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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Urteil verkündet am 22.12.2000
Aktenzeichen: 10 U 1634/99
Rechtsgebiete: ZPO, RVO, BUZ


Vorschriften:

ZPO § 543 Abs. 1
ZPO § 97 Abs. 1
ZPO § 708 Nr. 10
ZPO § 713
RVO § 580 Abs. 3
BUZ § 2 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OBERLANDESGERICHT KOBLENZ IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

- abgekürzt gemäß § 543 Abs. 1 ZPO -

Geschäftsnummer: 10 U 1634/99 11 O 557/96 LG Trier

Verkündet am 22. Dezember 2000

Gilles, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

in dem Rechtsstreit

Der 10. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Koblenz hat durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Werner und die Richter am Oberlandesgericht Dr. Binz und Dr. Reinert auf die mündliche Verhandlung vom 1. Dezember 2000

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil der 11. Zivilkammer des Landgerichts Trier vom 21. September 1999 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Entscheidungsgründe:

I.

Die Parteien streiten darüber, ob der Kläger aus der bestehenden Berufsunfähigkeitszusatzversicherung (Bl. 11 bis 15) Leistungen wegen unfallbedingter Berufsunfähigkeit - über die zunächst freiwillig erhaltenen Leistungen hinaus - auch für die Zeit ab 1. März 1996 bis längstens 30. November 2001 (Vertragsablauf) beanspruchen kann. Die Beklagte hat bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit des Klägers von mindestens 50 % in seinem zuletzt ausgeübten Beruf als Kraftfahrer im Fernverkehr bestritten und ihn im Übrigen auf andere berufliche Tätigkeiten verwiesen.

Mit dem angefochtenen Urteil hat das Landgericht - nach Beweisaufnahme - der Klage stattgegeben. Es hat bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit festgestellt und eine Verweisungsmöglichkeit auf andere Berufe verneint (Bl. 245 bis 251).

Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten, mit der sie ihren Klageabweisungsantrag weiter verfolgt. Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens in der Berufungsinstanz wird auf die eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen (ab Bl. 264 ff.) sowie auf das Sitzungsprotokoll vom 1. Dezember 2000 Bezug genommen.

II.

Die Berufung ist unbegründet.

Das Landgericht hat der Klage mit zutreffender Begründung stattgegeben. Der Senat nimmt hierauf Bezug (§ 543 Abs. 1 ZPO). Das Berufungsvorbringen gibt keinen Anlass zu einer anderen rechtlichen Beurteilung oder zu einer ergänzenden Beweisaufnahme.

1.

Das Landgericht hat zur Feststellung der bedingungsgemäßen, Berufsunfähigkeit die notwendige Sachaufklärung durchgeführt und die Beweisergebnisse zutreffend gewürdigt. Der medizinische Sachverständige hat das vorgegebene Berufsbild sowie die gesundheitlichen Dauerfolgen aus dem Arbeitsunfall vom 12. Juni 1995 berücksichtigt und ist beanstandungsfrei zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger aufgrund der unfallabhängigen Beschwerden und Funktionsminderungen im linken Fuß und in der linken Ferse (Gutachten S. 15/18 = Bl. 220/223) voraussichtlich dauernd zumindest 50 % an der Ausübung seines früheren Berufes gehindert ist.

Die Beklagte hat erstinstanzlich nach Zuleitung des Sachverständigengutachtens in ihrer schriftsätzlichen Stellungnahme vom 15. Juni 1999 (Bl. 227 bis 230) gegen den vom Sachverständigen festgestellten Berufsunfähigkeitsgrad von mindestens 50 % keine Einwände vorgebracht und insoweit auch keine Anhörung beantragt, sondern nur noch auf Verweisungstätigkeiten abgestellt. Die erstmals in der Berufungsinstanz vorgetragenen Einwände gegen den Berufsunfähigkeitsgrad sind unbegründet. Sie geben im Übrigen auch keinen Anlass, den Sachverständigen von Amts wegen anzuhören. Das Sachverständigengutachten beruht weder auf unrichtigen Ausgangstatsachen zum Berufsbild noch auf vermeintlichen Missverständnissen oder fehlerhaften Bewertungen.

Der Kläger hat im Schriftsatz vom 13. Mai 1997 seine früheren Tätigkeiten beim Be- und Entladen der Lastzüge beschrieben (Bl. 76). Diese Sachdarstellung hat der Zeuge M bestätigt und den täglichen Zeitraum für Be- und Entladen mit ungefähr zwei bis drei Stunden angegeben (Bl. 100). Dem wegen der Unfallfolgen weiterhin auf zwei Gehkrücken angewiesenen Kläger kann nicht mehr zugemutet werden, die beschriebenen Tätigkeiten beim Be- und Entladen auszuüben; er kann weder ohne weiteres LKW-Planen aufbringen oder entfernen noch mit einer Leiter die Ladefläche rauf und runter klettern. Der Kläger hat in der Berufungserwiderung im Übrigen nachvollziehbar dargestellt, dass auch die (überwiegend) sitzende Tätigkeit beim Fahren der Lastzüge eine nicht unerhebliche Belastung des unfallbedingt geschädigten/funktionsgeminderten linken Beines und der linken Ferse mit sich bringt.

Die Belastung bei der (überwiegend) sitzenden Tätigkeit wirkt sich zwar geringer aus als bei den anderen Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem Be- und Entladen. Bei der Feststellung der Berufsunfähigkeit können die gesundheitlichen Beeinträchtigungen für die einzelnen Tätigkeiten jedoch nicht isoliert betrachtet und nach zeitlichem Umfang aufgegliedert werden. Vielmehr ist eine Gesamtwürdigung vorzunehmen, weil sich das konkrete Berufsbild aus allen Tätigkeiten zusammensetzt und bereits der Wegfall einer prägenden Einzeltätigkeit (hier: beim Be- und Entladen) zur Berufsunfähigkeit führen kann. So liegt es hier. Die Bewertung aller Umstände rechtfertigt auch aus der Sicht des Senates eine bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit, denn die festgestellten Gesundheitsbeeinträchtigungen gestatten es nicht mehr, dass der Kläger seine frühere Tätigkeit als Kraftfahrer im Fernverkehr vernünftigerweise und im Rahmen der Zumutbarkeit noch fortsetzt.

Auch der Hinweis auf das von der Berufsgenossenschaft nach § 580 Abs. 3 RVO eingeholte unfallchirurgische Gutachten vom 30. August 1996, in dem eine unfallbedingte Erwerbsunfähigkeit von 20 % angenommen worden ist (Bl. 162, 173), gibt keinen Anlass zu einer ergänzenden Aufklärung. Bei der Feststellung des MDE-Grade in der Sozialversicherung sind andere Prüfungsmaßstäbe als in der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung zugrunde zu legen, denn bei dem Berufsunfähigkeitsgrad in der Privatversicherung ist ausschließlich auf die konkrete Ausgestaltung des zuletzt ausgeübten Berufes vor Eintritt des Versicherungsfalles abzustellen. Diese Unterschiede hat der gerichtliche Sachverständige in Kenntnis des Gutachtens vom 30. August 1996 aber sehr wohl beachtet (Bl. 205, 209). Der Kläger erhält im Übrigen seit 1. April 1997 von dem Rentenversicherungsträger - nunmehr unbefristet - Rente gegen Erwerbsunfähigkeit bis zum Ablauf des Monats, in dem er das 65. Lebensjahr vollendet hat (Bl. 112, 131).

2.

Ohne Erfolg bleiben auch die Berufungsangriffe gegen die vom Landgericht verneinte Verweisungsmöglichkeit auf andere Berufe.

Die ohne hinreichende Konkretisierung benannten Verweisungstätigkeiten scheiden, trotz der von den Musterbedingungen abweichend vereinbarten Klausel (Bl. 13), aus medizinischen Gründen oder mangels Zumutbarkeit aus.

a)

Die in dem Versicherungsvertrag besonders vereinbarte "Klausel Nr. 62" ersetzt den in § 2 Abs. 1 BUZ definierten Begriff der Berufsunsfähigkeit und stellt auf einen - individuell einzufügenden - konkreten Beruf ab (hier: Kraftfahrer) sowie auf "eine andere zumutbare Tätigkeit". Der Text der vereinbarten Klausel ist von der in der Versicherungswirtschaft gebräuchlichen Tätigkeitsklausel (VerBAV 1984, 128; abgedr. in Benkel/Hirschberg, BUZ, Anh. Musterbedingungen BUZ, Buchst. f) übernommen. Die Vertragsklausel mit dem ausfüllungsbedürftigen Leerraum (für den individuell einzutragenden versicherten Beruf) ist als allgemeine Versicherungsbedingung anzusehen, denn sie ist für eine Vielzahl von Versicherungsverträgen vorformuliert (VerBAV 1984, 128). Der vorgedruckte Text steht im Vordergrund der gesamten Regelung. Der im Leerraum einzutragende versicherte Beruf ist nur noch als eine notwendige unselbständige, nicht individuell ausgehandelte, Ergänzung der Klausel anzusehen (vgl. BGH, NJW 1998, 2815/2816; Palandt, BGB, 59. Aufl., § 1 AGB-Gesetz Rdn. 9). Die für den Beklagten bestimmte und vorgedruckte Annahmeerklärung (Bl. 48) bewirkt im Übrigen ebenfalls keine Individualvereinbarung, denn die Beklagte hat dem Kläger bei Abschluss des Versicherungsvertrages die vorgenannte Vertragsbedingung "gestellt" (vgl. § 1 AGB-Gesetz).

Der unbestimmte Regelungsgehalt des in der Klausel vorformulierte Begriff einer "anderen zumutbaren Tätigkeit" ist auslegungsbedürftig. Hierbei kommt es darauf an, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnis die Versicherungsbedingung bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhanges verstehen muss (BGHZ 123, 83/85 und ständig; Römer/Langheid, VVG, vor § 1 VVG Rdn. 2). Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer wird bei dem Verständnis der "anderen zumutbaren Tätigkeit" an seine bisherige Ausbildung und an seine Kenntnisse und Fähigkeiten anknüpfen und darunter keine Tätigkeiten mit noch zu erwerbenden Kenntnissen oder Berufe unterhalb seines bereits erreichten sozialen Niveaus verstehen. Daraus folgt aber, dass die Tätigkeitsklausel in Anlehnung an die Musterbedingungen nach § 2 Abs. 1 BUZ auszulegen ist (vgl. Prölss/Martin, VVG, 26. Aufl., § 2 BUZ Rdn. 68) und dass die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Auslegung und Anwendung des § 2 Abs. 1 BUZ im Wesentlichen auch auf die vorliegend vereinbarte Klausel zu übertragen sind. Demnach obliegt es dem Versicherer, den "zumutbar" angesehenen Vergleichsberuf aufzuzeigen und die hierfür prägenden Merkmale im Einzelnen zu konkretisieren (BGH, VersR 1994, 159; BGH, NJW-RR 1995, 20). Dem Versicherungsnehmer kann dabei keine Tätigkeit angesonnen werden, die ihn über- oder unterfordert. Der Versicherungsnehmer kann insbesondere nicht auf Tätigkeiten verwiesen werden, zu deren Ausübung noch zu erwerbende künftige Kenntnisse (Umschulung/Weiterbildung) nötig sind (BGH, VersR 1997, 436/Prölss/Martin, a.a.O., § 2 BUZ Rdn. 28 und § 7 BUZ Rdn. 6).

b)

Die dargelegten Prüfungsmaßstäbe führen zu dem Ergebnis, dass die von der Beklagten angegebene Verweisungsberufe insgesamt unbeachtlich sind.

Der in der Berufungsbegründung genannte Beruf eines "Disponenten im Kraftverkehr" ist als kaufmännisch geprägter Büroberuf unzumutbar. Der Kläger hat eine langjährige Tätigkeit als Schlosser ausgeübt, danach ist er Kraftfahrer gewesen (Bl. 215). Zur Ausübung des angesonnenen Berufes müsste sich der Kläger - wie die Beklagte selbst vorträgt - (Bl. 271) erst noch entsprechende neue Kenntnisse durch Teilnahme an Kursen aneignen. Auf Tätigkeiten mit noch zu erwerbenden künftigen Kenntnissen kann der Kläger indessen nicht verwiesen werden (BGH, VersR 1997, 436). Die im ersten Rechtszug bezeichneten Verweisungsberufe hat das Landgericht im Übrigen mit zutreffender Begründung verneint.

Bei sämtlichen angesonnenen Berufen hat die Beklagte bereits ihrer Aufzeigelast nicht hinreichend genügt, denn sie hat die prägenden Merkmale und Arbeitsbedingungen für diese Berufe nicht ausreichend dargestellt (BGH, NJW-RR 1995, 20). Soweit das Landgericht die benannten Berufe gleichwohl in die Beweisaufnahme einbezogen hat, ist das unschädlich. Der gerichtliche Sachverständige hat aufgelistet (Gutachten S. 19), dass die überwiegend im Stehen oder Laufen auszuübenden Berufe dem Kläger aus medizinischen Gründen nicht mehr zuzumuten sind und er nur noch auf sitzende Tätigkeiten verwiesen werden kann. Die medizinisch noch zumutbaren sitzenden Berufe (Kontroll- und Aufsichtstätigkeiten) hat die Beklagte auch in ihrer schriftsätzlichen Stellungnahme vom 15. Juni 1999 (Bl. 227 bis 230) indessen hinsichtlich der prägenden Merkmale und Arbeitsbedingungen nicht mehr hinreichend konkretisiert. Soweit die Beklagte beanstandet, dass die von dem Sachverständigen aus medizinischen Gründen verneinten Berufe auch mit sitzender Tätigkeit verbunden seien, geht das fehl und bedurfte keiner weiteren Aufklärung mehr. Die Beklagte hat die betreffenden Verweisungsberufe (Apparatewärter, Werkzeugausgeber, Material- oder Lagerverwalter) nur allgemein umschrieben, ohne jedoch die prägenden Merkmale und Arbeitsbedingungen darzustellen. Wie der Kläger mit Recht aufzeigt und wie auch dem Senat aus anderen Verfahren bekannt ist, umfassen diese Verweisungsberufe erfahrungsgemäß auch gehende/laufende/stehende Tätigkeiten. Dass es im Einzelfall auch Arbeitsplätze geben kann, bei denen jegliche gehende/laufende oder stehende Tätigkeit entfällt, ist nicht entscheidend, denn es kommt auf die allgemein prägenden Merkmale und Arbeitsbedingungen an.

In Übereinstimmung mit dem Landgericht sind folglich die angegebenen Verweisungsberufe als unzumutbar zu verneinen.

Die Berufung ist folglich zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO).

Der Streitwert für die Berufungsinstanz und die Beschwer der Beklagten werden auf insgesamt 46.392,16 DM festgesetzt.

Dieser Betrag setzt sich wie folgt zusammen:

1. Zahlungsantrag (Rentenrückstände): 10.000 DM;

2. Feststellungsantrag für laufende Leistungen

a) monatliche Rente: 33.600 DM (1.000 DM x 12 x 3,5 x 80 %);

b) monatliche Beitragsbefreiung: 2.792,16 DM (83,10 DM x 12 x 3,5 x 80 %).

Ende der Entscheidung

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