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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 19.09.2002
Aktenzeichen: 1 Ws 650/02
Rechtsgebiete: StPO, UVollzO


Vorschriften:

StPO § 119 III
UVollzO Nr. 60
UVollzO Nr. 63
1.Für die Auslegung und Anwendung des § 119 Abs. 3 und Abs. 4 StPO ist entscheidend, dass das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der den Vollzug der Untersuchungshaft in besonderem Maß beherrscht, eine Abwägung aller Umstände des Einzelfalles gebieten. Beschränkungen sind nur zulässig, wenn sie erforderlich sind, um eine reale Gefahr für die in § 119 Abs. 3 und 4 StPO genannten öffentlichen Interessen abzuwehren und dieses Ziel nicht mit weniger eingreifenden Maßnahmen erreicht werden kann.

2. Die Anordnung strenger Einzelhaft im Sinne der Nr. 60 Abs. 1 Ziff. 1 UVollzO setzt eine besondere (erhebliche) Verdunklungsgefahr voraus. Allein der Umstand, dass Verdunklungshandlungen nicht völlig auszuschließen sind, kann diese Maßnahme nicht rechtfertigen.

3. Anlass für besondere Maßnahmen nach Nr. 60 UVollzO kann nur ein unlauteres Verhalten der Person sein, gegen die sie angeordnet werden sollen.


OBERLANDESGERICHT KOBLENZ BESCHLUSS

Geschäftsnummer: 1 Ws 650/02 2010 Js 6855/00 StA Koblenz

In der Strafsache

wegen Verabredung zum Verbrechen des Mordes u.a. hier: besondere Sicherungsmaßnahmen

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht von Tzschoppe, die Richterin am Oberlandesgericht Hardt und den Richter am Oberlandesgericht Summa

am 19. September 2002 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde des Angeklagten wird die Anordnung des Vorsitzenden der 3. Strafkammer des Landgerichts K. vom 15. August 2002 dahin abgeändert, dass die strikte Trennung von allen Mitgefangenen und das Verbot der Teilnahme an gemeinsamen Veranstaltungen einschließlich der Hofstunde entfallen. Maßnahmen nach Nr. 22 Abs. 2 UVollzO bleiben unberührt.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten trägt die Staatskasse.

Gründe:

I.

Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 17. Januar 2000 ununterbrochen in Untersuchungshaft.

Im neugefassten Haftbefehl des Amtsgerichts K. vom 2. November 2000 und in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft K. vom 29. Januar 2001 werden ihm zahlreiche schwerwiegende Straftaten zur Last gelegt, die im Falle einer Verurteilung mit einer 10 Jahre übersteigenden Gesamtfreiheitsstrafe geahndet werden könnten. Seit dem 14. August 2001 findet vor der 3. großen Strafkammer des Landgerichts K. die Hauptverhandlung statt, deren Ende nicht abzusehen ist.

Die Untersuchungshaft wurde zunächst - bei Unterbringung in einer Gemeinschaftszelle - in der Justizvollzugsanstalt K. vollzogen. Mit der Verlegung in die Justizvollzugsanstalt W. am 14. November 2000 wurden besondere Sicherungsmaßnahmen angeordnet, die anschließend auch in der Justizvollzugsanstalt T. galten. Dazu gehörten die strikte Trennung von allen Mitgefangenen und das Verbot der Teilnahme am gemeinschaftlichen Veranstaltungen.

Mitte August 2001 wurde der Beschwerdeführer in die Justizvollzugsanstalt M. verlegt.

Am 14. August 2001 beantragte die Justizvollzugsanstalt die Genehmigung folgender Sicherungsmaßnahmen:

"1. Haftraum

Der Gef. wird bei seinem Eintreffen durchsucht und in Anstaltskleidung umgekleidet. Er wird in dem Einzelhaftraum 120 untergebracht. Der Haftraum und die Kostklappe werden jeweils durch ein Vorhängeschloss gesichert.

Dem Gef. dürfen nur anstaltseigene Gegenstände überlassen werden. Das Recht, eigene Kleidung/Wäsche zu benutzen sowie Pakete zu empfangen, ist ihm untersagt.

Der Haftraum ist mindestens einmal wöchentlich zu durchsuchen.

2. Bewegung im Hafthaus

Vor jeder Öffnung des Haftraumes ist der Gef. durch die Kostklappe an den Händen zu fesseln. Das Öffnen der Haftraumtür und die Führung des Gef. im Hafthaus darf nur mit zwei Bediensteten erfolgen. Der Gef. bleibt dabei gefesselt.

Nach jedem Verlassen des Haftraumes ist der Gef. auf der Kammer zu durchsuchen und umzukleiden. Danach sind ihm die Hände auf dem Rücken zu fesseln. Der Gef. darf an keinerlei gemeinsamen Veranstaltungen teilnehmen. Es ist strikt darauf zu achten, dass der Gef. keinen Kontakt zu Mitgefangenen hat.

3. Hofgang

Der Gef. erhält eine Einzelhofstunde. Vor und nach jeder Hofstunde ist der Gef. zu durchsuchen und umzukleiden. Die Hofstunde muss lt. Anweisung des MdJ von zwei Bediensteten überwacht werden (keine Dienstanfänger für die Überwachung einsetzen). Es ist darauf zu achten, dass der Gef. während der Hofstunde keinen Kontakt zu Mitgefangenen aufnimmt. Die Hofstunde ist für jeden Fall der Kontaktaufnahme durch Gespräche, Gesprächsfetzen oder Gesänge abzubrechen.

4. Besuche

Besuche werden akustisch von der Polizei überwacht. Sie finden im Besuchsraum Nr. 2 statt. Zusätzlich erfolgt die ständige Überwachung durch einen Bediensteten. Der Gef. bleibt während des Besuches an den Händen gefesselt (auf dem Rücken).

Bei Verteidigerbesuchen wird der Gef. an den Füßen gefesselt. Ein Bediensteter verbleibt zur ständigen Beobachtung vor der Tür.

Vor und nach jedem Besuch (auch Verteidigerbesuch) ist der Gef. zu durchsuchen und umzukleiden.

5. Vor- und Ausführungen

...........

6. Andere Gefangene

Bei sämtlichen Gef., die den Wirtschaftshof betreten, ist darauf zu achten, dass sie keinen Kontakt zu St. aufnehmen.

Bei der Müllentsorgung durch die als Hausarbeiter eingesetzten Gefangenen muss ein zweiter Bediensteter hinzugezogen werden. Er betritt den Wirtschaftshof vor den Hausarbeitern und kontrolliert, dass St. keine Kassiber wirft, bzw. schon geworfen hat.

Bei den Durchsuchungen der Gef., die im Werkbereich eingesetzt sind, ist besonders auf etwaige Kassiber zu achten."

Diese Sicherungsmaßnahmen wurden vom Vorsitzenden am 15. August 2002 weitgehend genehmigt. Von der Genehmigung ausgenommen war nur die Fesselung des Angeklagten innerhalb des Haftgebäudes. Weitere Anordnungen des Vorsitzenden betreffen besondere Sicherungsvorkehrungen für den Transport zwischen Justizvollzugsanstalt und Gericht sowie für die Hauptverhandlung.

Am 18. September 2002 wurde der Beschwerdeführer in die Justizvollzugsanstalt F. verlegt. Die besonderen Sicherungsmaßnahmen sollen auch dort gelten.

II.

Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 12. Juli 2002 legte der Angeklagte gegen die Anordnung des Vorsitzenden vom 15. August 2001 Beschwerde ein,

"soweit darin ein Verbot ..... enthalten ist, an gemeinsamen Veranstaltungen teilzunehmen sowie eine strikte Trennung zu den Mitgefangenen angeordnet wurde. Dies betrifft auch und insbesondere den derzeit angeordneten getrennten Hofgang."

Der Vorsitzende hat der Beschwerde am 31. Juli 2002 - ohne Begründung - nicht abgeholfen. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 29. August 2002 hat er, ohne Näheres dazu mitzuteilen, auf eine "Gefährlichkeitsprognose der Polizei" sowie die "Einschätzung der JVA M." hingewiesen.

Die Justizvollzugsanstalt M. hat nach Aktenlage keine eigene Einschätzung abgegeben. Im August 2001 hatte sie sich darauf berufen, der Beschwerdeführer werde "seitens des dortigen Gerichts als erhöht fluchtgefährdet eingestuft" (Bl. 8 SB "Sicherungsmaßnahmen St."). In einem Schreiben an das Landgericht K. vom 19. Juli 2002 (Bl. 100 SB "Sicherungsmaßnahmen St.") hat sie sich wie folgt geäußert:

"Die dauerhafte Trennung des Untersuchungsgefangenen St. von anderen Gefangenen wurde von dortiger Seite angeordnet. Von hier ist nicht zu prüfen, inwieweit sich die Kriterien, die zu der Anordnung geführt haben, geändert haben."

Ergänzende Ermittlungen des Senats haben keine weiteren Erkenntnisse erbracht. Insbesondere hat sich der Verdacht, dass inhaftierte "Russlanddeutsche" ein JVA-übergreifendes konspiratives Informationssystem unterhalten, nicht verifizieren lassen.

III.

Das Rechtsmittel hat Erfolg.

Gemäß § 119 Abs. 3 StPO dürfen einem Untersuchungshäftling nur solche Beschränkungen auferlegt werden, die der Zweck der Untersuchungshaft oder die Ordnung in der Vollzugsanstalt erfordert.

Für die Auslegung und Anwendung dieser Vorschrift "ist entscheidend, dass das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der den Vollzug der Untersuchungshaft in besonderem Maß beherrschen muss (BVerfGE 19, 342, 347 = NJW 66, 243), eine Abwägung aller Umstände des Einzelfalles gebieten. Beschränkungen sind danach nur zulässig, wenn sie erforderlich sind, um eine reale Gefahr für die in § 119 Abs. 3 und 4 StPO genannten öffentlichen Interessen abzuwehren und dieses Ziel nicht mit weniger eingreifenden Maßnahmen erreicht werden kann...." (BVerfG NJW 73, 1363).

Daran gemessen können die angefochtenen Sicherungsmaßnahmen nicht aufrechterhalten bleiben.

1.

Die Gründe, die der Anordnung des Vorsitzenden vom 15. August 2001 (und vorausgehenden Anordnungen) zugrunde lagen, sind dem Senat trotz eines entsprechenden Hinweises vom 22. August 2002 (Bl. 103 SB "Sicherungsmaßnahmen St.") nicht mitgeteilt worden und können folglich bei der jetzigen Entscheidung keine Berücksichtigung finden.

2.

Die angefochtenen Sicherungsmaßnahmen bewirken eine "strenge Einzelhaft" im Sinne der Nr. 60 Abs. 1 Ziff. 1 UVollzO, deren Anordnung eine besondere (erhebliche) Verdunklungsgefahr voraussetzt und folglich an den Haftgrund des § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO anknüpft. Verdunklungsgefahr liegt vor, wenn das Verhalten des Beschuldigten den dringenden Verdacht begründet, er werde durch in dieser Vorschrift bezeichnete unlautere Handlungen die Wahrheitsermittlung erschweren. Anlass für besondere Maßnahmen nach Nr. 60 UVollzO kann somit nur ein unlauteres Verhalten der Person sein, gegen die sie angeordnet werden sollen.

a) Die erfolglosen Versuche des damals in der Justizvollzugsanstalt T. einsitzenden, ebenfalls aus Kasachstan stammenden G. A., dem Beschwerdeführer Ende Januar/Anfang Februar 2002 Kassiber zukommen zu lassen, können deshalb nicht zur Rechtfertigung der angefochtenen Maßnahmen herangezogen werden. Zwar wollte A. den Beschwerdeführer offenbar dazu veranlassen, zu einem Anklagevorwurf, der auch Gegenstand des Verfahrens gegen den Beschwerdeführer ist, eine seiner - A. - Einlassung entsprechende Zeugenaussage zu machen. Es gibt aber keine Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer aktiv in diesen Vorgang involviert war oder davon wusste. Nach derzeitigem Kenntnisstand ist vielmehr davon auszugehen, dass A. nach Erhalt der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft K. vom 14. Januar 2002 von sich aus die Initiative ergriffen hatte.

b) Dass der Beschwerdeführer am 4. April 2001 versucht hatte, einen Kassiber aus der Justizvollzugsanstalt W. zu schmuggeln, rechtfertigt nicht (mehr) die Aufrechterhaltung der seit dem 14. November 2000, also seit ca. 1 Jahr und 10 Monaten, vollzogenen strengen Einzelhaft.

Es handelte sich um einen jetzt fast eineinhalb Jahre zurückliegenden Einzelfall. Der Inhalt des sichergestellten Kassibers hat keinen erkennbaren Bezug zu den gegen den Beschwerdeführer erhobenen Vorwürfen und enthält keine Anhaltspunkte für Verdunklungstendenzen. Zu berücksichtigen ist auch, dass der Beschwerdeführer die "normalen" Untersuchungshaftbedingungen während des 9-monatigen Aufenthalts in der Justizvollzugsanstalt K. nicht missbraucht hatte. Seinem Vorbringen, ein Mitarbeiter dieser Justizvollzugsanstalt habe als Zeuge in der laufenden Hauptverhandlung sein Vollzugsverhalten als "vorbildlich" bezeichnet, wurde weder vom Vorsitzenden noch von der Staatsanwaltschaft widersprochen.

Nach derzeitigem Kenntnisstand hat der Beschwerdeführer bisher keine Verdunklungshandlungen begangen. Soweit die Staatsanwaltschaft, ohne Näheres mitzuteilen, vorträgt, "einige" Zeugen hätten in der gegen den Beschwerdeführer laufenden Hauptverhandlung Falschaussagen gemacht, ist darauf hinzuweisen, dass "einige" der in der Anklageschrift vom 29. Januar 2001 benannte Auskunftspersonen nur deshalb Zeugen - im prozessualen Sinne - sind, weil gegen sie getrennte Verfahren geführt werden. Solche Zeugen können, ohne von anderen beeinflusst worden zu sein, auch im eigenen Interesse vor Gericht die Unwahrheit gesagt haben.

Es gibt auch keine hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte, die den Schluss zuließen, der Beschwerdeführer werde künftig in unlauterer Weise die Wahrheitsfindung erschweren. Allein der Umstand, dass dies nicht völlig auszuschließen ist, rechtfertigt nicht die Auferlegung von Beschränkungen im Sinne des § 119 Abs. 3 StPO (BVerfG a.a.O.).

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die konsequente Durchführung der nicht angefochtenen Sicherungsmaßnahmen (insbesondere Durchsuchung und Umkleidung nach jedem Verlassen des Haftraumes) die unkontrollierte Weitergabe schriftlicher Nachrichten durch den Beschwerdeführer zwar nicht gänzlich verhindern, aber doch soweit erschweren kann, dass ein nicht ausschließbares "Restrisiko" auch in Ansehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hingenommen werden muss.

3.

Die Anordnung strenger Einzelhaft kann auch nicht mit der Begründung gerechtfertigt werden, bei dem Beschwerdeführer bestünde in Hinblick auf die zu erwartende langjährige Freiheitsstrafe und seine Beziehungen zu - wie er - aus Osteuropa stammenden Kriminellen eine besonders hohe Fluchtgefahr.

Angesichts der nicht angefochtenen, der Fluchtgefahr Rechnung tragenden Sicherungsmaßnahmen (s. auch Nr. 63 UVollzO) ist die reale Gefahr einer Flucht aus der Justizvollzugsanstalt nicht gegeben. Spontane, aus einer als günstig eingeschätzten Situation heraus geborene Fluchtansätze lassen sich auch durch strengste Sicherungsmaßnahmen nicht gänzlich verhindern.

Besondere Risiken bestehen auf dem Transport zwischen Anstalt und Gericht sowie im Hauptverhandlungssaal. Insoweit gibt es aber spezifische Sicherheitsvorkehrungen, die im vorliegenden Verfahren nicht zur Überprüfung anstehen.

Die bloße, bisher nicht durch Tatsachen belegbare Befürchtung, der Beschwerdeführer könne über Mitgefangene schriftliche oder mündlich vermittelte Außenkontakte herstellen und so seine Befreiung in die Wege leiten, begründet keine reale Gefahr, wie sie nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Voraussetzung für besondere Beschränkungen ist.

Kosten: § 473 Abs. 1 StPO

Ende der Entscheidung

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