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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Urteil verkündet am 24.11.2000
Aktenzeichen: 10 U 927/99
Rechtsgebiete: RVO, SGB VII, ZPO


Vorschriften:

RVO § 636 Abs. 1
RVO § 637 Abs. 1
RVO § 637 Abs. 4
RVO § 539 Nr. 14
SGB VII § 104 ff.
ZPO § 91 Abs. 1
ZPO § 97 Abs. 1
ZPO § 708 Nr. 10
ZPO § 713 ZPO
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OBERLANDESGERICHT KOBLENZ IM NAMEN DES VOLKES SCHLUSSURTEIL

Geschäftsnummer: 10 U 927/99 1 O 112/97 LG Koblenz

Verkündet am 24. November 2000

Schäfer, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

in dem Rechtsstreit

Der 10. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Koblenz hat durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Werner und die Richter am Oberlandesgericht Dr. Binz und Dr. Reinert auf die mündliche Verhandlung vom 20. Oktober 2000

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Koblenz vom 14. Mai 1999, soweit hierüber noch nicht im Teilurteil des Senats vom 26. Mai 2000 entschieden worden ist, wird zurückgewiesen.

2. Auf die Berufung des Beklagten zu 1. wird das vorgenannte Urteil des Landgerichts Koblenz teilweise abgeändert wie folgt:

Die Klage gegen den Beklagten zu 1. wird in vollem Umfang abgewiesen.

3. Der Kläger hat die Kosten beider Rechtszüge, soweit hierüber noch nicht im Teilurteil des Senats vom 26. Mai 2000 entschieden worden ist, zu tragen.

4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Entscheidungsgründe:

I.

Nachdem der Senat mit Teilurteil vom 26.5.2000 die Berufung des Klägers hinsichtlich der weiterverfolgten Ansprüche gegen den Beklagten zu 2. (Vater des Beklagten zu 1.) zurückgewiesen hat, streiten die Parteien jetzt nur noch darüber, ob der Kläger von dem im Tatzeitpunkt sieben Jahre alten Beklagten zu 1. als seinem damaligen Mitschüler Ersatz des materiellen und immateriellen Schadens wegen der am 21.4.1994 in der Grundschule von K (Turnhalle) erlittenen Körperverletzung beanspruchen kann.

Das Landgericht hat der Klage gegen den Beklagten zu 1. überwiegend (bis auf einen Teil des Schmerzensgeldanspruches) stattgegeben.

Mit den hiergegen eingelegten beiderseitigen Berufungen greifen die Parteien das Urteil an, soweit jeweils zu ihrem Nachteil erkannt worden ist.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf das angefochtene Urteil (Bl. 198 - 211), auf die in der Berufungsinstanz eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen (ab Bl. 253 ff) sowie auf die Sitzungsprotokolle vom 14.4.2000 (Bl. 371 - 372) und vom 20.10.2000 (Bl. 412 - 415) Bezug genommen.

II.

Die Berufung des Klägers, soweit hierüber noch nicht durch Teilurteil des Senats entschieden worden ist, bleibt ohne Erfolg.

Die Berufung des Beklagten zu 1. führt dagegen zu einer Abänderung des angefochtenen Urteils im beantragten Umfang.

Entgegen der Ansicht des Landgericht steht dem Kläger gegen den Beklagten zu 1. aufgrund der Haftungsfreistellung nach §§ 636 Abs. 1, 637 Abs. 1 und Abs. 4 i.V.m. § 539 Nr. 14 RVO bereits dem Grunde nach kein Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld (§§ 823 Abs. 1, 828 Abs. 2, 847 BGB) wegen der am 21.4.1994 in der Grundschule von K (Turnhalle) erlittenen Körperverletzung zu.

Die Klage gegen den Beklagten zu 1. ist folglich in vollem Umfang abzuweisen.

1. Bei der rechtlichen Beurteilung der schulbezogenen Tätlichkeit vom 21.4.1994 sind die Vorschriften der §§ 636, Abs. 1, 637 Abs. 1 und Abs. 4 RVO i.V.m. § 539 Nr. 14 RVO anzuwenden, denn die (teilweise abweichenden) Regelungen der §§ 104 ff SGB VII sind erst auf Versicherungsfälle ab 1.1.1997 anwendbar.

Der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung (Unfallkasse Rheinland-Pfalz) hat das streitgegenständliche Ereignis - für das Zivilgericht bindend (§ 638 RVO) - konkludent als Arbeitsunfall (Schulunfall) anerkannt, denn er hat dem Kläger - wie sich im Einzelnen aus der Auskunft vom 25.5.2000 ergibt (Bl. 400 - 406) - Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung gewährt.

Die Anerkennung als Schulunfall durch den Träger der gesetzlichen Unfallversicherung hat zur Folge, dass unmittelbare Ersatzansprüche des Klägers gegen den damals in derselben Schule tätigen Beklagten zu 1. als Mitschüler wegen des entstandenen Personenschadens gemäß § 637 Abs. 1 und Abs. 4, 636 Abs. 1 RVO ausnahmsweise nur dann bestehen können, wenn der Beklagte zu 1. den Schulunfall "vorsätzlich" herbeigeführt hat, denn die weitere Ausnahmeregelung - Eintritt des Unfalls bei Teilnahme am allgemeinen Verkehr - scheidet aufgrund der Schulbezogenheit des Ereignisses nach Sachlage von vornherein aus.

2. Der Kläger hat nicht nachweisen können, dass die grundsätzlich bestehende Haftungsfreistellung nach §§ 636 Abs. 1, 637 Abs. 1 und Abs. 4 RVO i.V.m. § 539 Nr. 14 RVO ausnahmsweise infolge eines durch den Beklagten zu 1. vorsätzlich herbeigeführten Schulunfalls entfällt.

Der Vorsatz des Schädigers muss sich nach § 636 Abs. 1 RVO (oder im Fall des hier nicht einschlägigen § 640 RVO auch die grobe Fahrlässigkeit) nicht nur auf das Schadensereignis als solches, sondern - mindestens bedingt - auch auf die Schadensfolgen erstrecken; der Schädiger muss also das Bewusstsein haben, sein Verhalten werde den schädlichen Erfolg haben (BGH, VersR 1980, 164/165 = BGHZ 75, 328). Letzteres ist hier nicht feststellbar.

Nach dem Ergebnis der im ersten und zweiten Rechtszug durchgeführten Beweisaufnahme unter Einbeziehung der beim Landgericht unterbliebenen persönlichen Anhörung der Parteien (§ 141 ZPO) zu den subjektiven Vorstellungen bei der Tatbegehung lässt sich nicht feststellen, dass der Beklagte zu 1. bei seinem mit einem Sportschuh ausgeführten Tritt gegen das Schienbein des Klägers bewusst und gewollt eine Knochenfraktur (Tibiafraktur) als Schadensfolge hat herbeiführen wollen, oder dass er - mindestens bedingt - mit dem Bewusstsein gehandelt hat, durch seinen Tritt gegen das Bein könne ein Knochenbruch entstehen und er den als möglich vorgestellten Schadenseintritt gebilligt hat.

Aus dem Anlass des von dem Zeugen bereits erstinstanzlich geschilderten äußeren Geschehensablauf sowie aus der von ihnen wiedergegebenen Ausführung des (einzigen) Tritts und aus den übrigen Umständen lässt sich nicht der notwendige Schluss auf einen entsprechenden Vorsatz ziehen, der auch Eintritt und Umfang des Schadens umfasst.

Die Tätlichkeit ist situationsbedingt zustande gekommen und Ausfluss der besonderen Schulsituation gewesen. Der Zeuge F wollte mit einem Softball, den er in Händen hatte, in der Turnhalle spielen. Der damals sieben bis acht Jahre alte Kläger wollte dies verhindern und lief deswegen hinter dem Zeugen Fahl her. Der Beklagte zu 1. hatte den Eindruck, dass der Kläger dem Zeugen F den Ball abnehmen wollte; er ist deshalb von der Seite auf den Kläger zugelaufen, um ihn aufzuhalten. An den (einmaligen) Tritt gegen das Schienbein des Klägers hat der Kläger zwar heute keine konkrete Erinnerung mehr. Für die Bewertung der subjektiven Vorstellungen ist indessen die auch durch die äußeren Umstände nachvollziehbare Tatsache maßgebend, dass der Beklagte zu 1. mit seiner - allerdings überzogenen - Handlung im Ergebnis den Kläger nur hat aufhalten und zu Fall bringen wollen; nach seiner damals noch kindlichen Vorstellung hat er lediglich verhindern wollen, dass der Kläger dem Zeugen den Ball abnimmt.

Dass der mit einem Sportschuh und im beiderseitigen Bewegungsablauf ausgeführte Tritt gegen das Schienbein grundsätzlich gefährlich ist und Verletzungen verursachen kann, genügt entgegen der Annahme des Landgerichts noch nicht, um auch einen entsprechenden Vorsatz des damals erst sieben Jahre alten Beklagten zu 1. für eine Knochenfraktur bejahen zu können. Selbst bei einem durchschnittlich entwickelten Erwachsenen (ohne besondere medizinischen Kenntnisse) mit einer entsprechenden Einsichtsfähigkeit könnte nur ein fahrlässig herbeigeführter Erfolg angenommen werden. Raufereien in der Schule sind für Kinder und Jugendliche typisch und meistens - wie auch hier - Ausfluss der besonderen Schulsituation. Dass die Beteiligten sich dabei zuweilen auch Schmerzen zufügen, wird von ihnen - wie auch hier durch die überzogene Handlung des Beklagten zu 1. - häufig sogar gewollt, mindestens billigend in Kauf genommen. Auch solche Kinder und Jugendliche wollen aber im Normalfall ihrem "Kontrahenten" keine ernsthafte, dauerhafte Verletzung zufügen (vgl. BGH, VersR 1980, 164/165). Hinreichende Tatsachen dafür, dass sich der damals sieben Jahre alte Beklagte ernsthafte und dauerhafte Verletzungen des Klägers aufgrund seines situationsbedingten einmaligem Tritt gegen das Schienbein vorgestellt und er solche gesundheitlichen Folgen billigend in Kauf genommen hat, lassen sich aus den Beweisergebnissen nicht herleiten. Sie ergeben sich im Übrigen auch nicht aus dem sonstigen Vorbringen des Klägers oder aus dem behaupteten zeitlich späteren Ereignis.

Ein Vorsatz des Beklagten zu 1., der auch Eintritt und Umfang des am 21.4.1994 entstandenen Personenschadens umfasst hat, lässt sich demgemäß nicht feststellen mit der Folge, dass ein unmittelbarer Anspruch des Klägers gegen den Beklagten zu 1. nach §§ 636 Abs. 1, 637 Abs. 1 und Abs. 4 RVO i.V.m. § 539 Nr. 14 RVO nicht besteht.

Die Klage gegen den Beklagten zu 1. ist daher unter gleichzeitiger Abänderung des angefochtenen Urteils in vollem Umfang abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Der Streitwert für die Berufungsinstanz und die Beschwer des Klägers werden - entsprechend der Streitwertfestsetzung im Teilurteil vom 26.5.2000 - auf insgesamt 43.547,72 DM festgesetzt.

Die Einzelstreitwerte für die beiderseitigen Berufungen setzen sich wie folgt zusammen:

Berufung des Klägers: 8.000,-- DM (weiteres Schmerzensgeld); Berufung des Beklagten zu 1.: 35.547,72 DM Zahlung: 3.547,72 DM; Schmerzensgeld: 2.000,-- DM; Feststellung: 30.000,-- DM.

Ende der Entscheidung

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