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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 16.03.2001
Aktenzeichen: 1 Ws 53/01
Rechtsgebiete: StGB


Vorschriften:

StGB § 56 f
Leitsatz:

Von einem Widerruf ist abzusehen, wenn sonst aufgebaute soziale und berufliche Bindungen und eine erfolgte oder begonnene Integration, die als erhebliche Grundlage zur wirkungsvollen Unterstützung einer dauerhaften Abkehr von einer kriminellen Vergangenheit anzusehen sind, gefährdet würden.


1 Ws 53/01 1011 VRs 9859/93 StA Bad Kreuznach 57 BRs 16/97 LG Trier

In der Strafvollstreckungssache

wegen Diebstahls

hier: sofortige Beschwerde gegen den Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Richter am Oberlandesgericht Völpel, die Richterin am Oberlandesgericht Hardt und die Richterin am Landgericht Schmitz

am 16. März 2001 beschlossen:

Tenor:

1. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Trier in Wittlich vom 27. Dezember 2000 aufgehoben.

2. Die durch Beschluss desselben Gerichts vom 23. Januar 1997 - StVK 59/97 - auf drei Jahre festgesetzte Bewährungszeit wird auf viereinhalb Jahre verlängert.

3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Verurteilten fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe:

I.

Der Verurteilte verbüßte aus dem Urteil des Amtsgerichts Bad Kreuznach vom 18. Mai 1994 mehr als zwei Drittel einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren wegen Diebstahls im besonders schwerem Fall in 29 Fällen und Diebstahls in zwei Fällen. In dem Urteil, das von einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit des Verurteilten ausging, war auch seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet worden, da der Verurteilte die Taten zur Finanzierung seiner Amphetaminabhängigkeit begangen hatte. Die Vollstreckung des Restes der Gesamtfreiheitsstrafe setzte die auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Trier in Wittlich durch Beschluss vom 23. Januar 1997, der seit dem 7. Februar 1997 rechtskräftig ist, auf die Dauer von drei Jahren zur Bewährung aus. Am 4. Februar 1997 wurde der Verurteilte auf Bewährung entlassen.

Am 21. November 2000 erhob die Staatsanwaltschaft Bad Kreuznach gegen den Verurteilten Anklage zum Amtsgericht Bad Kreuznach wegen Diebstahls, Diebstahls im besonders schweren Fall in neun Fällen, wobei es in einem Fall beim Versuch blieb, und wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in einem Tatzeitraum von Januar bis November 1997 (103 Js 12149/97).

Durch den angefochtenen Beschluss hat die auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Trier in Wittlich auf Antrag der Staatsanwaltschaft Bad Kreuznach am 27. Dezember 2000 die durch ihren Beschluss vom 23. Januar 1997 bewilligte Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen und ausgeführt, der Verurteilte habe durch die erneute Straffälligkeit während der Bewährungszeit, die er teilweise geständig einräume, die der Strafaussetzung zugrunde liegenden Erwartungen nicht erfüllt.

Gegen diesen dem Verurteilten am 9. Januar 2001 zugestellten Beschluss hat er durch am 16. Januar 2001 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz seines Verteidigers sofortige Beschwerde eingelegt und aufgeführt, wesentliche Anklagepunkte könnten nicht aufrecht erhalten bleiben. Auch die neuen Straftaten seien im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit begangen worden. Insgesamt sei deshalb eine Verurteilung noch nicht sicher.

Während des Beschwerdeverfahrens hat das Amtsgericht Bad Kreuznach den Verurteilten wegen Diebstahls im besonders schwerem Fall in sechs Fällen, wobei es in einem Fall beim Versuch blieb, sowie wegen Hehlerei in zwei Fällen und unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln (0,9 g Kokain, 16,2 g Amphetamin und 33,5 g Marihuana - jeweils Bruttomengen -, Tatzeit: 9. Oktober 1997) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und 10 Monaten verurteilt, die auf die Dauer von vier Jahren zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Bei den abgeurteilten, in der Zeit zwischen Januar/Februar 1997 und November 1997 begangenen Vermögensdelikten handelte es sich ausweislich der Urteilsgründe um Beschaffungskriminalität. Das Urteil ist am Tag seiner Verkündung rechtskräftig geworden.

II.

Die gemäß § 453 Abs. 2 Satz 2 StPO statthafte und auch ansonsten zulässige sofortige Beschwerde des Verurteilten hat auch in der Sache Erfolg.

Es ist nicht erforderlich, die Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56 f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB zu widerrufen. Es reicht vielmehr aus, die Bewährungszeit um die Hälfte der zunächst bestimmten Dauer zu verlängern (§ 56 f Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 StGB).

1.

Die Strafvollstreckungskammer durfte die Strafaussetzung zur Bewährung keinesfalls bereits im Dezember 2000 widerrufen. Dies hätte vorausgesetzt, dass die neuen Straftaten einschließlich der Schuldfähigkeit in einer jeden vernünftigen Zweifel ausschließenden Weise hätten festgestellt werden können. Daran fehlt es, wenn noch ungeklärt ist, ob der Proband möglicherweise zur Tatzeit infolge langjähriger Drogenabhängigkeit strafrechtlich nicht verantwortlich war (KG StV 1998, 26 f, OLG Düsseldorf StV 1986, 346; HansOLG Bremen StV 1984, 129 f). Da sich von Anfang an der Verdacht aufgedrängt hatte, dass es sich bei den erneuten Taten des Verurteilten um Beschaffungskriminalität bzw. um ein Betäubungsmitteldelikt eines langjährigen Betäubungsmittelabhängigen gehandelt hatte, konnten Zweifel an seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit nicht ausgeschlossen werden. Ein Gutachten hierzu war nicht eingeholt worden.

2.

Von einem Widerruf ist abzusehen, wenn sonst aufgebaute soziale und berufliche Bindungen und eine erfolgte oder begonnene Integration, die als erhebliche Grundlage zur wirkungsvollen Unterstützung einer dauerhaften Abkehr von einer kriminellen Vergangenheit anzusehen sind, gefährdet würden (OLG Düsseldorf StV 1994, 198; Senatsbeschluss vom 14. Februar 1997 - 1 Ws 71/97 -). Derartige zwischenzeitlich bestehende Bindungen des Verurteilten hat das Amtsgericht Bad Kreuznach in seinem Urteil vom 7. Februar 2001 festgestellt. Es hat insoweit ausgeführt, der Verurteilte habe aus eigenem Antrieb vom Drogenkonsum Abstand genommen und zwischenzeitlich versucht, ein halbwegs geordnetes Leben zu führen. Es geht von "zwischenzeitlich festzustellenden positiven Ansätzen in seiner Lebensführung" aus und nimmt damit offensichtlich Bezug auf die Einlassung des Angeklagten in der Hauptverhandlung, wonach er seit Ende 1997 keine Drogen mehr konsumiert, seinen Lebensunterhalt als Tellerwäscher in Berlin verdient, dort eine Jugendmannschaft als Fußballtrainer betreut hat und nunmehr eine Umschulung zum Computerfachmann anstrebt. Außerdem hat sich der Verurteilte, seit er sich von seinem kriminellen Umfeld in Bad Kreuznach gelöst hat, sozial zugunsten eines Vereins gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern engagiert. Er ist seit Ende 1997 strafrechtlich - von einem Ladendiebstahl abgesehen - nicht mehr in Erscheinung getreten. Diese Umstände müssen bei der Frage, ob nicht weniger einschneidende Maßnahmen als der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung ausreichen, in Rechnung gestellt werden.

Zwar ist es zulässig, auch dann gemäß § 56 f Abs. 1 StGB zu verfahren, wenn wegen der neuen Straftat Strafaussetzung gewährt wurde. Dies darf aber nur in Ausnahmefällen geschehen. Denn das Gericht, das über die neuerliche Straftat befindet und die Voraussetzungen einer Strafaussetzung zur Bewährung für gegeben hält, hat naturgemäß aufgrund des persönlichen Eindrucks vom Straftäter in der Hauptverhandlung die besseren Erkenntnismöglichkeiten hinsichtlich dessen voraussichtlichen weiteren Lebensweges. Dem steht nicht entgegen, dass sich das Amtsgericht Bad Kreuznach in seinem schriftlichen Urteil nicht näher mit den Vorstrafen des Verurteilten auseinandergesetzt hat. Das Amtsgericht hat den Bundeszentralregisterauszug des Verurteilten ausweislich der Sitzungsniederschrift in der Hauptverhandlung verlesen. Ihm war daher bekannt, dass der Verurteilte in der Zeit von 1988 bis 1994 siebenmal (darunter eine Gesamtstrafenbildung) verurteilt worden war. Neben Verurteilungen zu geringen Geldstrafen findet sich aber lediglich eine Verurteilung vom 9. Februar 1993 durch das Amtsgericht Bad Kreuznach wegen Diebstahls geringwertiger Sachen zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten, deren Strafaussetzung zur Bewährung wegen der Taten, die der Verurteilung vom 10. August 1994 zugrunde lagen, widerrufen wurde. Mit der letztgenannten Verurteilung beschäftigt sich das Urteil vom 9. Februar 2001 ausdrücklich. Demgegenüber entscheidet das die früher gewährte Strafaussetzung widerrufende Gericht im Falle des Widerrufs wegen neuerlicher Straftaten ohne den unmittelbaren und frischen Eindruck von der Täterpersönlichkeit. Diese Umstände lassen es in der Regel geboten erscheinen, sich der sachnäheren Prognose des die letzte Straftat verurteilenden Gerichts anzuschließen (BVerfG NStZ 1985, 357; Senatsbeschluss vom 14. Februar 1997 - 1 Ws 71/97 -).

Abweichendes kann regelmäßig nur dann gelten, wenn wesentliche Gesichtspunkte nicht oder völlig unzureichend bewertet wurden und deswegen die erneute Strafaussetzung zur Bewährung der Überzeugungskraft entbehrt. Davon kann jedoch nicht ausgegangen werden. Die Generalstaatsanwaltschaft weist zwar zu Recht darauf hin, dass das Amtsgericht Bad Kreuznach im Urteil vom 9. Februar 2001 seine Ausführungen zu der Frage der Strafaussetzung zur Bewährung damit eingeleitet hat, "unter Zurückstellung von erheblichen Bedenken" werde "dem Angeklagten die Vollstreckung der Strafe gemäß § 56 StGB zur Bewährung ausgesetzt". Dabei handelt es sich jedoch offensichtlich um ein Diktatversehen, denn in den folgenden Darlegungen spricht das Amtsgericht ganz eindeutig von "der begründeten Erwartung, dass der Angeklagte künftig straffrei bleibt." Diese Auffassung stützt es auf zahlreiche, teils näher ausgeführte Gesichtspunkte. Dass das Amtsgericht nicht begründet hat, weshalb es besondere Umstände im Sinne des § 56 Abs. 2 StGB für gegeben erachtet, ist im Zusammenhang mit dem Widerruf einer früheren Strafaussetzung ohne Bedeutung. Maßgeblich ist insoweit nur die Sozialprognose.

Mit Rücksicht auf die positiven Aspekte in der Entwicklung der Lebensumstände des Verurteilten erscheint es dem Senat ausreichend, die Bewährungszeit gemäß § 56 f Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StGB von drei Jahren auf das in Satz 2 der genannten Bestimmung vorgesehene Höchstmaß von viereinhalb Jahren zu verlängern. Der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes steht einer Verlängerung nicht entgegen, obwohl die ursprüngliche Bewährungszeit seit über einem Jahr abgelaufen ist. Der Verurteilte hat sich verborgen gehalten und konnte erst am 8. September 2000 festgenommen werden. Er konnte deshalb nicht darauf vertrauen, dass sich aus den in der Bewährungszeit begangenen neuen Straftaten keine negativen Folgen für die laufende Bewährung ergeben werden.

Eine Widerrufsmöglichkeit gemäß § 56 f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB wegen Verstoßes gegen Weisungen, die im Übrigen eine mündliche Anhörung des Verurteilten zur Voraussetzung hätte (§§ 454 Abs. 4 Satz 1, 453 Abs. 1 Satz 3 StPO), die die Strafvollstreckungskammer nicht durchgeführt hat, besteht nicht. Der Verurteilte hat zwar seit der zweiten Jahreshälfte 1997 keinen Kontakt zu seinem Bewährungshelfer gehalten, Wohnsitzänderungen nicht mitgeteilt und sich offensichtlich auch keiner Selbsthilfegruppe angeschlossen. Anlass zu der Besorgnis neuer Straftaten besteht deswegen jedoch nicht. Mit Ausnahme eines Ladendiebstahls, der als Gelegenheitstat zu werten ist, ist der Verurteilte seit vier Jahren nicht mehr in Erscheinung getreten.

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.

Ende der Entscheidung

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