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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 15.12.2004
Aktenzeichen: 1 Ws 759/04
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 359 Nr. 5
StPO § 360 Abs. 2
StPO § 368 Abs. 1
1. Die Feststellung, das Tatgericht sei unter Ausschluss vernünftiger Zweifel von der Täterschaft des Antragstellers überzeugt gewesen, besagt lediglich, dass jenes Gericht auf Grundlage der damals erhobenen Beweise die rechtstaatlich notwendigen Voraussetzungen für eine Verurteilung als gegeben ansah. Über die Geeignetheit neuer Beweismittel besagt sie nichts.

2. Zwar ist es dem Wiederaufnahmegericht grundsätzlich nicht verwehrt, bereits im Aditionsverfahren die Beweiskraft eines neuen Beweismittels kritisch zu prüfen, allerdings nur, soweit dies ohne förmliche Beweiserhebung möglich ist. Die Grenzen der Zulässigkeit vorweggenommener Beweiswürdigung sind jedenfalls überschritten, wenn den Angaben eines Zeugen, der bei "Aussage gegen Aussage" nunmehr zugunsten des Verurteilten aussagen will, von vornherein, ohne vorherige Vernehmung, die Glaubhaftigkeit abgesprochen wird.


OBERLANDESGERICHT KOBLENZ BESCHLUSS

Geschäftsnummer: 1 Ws 759/04

In dem Wiederaufnahmeverfahren

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht von Tzschoppe, den Richter am Oberlandesgericht Summa und die Richterin am Oberlandesgericht Hardt am 15. Dezember 2004 beschlossen:

Tenor:

1. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluß der 3. Strafkammer des Landgerichts Bad Kreuznach vom 3. November 2004 aufgehoben.

2. Der Antrag des Verurteilten auf Wiederaufnahme des durch Urteil der 6. kleinen Strafkammer des Landgerichts Mainz vom 27. Februar 2004 rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens ist zulässig.

3. Die Staatskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers.

Gründe:

I.

1.

Nach Freispruch durch das Amtsgericht Alzey wurde der Beschwerdeführer auf Berufung des Nebenklägers durch Urteil des Landgerichts Mainz vom 27. Februar 2004, rechtskräftig seit dem 14. April 2004, wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 9 Monaten verurteilt, die er seit 9. Juli 2004 in der Justizvollzugsanstalt ... verbüßt.

Dem Schuldspruch liegt im wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde:

Am Abend des 5. August 2002 hielten sich der Beschwerdeführer, sein Bruder J... G........, der Nebenkläger O..... S..... und andere Personen in der Wohnung des G..... R........ - eines weiteren Bruders des Angeklagten - in A.... auf. Zwischen 23:00 Uhr und Mitternacht kam es zu einem Streit zwischen dem Angeklagten und dem Nebenkläger um eine Dose Bier. Als sich auch J... G........ einmischte, packte der Nebenkläger seine Sachen zusammen und machte sich auf den Heimweg.

Einige Minuten später verließen der Beschwerdeführer und sein Bruder J... ebenfalls die Wohnung und folgten dem Nebenkläger, dem der Beschwerdeführer aus Verärgerung einen Denkzettel verpassen wollte. Vor dem Anwesen T... in A.... nahm der Angeklagte den überraschten Nebenkläger zuerst von hinten in den Schwitzkasten, dann schlug er mit den Fäusten auf S..... ein, dessen Brille zerbrach. Nachdem S..... über einen kniehohen Jägerzaun in einen Vorgarten gefallen war, versetzte ihm der Angeklagte noch mehrere Fußtritte. Erst als Zeuge F......, der sich damals im ersten Stock des Anwesens T... aufgehalten hatte und durch laute Stimmen auf der Straße auf das Geschehen aufmerksam geworden war, rief, er werde die Polizei rufen, ließ der Angeklagte von seinem Opfer ab und lief mit seinem Bruder J... weg.

Der Nebenkläger trug neben zahlreichen Prellungen und Hämatomen eine doppelte Nasenbeinfraktur davon.

Der Beschwerdeführer hatte zwar eingeräumt, mit seinem Bruder J... die Wohnung des R........ verlassen zu haben, jedoch behauptet, man habe nur vor der Haustür eine Zigarette geraucht und den Nebenkläger überhaupt nicht mehr gesehen, geschweige denn verprügelt.

Das Landgericht folgte der Aussage des Nebenklägers, der den Angeklagten als Täter bezeichnet hatte. Der Zeuge F...... hatte zwar große Teile des Tatgeschehens wahrgenommen, den Täter allerdings nicht erkennen können. Unmittelbar nach der Tat hatte der Nebenkläger zu ihm gesagt, er sei von einem A........ G........ verprügelt worden. R........ und J... G........ machten im Strafverfahren von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch.

2.

In dem Verfahren 20 C 305/02 - AG Alzey verlangt O..... S..... Schadensersatz und Schmerzensgeld von dem Angeklagten, der als Beklagter seine Angaben aus dem Strafverfahren wiederholt hat. Im diesem Zivilverfahren haben R........ und J... G........ nicht von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht.

J... G........ hat in seiner Vernehmung vor dem Amtsgericht Alzey am 30. August 2004 die Angaben seines Bruders in vollem Umfang bestätigt.

R........ hat im Termin vom 21. Juli 2004 bekundet, der Nebenkläger habe ihm einmal gesagt, er wisse nicht, wer ihn verprügelt habe; es könnten der Beschwerdeführer und J... G........ gewesen sein, aber sicher sei er sich nicht.

Mit Urteil vom 27. September 2004 hat das Amtsgericht Alzey die Klage des Nebenklägers mit der Begründung zurückgewiesen, es sei zwar "überwiegend wahrscheinlich, aber nicht hinreichend sicher", daß der Angeklagte der Täter war.

II.

1.

Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 31. August 2004 beantragte der Beschwerdeführer - gestützt auf § 359 Nr. 5 StPO - die Wiederaufnahme des Verfahrens und trug vor, R........ und J... G........ würden nunmehr auch im Strafverfahren auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht verzichten und die im Zivilverfahren gemachten Angaben wiederholen.

Weiterhin beantragte er, gemäß § 360 Abs. 2 StPO die Unterbrechung der Vollstreckung anzuordnen und Rechtsanwalt S...... zum Verteidiger zu bestellen.

Mit Beschluß vom 3. November 2004 hat das Landgericht Bad Kreuznach, ohne auf die übrigen Anträge einzugehen, den Wiederaufnahmeantrag als unzulässig verworfen und zur Begründung ausgeführt:

"Der Antrag ist gemäß § 368 Abs. 1 StPO zu verwerfen, da der Verurteilte kein geeignetes Beweismittel im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO benannt hat.

Bei der Prüfung, ob die neuen Beweismittel geeignet sind, die in § 359 Nr. 5 bezeichneten Rechtsfolgen herbeizuführen, ist - in Grenzen - eine Vorwegnahme der Beweiswürdigung zulässig. Es ist vom Standpunkt des erkennenden Gerichts zu prüfen, ob das Urteil bei Berücksichtigung der neuen Beweise anders ausgefallen wäre (Meyer-Goßner, StPO, 46. Auflage, § 368 Rdnr. 9 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung). Dies ist zu verneinen. Das Landgericht Mainz war von der Täterschaft des Verurteilten uneingeschränkt überzeugt und hat seine Überzeugung umfassend und vernünftige Zweifel ausschließend dargelegt. Das Amtsgericht Alzey hat - nach Vernehmung der nunmehr aussagebereiten Zeugen - in seinem Urteil vom 27.09.2004 zunächst die für die Täterschaft des Angeklagten sprechenden Gesichtspunkte dargelegt und zusammenfassend die Auffassung vertreten, die aufgeführten Gesichtspunkte führten bei einer Gesamtwürdigung dazu, dass das Gericht die Täterschaft des Angeklagten zwar für ganz überwiegend wahrscheinlich halte, letztlich jedoch dennoch Zweifel verblieben, die einer Verurteilung entgegenstünden. Bei diesen Zweifeln handelt es sich - ersichtlich - um bloß theoretische Zweifel an der Schuld des Angeklagten, die nach allgemeiner Auffassung bei der Urteilsfindung nicht zu berücksichtigen sind. Es ist deshalb auszuschließen, dass eine erneute Hauptverhandlung zu einem anderen Ergebnis führen wird."

2.

Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde (§ 372 StPO) hat Erfolg.

Es bedarf keiner Darlegung, daß die jetzt als Zeugen benannten J... G........ und R........ neue Beweismittel im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO sind. Sie sind entgegen der Auffassung des Landgerichts auch geeignete Beweismittel.

a) Das Landgericht hat zwar zutreffend ausgeführt, daß grundsätzlich bereits im Aditionsverfahren eine Beweiswürdigung zulässig ist. Es hat aber keine - in dem angefochtenen Beschluß dokumentierte - eigene Beweiswürdigung unter Berücksichtigung des Wiederaufnahmevorbringens vorgenommen.

(1) Die Feststellung, das Landgericht Mainz sei unter Ausschluß vernünftiger Zweifel von der Täterschaft überzeugt gewesen, besagt lediglich, daß jenes Gericht auf Grundlage der damals erhobenen Beweise die rechtstaatlich notwendigen Voraussetzungen für eine Verurteilung als gegeben ansah. Diese Feststellung kann immer getroffen werden, wenn sich ein Verurteilter mit einem Wiedereinsetzungsantrag gegen ein rechtkräftiges Urteil zur Wehr setzt; über die Geeignetheit neuer Beweismittel besagt sie nichts.

(2) Ob die Zweifel, die die im Zivilverfahren tätige Richterin an der Täterschaft des Angeklagten hatte, bloß theoretischer Natur sind, ist - falls der Nebenkläger ein Rechtsmittel gegen das klageabweisende Urteil eingelegt haben sollte - in jenem Zivilverfahren zu klären. Selbst wenn das Zivilgericht den Zeugen J... G........ aber als Lügner qualifiziert und der Klage stattgegeben hätte, wäre die Strafkammer nicht von der Verpflichtung zu einer eigenständigen Prüfung entbunden gewesen.

b) In dem rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren stand Aussage gegen Aussage. Diese Situation hat sich nach dem - im Aditionsverfahren insoweit als richtig zu unterstellenden - Wiederaufnahmevorbringen wesentlich geändert. Nunmehr steht ein Zeuge zur Verfügung, der bereit und in der Lage ist, die Angaben des Verurteilten zu bestätigen. Ein weiterer Zeuge soll bekunden, der Verletzte habe keine sichere Erinnerung daran, von wem er geschlagen wurde. Solche Zeugenaussagen sind grundsätzlich geeignet, den rechtskräftigen Schuldspruch zu erschüttern. Anders wäre es nur dann, wenn bereits jetzt sicher festgestellt werden könnte, daß die neu benannten Zeugen bei Vernehmungen im Wiederaufnahmeverfahren vorsätzliche Falschaussagen machen würden. Dies ist hier allerdings nicht der Fall. Zwar ist es dem Wiederaufnahmegericht grundsätzlich nicht verwehrt, bereits im Aditionsverfahren die Beweiskraft eines neuen Beweismittels kritisch zu prüfen, allerdings nur, soweit dies ohne förmliche Beweiserhebung möglich ist (Senatsbeschl. v. 08.02.2000 - StV 03, 229; siehe auch BVerfG NStZ 95, 43). Die Grenzen der Zulässigkeit vorweggenommener Beweiswürdigung sind jedenfalls überschritten, wenn den Angaben eines Zeugen, der bei "Aussage gegen Aussage" nunmehr zugunsten des Verurteilten aussagen will, von vorneherein, ohne vorherige Vernehmung, die Glaubhaftigkeit abgesprochen würde (siehe KG, Beschl. v. 05.07.2001 - 4 Ws 64/01 < www.jurisweb.de>: "Die endgültige Entscheidung über die Glaubwürdigkeit des Beweismittels kann vielmehr grundsätzlich nur in einer neuen Hauptverhandlung getroffen werden."). Anders mag es sein, wenn bereits im Aditionsverfahren ohne weiteres sicher festgestellt werden kann, daß das, der Zeuge bekunden soll, nicht richtig sein kann, etwa weil es objektiv unmöglich ist oder von diesem Zeugen überhaupt nicht wahrgenommen werden konnte. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.

III.

Die Strafkammer wird somit die angebotenen Beweise zu erheben und sodann über die Begründetheit des Wiederaufnahmeantrags zu befinden haben.

Die Nichtbescheidung der übrigen Anträge des Verurteilten (s.o.) ist mit der Beschwerde(-begründung), die sich ausdrücklich nur gegen den die Unzulässigkeit des Wiederaufnahmeverfahrens aussprechende Entscheidung wendet, nicht angefochten worden. Die Entscheidungszuständigkeit liegt nach wie vor bei der Strafkammer.

Ende der Entscheidung

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