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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 23.10.2003
Aktenzeichen: 1 Ws 734/03
Rechtsgebiete: StGB, StPO


Vorschriften:

StGB § 56 f
StPO § 453 c I
1. Grundsätzlich kann wegen der Unschuldsvermutung nach Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK ein Widerruf gemäß § 56 f Abs. 1 Nr. 1 StGB nur dann erfolgen, wenn die erneute Straftat rechtskräftig festgestellt ist.

2. Die Unschuldsvermutung hindert das Gericht aber dann nicht am Widerruf, wenn Täterschaft und Schuld auf Grund eines glaubhaften Geständnisses, also in einer jeden vernünftigen Zweifel ausschließenden Weise, feststehen.

3. Für den Erlass eines Sicherungshaftbefehls genügt es, dass der Widerruf nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn hinsichtlich der neuen Straftaten, derentwegen gegen den Verurteilten zur Zeit ermittelt wird, jedenfalls dringender Tatverdacht i. S. von § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO besteht.


Geschäftsnummer: 1 Ws 734/03 86 VRs 9877/95 StA Mainz

OBERLANDESGERICHT KOBLENZ BESCHLUSS

In der Strafvollstreckungssache

wegen Körperverletzung mit Todesfolge hier: Sicherungshaft wegen Bewährungswiderrufs

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht von Tzschoppe, den Richter am Oberlandesgericht Völpel und den Richter am Landgericht Metzger

am 23. Oktober 2003 beschlossen:

Tenor:

Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den undatierten, vermutlich am 22. August 2003 erlassenen Beschluss (Sicherungshaftbefehl) der Strafvollstreckungskammer Diez des Landgerichts Koblenz wird auf seine Kosten (§ 473 Abs. 1 S. 1 StPO) als unbegründet verworfen.

Gründe:

Die angefochtene Entscheidung entspricht der Sach- und Rechtslage.

Die Ausführungen des Verurteilten in seiner Beschwerdeschrift liegen überwiegend neben der Sache.

Soweit er die im Sicherungshaftbefehl aufgeführten neuen Straftaten bestreitet, gilt folgendes:

Zwar wird wegen der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK) ein Widerruf nach § 56 f Abs. 1 Nr. 1 StGB in der Regel nur dann erfolgen können, wenn die erneute Straftat rechtskräftig festgestellt ist (EGMR, Urt. v. 03.10.2002 m.w.N. aus seiner Rspr.). Soweit die Senatsentscheidung vom 9. Januar 1991 (NStZ 91,253) dahin verstanden werden könnte, dies habe ausnahmslos zu gelten (so das - ablehnende - Zitat bei Meyer-Goßner, StPO, 46. A., § 453 c Rdnr. 4), also auch in Fällen, in denen sogar ein Geständnis des Verurteilten vorliegt, ist darauf hinzuweisen, dass der Senat am 9. Januar 1991 über einen (Geständnis-)Fall nicht zu befinden hatte und im übrigen auch nach jener Entscheidung in einer Vielzahl von Fällen stets die Auffassung vertreten hat, dass die Unschuldsvermutung das Gericht jedenfalls dann nicht am Widerruf hindere, wenn Täterschaft und Schuld auf Grund eines glaubhaften Geständnisses, also in einer jeden vernünftigen Zweifel ausschließenden Weise, feststehen (vgl. nur Senat, 1 Ws 86/97 vom 18.02.1997, 1 Ws 137/97 v. 10.03.1997und 1 Ws 374/97 v. 18.06.1997; in diesem Sinne auch EGMR aaO. Abschn. 65 unter Berufung auf seine unveröffentlichten Entscheidungen Nr. 12380/86 v. 05.10.1988, Nr. 12669/87 v. 11.10.1988 und Nr. 15871/89 v. 09.10.1991).

Im vorliegenden Fall kommt es darauf allerdings nicht entscheidend an. Denn hier geht es nicht um die Widerrufsentscheidung als solche, sondern lediglich darum, sich gem. § 453 c Abs. 1 StPO der Person des Verurteilten für den Fall des Widerrufs zu versichern. Dazu ist nicht erforderlich, dass der Widerruf bereits feststeht; es genügt, dass er nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen mit hoher Wahrscheinlichkeit droht (Meyer-Goßner aaO. Rdnr. 3 m. w. N.). Diese Voraussetzung ist hier schon deshalb gegeben, weil hinsichtlich der neuen Straftaten, derentwegen gegen den Verurteilten zur Zeit ermittelt wird, jedenfalls dringender Tatverdacht i. S. von § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO besteht und es ein Wertungswiderspruch wäre, diesen Umstand zwar für einen Haftbefehl nach § 112 StPO, nicht jedoch für die Wahrscheinlichkeit eines Widerrufs als Voraussetzung für einen Sicherungshaftbefehl nach § 453 c Abs. 1 StPO (sofern dessen übrige Voraussetzungen vorliegen) ausreichen zu lassen.

Der dringende Tatverdacht bezüglich der dem Verurteilten nunmehr zur Last gelegten neuen Delikte (Trunkenheit im Verkehr, Fahren ohne Fahrerlaubnis) ergibt sich daraus, dass Polizeibeamte ihn am 2. Juli 2003 um 03.30 Uhr ohne Fahrerlaubnis, jedoch mit 1,75 Promille Alkohol in der Atemluft (späterer Blutproben-Mittelwert: 1,51 mg/g) am Steuer seines Fahrzeugs, dessen Motor und Auspuff noch warm waren, an einem Ort, an dem er nicht wohnte, angetroffen haben, dass er hierfür als Erklärung angab, von einem Unbekannten dorthin chauffiert worden zu sein (und weitere Erläuterungen dazu verweigerte), und dass zwei Zeuginnen kurz zuvor der Polizei gemeldet hatten, er sei gerade eben vor ihrem Haus in betrunkenem Zustand in sein Auto gestiegen und mit diesem weggefahren. Später, so die Zeuginnen am nächsten Tag in einer Anzeige, sei er in ihre Wohnung gekommen und habe eine von ihnen mehrfach ins Gesicht geschlagen.

Angesichts dieser erdrückenden Beweislage ist eine Verurteilung des Beschwerdeführers mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten.

Es ist auch anzunehmen, dass es zum Widerruf der Strafaussetzung kommen wird. Selbst wenn die Strafvollstreckungskammer sich wegen des Bestreitens des Verurteilten angesichts des unlängst in Umlauf gelangten Urteils des EGMR vom 03.10.2002 gehindert sehen sollte, die Aussetzung ohne rechtskräftige Verurteilung wegen der neuen Taten zu widerrufen, spricht doch nach derzeitiger Aktenlage alles dafür, dass sie den Widerruf zumindest wegen Auflagen- bzw. Weisungsverstoßes nach § 56 f Abs. 1 Nr. 2 StGB aussprechen wird. Nach Angaben der Bewährungshelferin hat der Verurteilte nämlich seit 03.07.3003 jedweden Kontakt zu ihr abgebrochen. Einen festen Wohnsitz hat er ebenfalls nicht mehr. Nach seinen eigenen Angaben hat er diesen unter Verstoß gegen seine Bewährungsauflage aufgegeben, ohne seiner Bewährungshelferin einen neuen Wohnsitz anzuzeigen. Bei der Eröffnung des Haftbefehls hat er dem Direktor des Amtsgerichts Luckenwalde am 04.09.2003 (Bl. 55) eine andere als seine bisherige (gemeldete) Anschrift angegeben; angeblich soll es sich dabei um die Wohnung einer neuen Lebens(abschnitts)gefährtin handeln. Seiner Bewährungshelferin ist diese neue Adresse unbekannt; sie traf ihn zuletzt in einem Park an, wo er in alkoholisiertem Zustand genächtigt hatte (Bl. 43 f.).

Seine in der Beschwerdeschrift enthaltene Behauptung (Bl. 84), an der neuen Anschrift gemeldet und dort auch verhaftet worden zu sein, ist unwahr: Weder ist er an der neuen Anschrift gemeldet (siehe den polizeilichen Aktenvermerk Bl. 103, wonach er beim Einwohnermeldeamt am 01.07.2003 nach "unbekannt" abgemeldet wurde und eine neue Anschrift bisher nicht mitgeteilt hat), noch wurde er dort festgenommen (siehe Festnahmebericht Bl. 92). Eigenen Angaben zufolge hatte er zumindest im August 2003 die Nächte überwiegend in einem Gartenhaus zugebracht (Bl. 85).

Zu Recht geht der Sicherungshaftbefehl davon aus, es bestehe die Gefahr, dass der Verurteilte erneut erhebliche Straftaten begehen werde. Nach Entlassung aus einer Entziehungskur im Februar 2003 ist er wiederholt, einmal von seiner Bewährungshelferin (und zwar nach der Übernachtung im Park) in alkoholisiertem Zustand (Bl. 44), ein andermal von der Polizei (am Steuer seines Fahrzeugs) in eindeutig betrunkenem Zustand angetroffen worden. Die von den Zeuginnen Sch. geschilderten neuen Straftaten beging er nach deren übereinstimmenden Angaben ebenfalls in alkoholisiertem Zustand. Das war auch bei der mit äußerster Brutalität verübten Körperverletzung mit Todesfolge, derentwegen er am 29.01.1996 zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt worden war, der Fall gewesen.

Vor diesem Hintergrund ist auch nach Auffassung des Senats zu besorgen, dass der Verurteilte angesichts des drohenden Widerrufs die Flucht ergreifen, zumindest aber untertauchen wird, um dem auf ihn zukommenden Vollzug des noch offenen Strafrests zu entgehen.

Dass mildere Maßnahmen hier nicht geeignet wären, den Sicherungszweck zu erfüllen, ist offensichtlich.

Ende der Entscheidung

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