtsgebiete: StPO, StGB


Vorschriften:

StPO § 454 II 1 Nr. 2
StPO § 454 II 3
StGB § 57
Leitsatz:

Wird der nach § 454 II Nr. 1 StPO eingeschaltete Sachverständige zunächst mündlich nach § 454 II 3 StPO angehört und finden dann auf seine Anregung weitere für seine Prognose relevante Ermittlungen statt, so ist der Sachverständige über das Ergebnis dieser Ermittlungen zu unterrichten und erneut mündlich anzuhören. Geschieht dies nicht und entscheidet die Strafvollstreckungskammer, ohne den Sachverständigen auch zu den nachträglich erhobenen Prognosetatsachen angehört zu haben, steht dies einer völlig unterbliebenen Sachverständigenanhörung gleich. Der darin liegende Verstoß gegen §§ 454 II 3 StPO führt zur Aufhebung und Zurückverweisung.


Geschäftsnummer: 1 Ws 343/00 23 VRs 63/95 StA Trier

OBERLANDESGERICHT KOBLENZ Beschluss

In der Strafvollstreckungssache

gegen

B. J. S.

- Verfahrensbevollmächtigter: Rechtsanwalt F. -

wegen wegen Vergewaltigung u.a.

hier: Strafrestaussetzung zur Bewährung

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht von Tzschoppe, den Richter am Oberlandesgericht Völpel und den Richter am Landgericht Hardt am 3. August 2000 beschlossen:

Tenor:

1.

Auf seinen Antrag wird dem Verurteilten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Beschwerde gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer Diez des Landgerichts Koblenz vom 15. Mai 2000 gewährt.

2.

Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss der Strafvollstreckungskammer Diez des Landgerichts Koblenz vom 15. Mai 2000 aufgehoben.

Die Sache wird zur Nachholung der mündlichen Anhörung des Sachverständigen Prof. Dr. G. und zu neuer Entscheidung, auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, an die Strafvollstreckungskammer Diez des Landgerichts Koblenz zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Wegen der Versäumung der Frist zur Einlegung der Beschwerde gegen die angefochtene Entscheidung wird auf Abschnitt I der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft Koblenz vom 5. Juni 2000 Bezug genommen. Entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft ist dem Verurteilten in einem solchen Fall jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (BGHSt 41, 303, 305).

II.

Mit nach Aktenlage zutreffender Begründung hat die Strafvollstreckungskammer eine günstige Prognose und auch die sonstigen Aussetzungsvoraussetzungen des § 57 Abs. 1 StGB zu Recht verneint. Dennoch hat das Rechtsmittel einen vorläufigen Erfolg. Die angefochtene Entscheidung leidet an einem wesentlichen Verfahrensfehler, weil es an einer gesetzlich vorgeschriebenen mündlichen Anhörung fehlt.

Zwar hat die Strafvollstreckungskammer ordnungsgemäß nach § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO das Gutachten eines Sachverständigen über den Verurteilten eingeholt. Das Gesetz schreibt in solchen Fällen aber - zwingend - auch die mündliche Anhörung dieses Sachverständigen vor (§ 454 Abs. 2 Satz 3 StPO), um den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit zu gegen, "das Gutachten eingehend zu diskutieren und das Votum des Sachverständigen zu hinterfragen" (BT-Drs. 13/9062 S. 14). Dazu bestand hier besonderer Anlass, weil der Verurteilte sich freiwillig und über die Dauer von mehr als zwei Jahren therapeutischen Gesprächen mit dem Psychotherapeuten Dr. G. unterzogen hatte, dessen Ergebnisse dem vom Gericht beauftragten Sachverständigen Prof. Dr. G. bei Abfassung seines schriftlichen Gutachtens nicht bekannt gewesen waren, obwohl sie für ihn von Bedeutung waren (worauf der Sachverständige im Anhörungstermin vom 7. März 2000 ausdrücklich hingewiesen hatte; Bl. 117). Der Vorschrift des § 454 Abs. 2 Satz 3 StPO war deshalb nicht bereits dadurch genügt, dass Prof. Dr. G. (nur) im ersten Anhörungstermin vom 7. März 2000, der ohne Dr. G. stattgefunden hatte, angehört worden war. Er hätte vielmehr - erst Recht - im zweiten Anhörungstermin, der ja gerade deshalb durchgeführt wurde, um auch die Ergebnisse des Dr. G. verwerten zu können, anwesend sein müssen. Zu diesem Termin ist Prof. Dr. G. jedoch nicht geladen worden und deshalb auch nicht erschienen. Die unterlassene mündliche Sachverständigenanhörung im Termin vom 15. Mai 2000 ist einer völlig unterlassenen Anhörung gleichzusetzen. Die Strafvollstreckungskammer war selbst der Auffassung gewesen, dass ohne die Vernehmung des Dr. G. eine sachgerechte Beurteilung der Prognosefrage nicht möglich sei und hatte gerade deswegen einen Fortsetzungstermin anberaumt.

An der Richtigkeit dieser Einschätzung ändert auch nichts, dass Dr. G. in einem mit Verteidigerschriftsatz vom 4. April 2000 vorgelegten Schreiben vom 26. März 2000 (Bl. 122) dem Verteidiger des Verurteilten folgendes mitgeteilt hatte:

"Herr Steffen und ich haben eine Therapievereinbarung im Juli 1997 getroffen. Diese beinhaltet ausdrücklich, dass ich weder gegenüber der JVA Diez noch gegenüber Dritten irgendwelche inhaltlichen Auskünfte oder Stellungnahmen zu Ergebnissen oder "Therapieerfolgen" abgeben oder Einsicht in die Behandlungsunterlagen gewähren werde. An diese Vereinbarung halte ich mich ...".

Denn der Verurteilte hatte schon im ersten Anhörungstermin erklärt, die Unterlagen des Dr. G. könnten jederzeit eingesehen werden (worin bereits eine Entbindung von der Schweigepflicht lag); er hatte sodann mit Schriftsatz vom 4. April 2000 der Strafvollstreckungskammer nochmals ausdrücklich mitgeteilt, dass Dr. G. "hiermit von seiner ärztlichen Schweigepflicht ... entbunden" werde. Es war deshalb davon auszugehen, dass Dr. G. in dem Fortsetzungstermin, zu dem er alsdann geladen wurde (Bl. 123), sachdienliche Angaben machen würde, die für den Gerichtssachverständigen Prof. Dr. G. von Bedeutung hätten sein können und deshalb mit ihm - bei seiner (noch nicht abgeschlossenen) Anhörung - zu erörtern gewesen wären. Es ist deshalb ein unter keinem rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt nachvollziehbarer Verstoß gegen § 454 Abs. 2 Satz 3 StPO, dass Prof. Dr. G. dann gerade zu diesem weiteren und voraussichtlich entscheidenden Termin nicht hinzugezogen wurde.

Anhaltspunkte dafür, dass der Verurteilte auf die von ihm noch mit Schriftsatz vom 15. November 1999 ausdrücklich geforderte Erörterung des Gutachtens mit dem Sachverständigen Prof. Dr. G. verzichtet hätte, sind nicht ersichtlich. Weder dem Terminsprotokoll vom 15. Mai 2000 (Bl. 130) noch der angefochtenen Entscheidung ist etwas Derartiges zu entnehmen.

III.

Für das weitere Verfahren weist der Senat auf folgendes hin:

Bei der Beantwortung der Frage nach dem Fortbestehen der in der Tat zu Tage getretenen Gefährlichkeit des Verurteilten kann dem in der Beschwerdebegründung hervorgehobenen Nachtatverhalten (Schriftsatz vom 15. Juni 2000, S. 4 Mitte) keine entscheidende Bedeutung zukommen. Dass ein Täter, der, wie hier der Verurteilte, seinem Opfer in einem plötzlichen Ausbruch von Gewalttätigkeit und Sadismus schwere Qualen und Schäden zufügt, dieses Verhalten anschließend bedauert und sich dessen Konsequenzen nicht nachhaltig zu entziehen versucht, kann gerade auch für die besondere Gefährlichkeit eines solchen Täters sprechen, weil es ein Hinweis auf die Unberechenbarkeit und die Möglichkeit eines plötzlich einsetzenden Kontrollverlustes sein könnte. Der Täter derartiger Straftaten mag sein Handeln später bedauern und ihm fassungslos gegenüberstehen; seine Gefährlichkeit bliebe davon unberührt.

Ende der Entscheidung

Zurück