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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 23.05.2002
Aktenzeichen: 1 Ws 409/02
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 302
1. Ein Angeklagter kann an seiner Erklärung eines Rechtsmittelverzichts nicht festgehalten werden, wenn es aus Gründen der Gerechtigkeit oder wegen des Anspruchs des Angeklagten auf ein faires Verfahren geboten erscheint, den Grundsatz der Rechtssicherheit zurücktreten zu lassen.

2. Das kann dann der Fall sein, wenn der Angeklagte die weitreichenden Folgen eines Rechtsmittelverzichts nicht überblickt hat, weil er mit dem Verfahrensablauf und -ergebnis nicht gerechnet hatte.


OBERLANDESGERICHT KOBLENZ BESCHLUSS

Geschäftsnummer: 1 Ws 409/02 8014 Js 1410/02 - 7 Ns StA Trier

In der Strafsache

wegen Gefährdung des Straßenverkehrs pp. hier: Verwerfung der Berufung des Angeklagten ohne Hauptverhandlung

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht von Tzschoppe und die Richter am Oberlandesgericht Völpel und Summa am 23. Mai 2002 beschlossen:

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss der 7. Strafkammer des Landgerichts Trier vom 12. April 2002 aufgehoben.

Die Kosten des Verfahrens, einschließlich der notwendigen Auslagen des Angeklagten, fallen der Staatskasse zur Last (§ 467 Abs. 1 StPO entsprechend).

Gründe:

Das Landgericht hat mit der angefochtenen Entscheidung die vom Angeklagten fristgerecht eingelegte Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts Prüm vom 14. März 2002 als unzulässig verworfen, weil er nach ordnungsgemäßer Rechtsmittelbelehrung durch das Amtsgericht wirksam auf die Einlegung des Rechtsmittel verzichtet habe.

Dagegen wendet sich der Angeklagte in zulässiger Weise (§§ 322 Abs. 2, 311 Abs. 2 StPO) mit der sofortigen Beschwerde. Er ist der Auffassung, dass sein nach der Urteilsverkündung zu Protokoll der Geschäftsstelle erklärter Rechtsmittelverzicht unwirksam sei.

Das Rechtsmittel hat Erfolg. Die Berufung des Angeklagten ist zulässig. Ein wirksamer Verzicht des Angeklagten auf dieses Rechtsmittel liegt nicht vor. Die Generalstaatsanwaltschaft hat dazu wie folgt Stellung genommen:

"Gemäß § 322 StPO kann das Berufungsgericht die Berufung durch Beschluss als unzulässig verwerfen, wenn die Vorschriften über die Einlegung der Berufung nicht beachtet worden sind. Eine Berufung ist u. a. auch dann unzulässig, wenn der Beschwerdeführer zuvor gemäß § 302 StPO auf die Einlegung eines Rechtsmittels verzichtet hat (Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 322 StPO Rdnr. 1). Zwar hat der Angeklagte hier am 14. März 2002 zu Protokoll der Geschäftsstelle des Amtsgerichts - formwirksam (§§ 314, 302 Abs. 1 StPO i. V. m. 153 GVG, 24 RPflG) - erklärt, das Urteil des Amtsgerichts Prüm vom gleichen Tage anzunehmen und auf die Einlegung eines Rechtsmittels zu verzichten. Ein solcher Rechtsmittelverzicht ist nach einhelliger Auffassung auch grundsätzlich bindend, d. h. unanfechtbar und unwiderruflich (OLG Koblenz, Beschluss vom 13. April 1998 - 1 Ws 162/98).

Andererseits ist für besondere Fallgestaltungen anerkannt, dass ein Angeklagter an seiner Erklärung nicht festgehalten werden kann. Hiervon ist immer dann auszugehen, wenn es aus Gründen der Gerechtigkeit oder wegen des Anspruchs des Angeklagten auf ein faires Verfahren geboten erscheint, den Grundsatz der Rechtssicherheit zurücktreten zu lassen. Dies ist in der Vergangenheit beispielsweise angenommen worden, wenn der Rechtsmittelverzicht durch unrichtige amtliche Erklärungen oder Auskünfte veranlasst worden ist (BGHR § 302 StPO Rechtsmittelverzicht 22), dem Angeklagten vor Abgabe der Erklärung keine Möglichkeit gegeben wurde, seinen Verteidiger zu konsultieren (BGHR, § 302 Abs. 1 Satz 1 Rechtsmittelverzicht 20) oder dem Angeklagten für den Fall des Rechtsmittelverzichts Zusagen zum Gang der Strafvollstreckung und des Strafvollzuges gemacht worden sind (BGHR § 302 Abs. 1 Satz 1 Rechtsmittelverzicht 14).

Dem von dem Angeklagten am 14. März 2002 erklärten Rechtsmittelverzicht liegt ein vergleichbarer Verfahrensgang zugrunde. Er ist wegen der Art und Weise seines vom Gericht zu verantwortenden Zustandekommens unwirksam:

Gegenstand des Strafverfahrens sind zwei vorwiegend wegen Verkehrsdelikten von Amtsanwälten erhobene Anklagen. Die Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht - Strafrichter - am 14. März 2002, in deren Verlauf der Angeklagte vorläufig festgenommen wurde, dauerte insgesamt nur 35 Minuten und endete mit einer Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten. Kurze Zeit nach dem Ende der Hauptverhandlung verkündete der Strafrichter einen auf Fluchtgefahr gestützten Haftbefehl und ordnete die Untersuchungshaft gegen den Angeklagten an. Es liegt auf der Hand, dass der Angeklagte mit diesem Verfahrensgang nicht gerechnet hatte und bereits von den sich aus seiner Sicht überschlagenden Ereignissen stark beeindruckt war. In der insoweit zutreffenden Begründung des Haftbefehles wurde ihm zudem der zu erwartende Widerruf einer zweijährigen zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe vor Augen geführt.

Es ist davon auszugehen, dass der Angeklagte in dieser Situation die weitreichenden Folgen eines Rechtsmittelverzichts nicht überblickt hat. Dies hätte auch der Strafrichter erkennen können, zumal der Angeklagte noch kurz zuvor im Beistand seines ihm vom Gericht beigeordneten Verteidigers keine Erklärung zu einem Rechtsmittelverzicht abgegeben hatte. Es war vielmehr die Einlegung der Berufung vereinbart. Da sich auch aus dem Ablauf der Geschehnisse keine nachvollziehbare Erklärung für einen plötzlichen Sinneswandel ergibt, war naheliegend, dass der Verzicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels lediglich von der Erwartung geringfügig erleichterter Haftbedingungen bei der Verbüßung von Freiheitsstrafe gegenüber dem Vollzug von Untersuchungshaft getragen sein musste und übereilt erfolgte.

Obwohl sich der Pflichtverteidiger in Kenntnis des Haftprüfungstermins nach dem Ende der Hauptverhandlung vom Terminsort entfernt hatte, war das Gericht vor diesem Hintergrund gehalten, auf seine Anwesenheit und Beratung des Angeklagten hinzuwirken (BGHR a.a.O. Rechtsmittelverzicht 20). Jedenfalls hätte das Gericht aus Gründen der prozessualen Fürsorgepflicht den Rechtsmittelverzicht nicht ohne - erneute - Rücksprache mit dem Verteidiger oder erst nach längerer Überlegungsfrist entgegennehmen dürfen."

Diese Ausführungen sind zutreffend. Der Senat schließ sich ihnen an.

Der angefochtene Beschluss ist damit aufzuheben.

Ende der Entscheidung

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