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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 18.06.2001
Aktenzeichen: 1 Ws 569/01
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 57 I 1
Stehen bei einem Verurteilten nach wie vor zumindest pädophile Neigungen als nicht von der Hand zu weisende Möglichkeit im Raum, lässt sich die für eine Reststrafaussetzung erforderliche Wahrscheinlichkeit straffreien Verhaltens regelmäßig nicht begründen.
OBERLANDESGERICHT KOBLENZ Beschluss

Geschäftsnummer: 1 Ws 569/01

In der Strafsache

wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern hier: Aussetzung der Vollstreckung von Restfreiheitsstrafe zur Bewährung

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht von Tzschoppe, den Richter am Oberlandesgericht Völpel und die Richterin am Landgericht Schmitz

am 18. Juni 2001 beschlossen:

Tenor:

Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Trier in Wittlich vom 8. Mai 2001 wird auf seine Kosten (§ 473 Abs. 1 S. 1 StPO) als unbegründet verworfen.

Gründe:

Die angefochtene Entscheidung entspricht im Ergebnis der Sach- und Rechtslage.

Gemäß § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB kommt eine Aussetzung der Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe nur in Betracht, wenn dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann. Dabei ist gemäß § 57 Abs. 1 S. 2 StGB auch das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts zu beachten. Sexueller Missbrauch von Kindern, der von dem Verurteilten begangen worden ist und der sich nach seiner Haftentlassung wiederholen könnte, wird vom Gesetzgeber als schwerwiegendes Delikt eingestuft. Das ergibt sich aus dem Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998, durch das gerade § 57 Abs. 1 StGB seine geltende Fassung erhalten hat und die vorher gültige sog. Erprobungsklausel ("verantwortet werden kann zu erproben, ob der Verurteilte außerhalb des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird") aus der Vorschrift gestrichen worden ist. Das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit hat daher im vorliegenden Fall besondere Beachtung zu finden.

Bei der zu treffenden Zukunftsprognose, ob der Verurteilte außerhalb des Strafvollzugs abermals in gleicher oder ähnlicher Weise strafbar werden wird, sind sichere Aussagen in der Regel nicht möglich. Einerseits ist eine Reststrafaussetzung zur Bewährung nicht erst dann zu bewilligen, wenn die Strafvollstreckungskammer die sichere Überzeugung gewonnen hat, dass der Verurteilte künftig keine Straftaten mehr begehen wird, andererseits setzt eine Versagung der Vergünstigung nicht die gegenteilige Überzeugung voraus. Nach Streichung der Erprobungsklausel aus dem Gesetz muss es aber in jedem Fall wahrscheinlich sein, dass der Verurteilte sich künftig straffrei führen wird. Das Bestehen einer bloßen Chance reicht nicht mehr aus, weil Wahrscheinlichkeit, selbst auf niedrigster Stufe, mehr voraussetzt als eine bloße Chance (Senat StV 1998, 667; NStZ 1998, 591). Vorliegend lässt sich eine das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit aufwiegende Wahrscheinlichkeit künftigen Wohlverhaltens des Verurteilten nicht begründen.

Nach dem vorliegenden Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen Dr. W. und dessen mündlicher Anhörung kommt aus medizinischer Sicht allein die Verhaltensvariante der pädophilen Neigung als Erklärung für die Missbrauchshandlungen des Verurteilten in Betracht. Mit anderen möglichen Ursachen hat der Sachverständige sich, wie die Strafvollstreckungskammer in der angefochtenen Entscheidung bereits ausgeführt hat, auseinandergesetzt, sie jedoch mit begründeter Argumentation verneint. Er vermag nicht auszuschließen, dass der Verurteilte eine persistierende pädophile Neigung hat, die er sich selbst und anderen gegenüber leugnet und die weitere einschlägige Straftaten in den Bereich des Möglichen rückt. Solange diese Neigung des Verurteilten im Raum steht, lässt sich eine Wahrscheinlichkeit, er werde das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit nicht ein weiteres Mal durch einschlägige Sexualstraftaten beeinträchtigen, nicht begründen.

Die Einwände, die der Verurteilte über seinen Verteidiger gegen das Gutachten und die Person des Sachverständigen vorbringt, greifen nicht durch. Die sich aus dem schriftlichen Gutachten ergebenden Widersprüche (vgl. Senatsbeschluss vom 5. März 2001) hat der Sachverständige während seiner mündlichen Anhörung ausgeräumt, indem er den Begriff der Pädophilie näher erläutert und klargestellt hat, dass der Verurteilte nicht an einer pädophilen Devianz oder Perversion leide, sondern bei ihm nur pädophile Neigungen in Betracht kämen.

Die geäußerten Zweifel an der Sachkunde und den Untersuchungsmethoden des Sachverständigen greifen nicht durch. Der Psychiater Dr. W. ist ein anerkannter, forensisch erfahrener medizinischer Sachverständiger, dessen Sachkunde nicht durch unsubstantiierte Zweifel an seinen wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden und einen bloßen Hinweis auf eine unzureichende Dokumentation der durchgeführten Exploration in Frage zu stellen ist. Welche Bedeutung dem Explorationsergebnis zur Beantwortung des zur Beurteilung gestellten Themas beizumessen ist und ob es dabei auf eine genaue Dokumentation des Wortlauts der Befragung ankommt, unterliegt allein der sachverständigen Einschätzung des untersuchenden Arztes und nicht der Entscheidung des Verurteilten.

Der Sachverständige hat sich entgegen der Auffassung des Verurteilten auch nicht als "Entscheidungsträger" angesehen. Er hat sich vielmehr sowohl in seiner Diagnose als auch seiner Prognose zurückhaltend geäußert und sich auf Wahrscheinlichkeitsaussagen beschränkt. Daraus die rechtlichen Konsequenzen zu ziehen, bleibt allein die Aufgabe des Gerichts.

Im übrigen lässt sich die vom Verurteilten in der Beschwerdebegründung mit Nachdruck aufgestellte Behauptung, der Sachverständige habe sich bei ihm nicht nach dem äußeren Erscheinungsbild des früheren Tatopfers erkundigt und dieses nicht bei seiner Meinungsbildung berücksichtigt, schon durch bloßes Lesen seines schriftlichen Gutachtens vom 8. Januar 2001 entkräften. Aus dem zweiten Absatz auf S. 6 ergibt sich, dass er die Frage tatsächlich gestellt und vom Verurteilten zur Antwort erhalten hat, dass das Mädchen vergleichsweise weit entwickelt gewesen sei und körperlich eher einer 15- oder gar 16-Jährigen entsprochen habe. Dass der Sachverständige aus dieser Äußerung nicht die vom Verurteilten gewünschte Konsequenz gezogen und in seiner Diagnose das Vorhandensein pädophiler Neigungen verneint hat, stellt die Richtigkeit seines Gutachtens nicht in Frage. Aus den Gründen des der Vollstreckung zugrundeliegenden Urteils des Landgerichts Koblenz vom 23. Februar 1999 ergibt sich, dass der Angeklagte das bei Tatbeginn ca. 12 Jahre alte Tatopfer bereits seit dessen 2. oder 3. Lebensjahr kennt und zu ihm "ein enges verwandtschaftliches Verhältnis" unterhalten hat. Von daher ist die Annahme fernliegend, der Angeklagte könne bei seinen sich über ca. 1 1/2 Jahre erstreckenden Tathandlungen geglaubt haben, seinen Sexualtrieb an einem dem Kindheitsstadium entwachsenen Mädchen auszuleben.

Nach alledem lässt sich unter Berücksichtigung des Ergebnisses des Sachverständigengutachtens keine Wahrscheinlichkeitsprognose begründen, der Verurteilte werde außerhalb des Strafvollzugs nicht wieder wegen sexueller Missbrauchstaten straffällig werden.

Ende der Entscheidung

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