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Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Urteil verkündet am 25.11.2002
Aktenzeichen: 12 U 1429/01
Rechtsgebiete: StVO, StVG, ZPO


Vorschriften:

StVO § 8 Abs. 1
StVO § 8 Abs. 1 S. 1
StVO § 10
StVO § 10 S. 1
StVG § 7 Abs. 2
StVG § 17
ZPO § 92 Abs. 1
ZPO § 543 Abs. 2 n.F.
ZPO § 708 Nr. 10
ZPO § 713
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Oberlandesgericht Koblenz IM NAMEN DES VOLKES Urteil

Aktenzeichen: 12 U 1429/01

Verkündet am: 25.11.2002

in dem Rechtsstreit

wegen Schadensersatzes aus einem Verkehrsunfall.

Der 12. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Koblenz hat durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dierkes, den Richter am Oberlandesgericht Dr. Wohlhage und die Richterin am Oberlandesgericht Frey auf die mündliche Verhandlung vom 4. November 2002

für Recht erkannt:

Tenor:

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil der Einzelrichterin der 7. Zivilkammer des Landgerichts Koblenz vom 13. August 2001 teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 5.692,32 EUR (= 11.133,21 DM) nebst 4 % Zinsen aus 5.077,66 EUR (= 9.931,04 DM) ab dem 21. Februar 2000, aus weiteren 468,98 EUR (= 917,25 DM) ab dem 13. April 2000 und aus weiteren 145,68 EUR (= 284,93 DM) seit dem 25. September 2001 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.

II. Von den Kosten des Rechtsstreits haben die Klägerin 1/4 und die Beklagten als Gesamtschuldner 3/4 zu tragen.

III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Entscheidungsgründe:

Am 12. Januar 2000 gegen 12.30 Uhr befuhr der Sohn, der Klägerin mit deren PKW die W.......straße in M..... Zu gleicher Zeit näherte sich mit ihrem PKW von rechts auf der S........... Straße die Beklagte zu 1), die ohne anzuhalten nach rechts in die W........straße einbog, wobei es zum Zusammenstoß mit dem Fahrzeug der Klägerin kam.

Gegenüber dem asphaltierten Belag der W.......straße weist die Fahrbahn der S........... Straße ein Verbundsteinpflaster auf und stößt schließlich über einen sogenannten abgesenkten Bordstein an die Fahrbahn der W.......straße.

Die Klägerin begehrt von dem Beklagten Ersatz ihres gesamten materiellen Schadens und macht geltend, dass die Beklagte zu 1) hätte anhalten müssen, weil sie in die W.......straße nur über einen abgesenkten Bordstein einfahren konnte (§ 10 StVO). Die Beklagten berufen sich demgegenüber unter Hinweis auf das unstreitige Fehlen einer anderweitigen Vorfahrtsregelung auf das Vorfahrtsrecht des von rechts Einbiegenden (§ 8 Abs. 1 StVO).

Das Landgericht hat der auf Zahlung von 14.464,38 DM nebst Zinsen gerichteten Klage nur in Höhe von 3.972,41 DM nebst Zinsen entsprochen. Es hat eine Ortsbesichtigung durchgeführt und daraufhin die Auffassung vertreten, dass die Beklagte zu 1) vorfahrtsberechtigt gewesen sei. Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin, mit der sie weiterhin vollen Schadensersatz erstrebt.

Das Rechtsmittel ist zum überwiegenden Teil begründet.

Der Beklagten zu 1) stand nicht das Vorfahrtsrecht des von rechts Einbiegenden gemäß § 8 Abs. 1 S. 1 StVO zur Seite. Da sie nur über einen abgesenkten Bordstein die W.......straße erreichen konnte, war sie nach § 10 S. 1 StVO gehalten, die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen, was gleichzeitig bedeutet, dass sie nicht vorfahrtsberechtigt sein konnte.

Zu seiner gegenteiligen Auffassung ist das Landgericht gelangt, weil es der Meinung war, dass durch tatsächliche Überprüfung der gegebenen Verkehrsverhältnisse der Regelungszweck des § 10 StVO beachtet werden müsse, der nur auf die besondere Gefahrenlage abstelle, die beim Einfahren von außerhalb der Fahrbahn liegenden Straßenteilen in den fließenden Verkehr entstehe. Er gelte daher für Fahrvorgänge, bei denen erst der Anschluss an den fließenden Verkehr gewonnen werden solle, nicht aber dann, wenn - wie hier - der Einfahrende seinerseits bereits als Teilnehmer des fließenden Verkehrs angesehen werden müsse. Deshalb könne hier nicht alleine auf die äußere Beschaffenheit der Straße an sich abgestellt werden; es komme darüber hinaus auch auf das für den Verkehrsteilnehmer ersichtliche "Gefüge der Straßen untereinander" an. Um dieses zu überprüfen, hat es eine Ortsbesichtigung durchgeführt.

Dieser Auffassung kann sich der Senat für Fälle der hier gegebenen Art nicht anschließen. Zwar ist der Ausgangspunkt des Landgerichts richtig, wonach es ein Grundsatz jeglicher Rechtsanwendung ist, Rechtsvorschriften nur im Rahmen ihres jeweiligen Regelungszwecks (Schutzbereichs) anzuwenden. Damit sind aber noch nicht alle Gesichtspunkte erschöpft, die bei der Frage, ob und wie eine Gebotsnorm des Straßenverkehrsrechts anzuwenden ist, beachtet werden müssen.

Schon die Vorgehensweise des Landgerichts im vorliegenden Rechtsstreit muss Zweifel an der Richtigkeit seiner Rechtsauffassung wecken. Es hat nämlich erst auf Grund einer eingehenden Ortsbesichtigung die Wertung vorgenommen, dass ein die S.......... Straße befahrender Verkehrsteilnehmer nicht lediglich untergeordnete Fahrbahnteile benutzt, sondern selbst bereits als Teil des fließenden Verkehrs betrachtet werden muss, und dass deshalb auch der abgesenkte Bordstein nicht die Wirkung haben kann, diesen fließenden Verkehr zu unterbrechen.

Eine solche Ortsbesichtigung mit nachfolgender gedanklicher Bewertung des "Gefüges der Straßen untereinander" kann ein Verkehrsteilnehmer aber in aller Regel nicht durchführen. Er muss sofort und abhängig von seiner Ortskunde entscheiden können, welche Pflichten ihn selbst und die anderen Straßenbenutzer in der jeweiligen Verkehrssituation treffen; seine persönlichen Abwägungen und Wertungen dürfen dabei im Interesse der eine inhaltlich voraussehbare und schnelle Entscheidungsfindung fordernden Verkehrssicherheit keine Rolle spielen. Im Straßenverkehr taugen als Orientierungs- und Entscheidungshilfen allein klare und eindeutige Verkehrszeichen oder ebenso klare, allgemein verbindliche Verkehrsregeln. Diese müsse gerade wegen ihrer Bedeutung als Garanten der Sicherheit des Straßenverkehrs ihrem Wortlaut gemäß angewendet werden und sind einer Relativierung durch gedankliche Auslegungsarbeit nur in äußerst engen Grenzen zugänglich. Es ist Aufgabe gerade einer Verkehrsregelung, durch einen klaren Wortlaut und einfache äußere Anknüpfungspunkte eine eindeutige Verhaltensnorm zu bieten, deren Anwendbarkeit durch die Frage, ob sie im Einzelfall sinnvoll erscheint, gerade nicht erschüttert wird. Deshalb besteht beispielsweise das Vorfahrtsrecht des von rechts Kommenden unzweifelhaft auch da, wo die durch § 8 Abs. 1 S. 1 StVO übergeordnete Straße schmal, schwer einsehbar und von geringer Verkehrsbedeutung ist.

In diesem Sinne muss auch die durch Änderungsverordnung vom 22. März 1988 (Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 36. Aufl., Rn. 3 a zu § 10 StVO) eingeführte Änderung des § 10 StVO verstanden werden, durch die alle Verkehrsteilnehmer, die über einen abgesenkten Bordstein hinweg auf eine Fahrbahn einfahren, den besonderen Sorgfaltsanforderungen des § 10 StVO unterstellt wurden. Diese Regelung kann nur den Sinn haben, in der verkehrsrechtlichen Praxis aufgetretene Zweifelsfälle durch die Anknüpfung an bestimmte äußere, leicht erkennbare Merkmale einer eindeutigen Lösung zuzuführen: Wer nur über einen - hier unstreitig gegebenen - abgesenkten Bordstein auf eine andere Fahrbahn gelangen kann, hat den Sorgfaltsanforderungen des § 10 StVO zu genügen, ohne dass noch zu prüfen ist, ob es sich bei der mit einem abgesenkten Bordstein abschließenden Zufahrt tatsächlich um einen unbedeutenden, dem fließenden Verkehr nicht zuzuordnenden Straßenteil handelt. Die Neuregelung hat gerade den Sinn, den Straßenbenutzer von dieser im Einzelfall schwierigen Prüfung zu entlasten. Es kommt deshalb gerade nicht mehr darauf an, ob tatsächlich eine untergeordnete Verkehrsfläche vorliegt; entscheidend ist, dass nach dem eindeutigen Wortlaut der Neuregelung das Vorhandensein eines abgesenkten Bordsteins jede dahinter befindliche Zufahrt unabhängig von ihrer tatsächlichen Beschaffenheit einer solchen, außerhalb des fließenden Verkehrs gelegenen von Gesetzes wegen gleichstellt (ebenso: OLG Zweibrücken VRS 82, 51; Hentschel, a.a.O., Rn. 3 a und 6 a zu § 10 StVO).

Aus allem folgt, dass die Beklagte zu 1), da die von ihr benutzte S.......... Straße nur über einen abgesenkten Bordstein auf die W.......straße führte, die in § 10 StVO normierten Pflichten zu erfüllen hatte. Sie musste deshalb den fließenden Verkehr auf der W.......straße beachten und durfte ihrerseits nur einfahren, nachdem der Sohn der Klägerin die Kreuzung passiert hatte. Dabei verdrängt § 10 StVO die Vorfahrtsregel des § 8 Abs. 1 S. 1 StVO; wer die besonderen Pflichten des § 10 StVO zu beachten hat, kann folgerichtig kein Vorfahrtsrecht für sich beanspruchen (Hentschel, a.a.O.; außerdem Rn. 35 zu § 8 StVO).

Bei der nach § 17 StVG vorzunehmenden Abwägung der beiderseitigen Verursachungsanteile kann jedoch eine Mitverantwortung der Klägerin nicht völlig außer Betracht bleiben. Der Unfall stellte für sie kein unabwendbares Ereignis gemäß § 7 Abs. 2 StVG dar, da ein Idealfahrer anstelle ihres Sohnes angesichts der örtlichen Verhältnisse langsamer als mit der zugelassenen und von ihm mindestens innegehaltenen Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h gefahren wäre. Andererseits ist dem Sohn der Klägerin aber auch kein schuldhaftes Fehlverhalten anzulasten. Eine höhere Ausgangsgeschwindigkeit als die erlaubten 30 km/h ist nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen L.... (dort: Kollisionsgeschwindigkeit 30 - 40 km/h) nicht nachweisbar. Auch hat der Sachverständige dargelegt, dass dem Sohn der Klägerin angesichts der für ihn schlechten Sichtverhältnisse nach rechts und der relativ hohen Einfahrgeschwindigkeit der Beklagten zu 1) keine Möglichkeit des Anhaltens oder Ausweichens blieb.

Dennoch kann die Betriebsgefahr des Fahrzeugs der Klägerin hier nicht vollends zurücktreten. Die Verkehrsverhältnisse waren insbesondere in Bezug auf die von rechts einmündenden Straßen unübersichtlich. Außerdem bestand mangels Verkehrsregelung durch eine eindeutige Beschilderung gerade im vorliegenden Fall die Gefahr, dass sich von rechts kommende Verkehrsteilnehmer unter Verkennung oder Unkenntnis des besonderen Regelungsgehalts des § 10 StVO irrtümlich für vorfahrtberechtigt hielten, wie es der Beklagten zu 1) geschehen ist. Unter diesen Umständen hat sich hier auch die mit dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs allein schon einhergehende Gefahr deutlich ausgewirkt, so dass der Senat eine Mithaftung der Klägerin in Höhe von 25 % für angemessen hält.

Demnach stehen der Klägerin 75 % ihres unstreitig in Höhe von 14.844,28 DM bestehenden Sachschadens zu. Deshalb sind ihr insgesamt 11.133,21 DM = 5.692,32 EUR zu zahlen.

Bei der Zuerkennung, des Zinsanspruchs sind die verschiedenen, hier in Betracht kommenden Zinslaufzeiträume berücksichtigt worden.

Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 92 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Der Streitwert des Berufungsverfahrens beträgt entsprechend dem Berufungsantrag 10.871,87 DM = 5.558,70 EUR.

Die Revision wird mangels der Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO n.F. nicht zugelassen.

Ende der Entscheidung

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