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Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Urteil verkündet am 13.01.2003
Aktenzeichen: 12 U 461/02
Rechtsgebiete: HpflG, ZPO


Vorschriften:

HpflG § 1
HpflG § 4
ZPO § 97 Abs. 1
ZPO § 543 Abs. 2
ZPO § 711
ZPO § 709
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OBERLANDESGERICHT KOBLENZ IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

Geschäftsnummer: 12 U 461/02

Verkündet am 13. Januar 2003

in dem Rechtsstreit

wegen Schadensersatzes aus einem Bahnunfall.

Der 12. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Koblenz hat durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dierkes, die Richterin am Oberlandesgericht Frey und den Richter am Amtsgericht Pitz

auf die mündliche Verhandlung vom 2. Dezember 2002

für Recht erkannt:

Tenor:

I. Die Berufungen der Klägerin und der Beklagten zu 1. gegen das Urteil der 16. Zivilkammer des Landgerichts Koblenz vom 4. März 2002 werden zurückgewiesen.

II. Von den Kosten des Berufungsverfahrens haben zu tragen:

- die Gerichtskosten die Klägerin zu 7/10 und die Beklagte zu 1. zu 3/10,

- die außergerichtlichen Kosten der Klägerin diese selbst zu 7/10 und die Beklagte zu 1. zu 3/10,

- die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1. diese selbst zu 3/10 und die Klägerin zu 7/10,

- die außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 2. die Klägerin.

III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Es dürfen abwenden:

- die Klägerin die Vollstreckung der Beklagten zu 1. gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 2.100,00 EUR und die Vollstreckung des Beklagten zu 2. gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 3.100,00 EUR,

- die Beklagte zu 1. die Vollstreckung der Klägerin gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 850,00 EUR.

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin macht als gesetzliche Unfallversicherin des O... K.......... aus übergegangenem Recht Schadensersatzansprüche geltend wegen eines Zugunfalls, der sich am 4. November 1996 im Bereich des Bahnhofs B.. ....... zugetragen hat.

Der damals 18jährige O... K.......... betrat gegen 10.57 Uhr das Bahnhofsgelände, aber nicht über das östlich der Gleise gelegene Bahnhofsgebäude, sondern von Westen her über einen "Trampelpfad", womit er sich die Benutzung einer Unterführung sowie das anschließende Durchqueren des Bahnhofsgebäudes und die Begehung einer weiteren Unterführung ersparte (vgl. Lichtbilder Bl. 62 ff. GA). Zu gleicher Zeit näherte sich ihm von links (aus Richtung K...) der Beklagte zu 2. mit einem von ihm geführten Regionalzug der Beklagten zu 1. Dieser Zug fuhr in der Regel auf dem östlich des Bahnsteigs 2 gelegenen Gleis 2 ein, an diesem Tag aber auf dem westlich des Bahnsteigs befindlichen Gleis 3, in dessen Nähe sich zu dieser Zeit O... K.......... befand. Der Beklagte zu 2. gab, als er ihn bemerkte, mehrere Warnsignale; dennoch wurde K.......... von dem Triebfahrzeug erfasst und schwer verletzt. Für seine Heilung musste die Klägerin unstreitig bisher 294.473,69 DM aufwenden.

Die Klägerin wirft den Beklagten insbesondere vor, dass die Benutzung des "Trampelpfades" nicht unterbunden worden sei und außerdem der Beklagte zu 2. bei der Einfahrt eine zu hohe Geschwindigkeit gehabt und keine Schnellbremsung vorgenommen habe.

Mit der Klage hat sie deswegen die Erstattung der Hälfte ihrer Auslagen, somit die Zahlung von 147.236,84 DM nebst Zinsen verlangt und des Weiteren die Feststellung der hälftigen Schadensersatzpflicht für alle zukünftigen Schäden. Die Beklagten sind den Vorwürfen entgegengetreten und haben die Abweisung der Klage beantragt.

Das Landgericht hat nach Durchführung einer Beweisaufnahme die Beklagte zu 1. in Höhe von 15 % für schadensersatzpflichtig angesehen und sie demgemäß zur Zahlung von 44.171,05 DM nebst Zinsen verurteilt sowie eine entsprechende Feststellung ausgesprochen. Die gegen den Beklagten zu 2. gerichtete Klage hat es wegen fehlenden Verschuldens abgewiesen.

Hiergegen haben die Klägerin und die Beklagte zu 1. jeweils Berufung eingelegt. Die Klägerin hält eine Mithaftung beider Beklagten in Höhe von mindestens 25 % für gegeben und beantragt demgemäß, unter Berücksichtigung des bereits ausgeurteilten Betrages beide Beklagten zur Zahlung von insgesamt 37.640,50 EUR (= 73.618,42 DM) nebst Zinsen zu verurteilen und eine entsprechende Feststellung bezüglich des Zukunftsschadens auszusprechen. Die Beklagten beantragen die Zurückweisung der Berufung der Klägerin; darüber hinaus verfolgt die Beklagte zu 1. als Berufungsklägerin mit ihrem Rechtsmittel weiterhin das Ziel der Klageabweisung.

Beide Berufungen haben keinen Erfolg.

Das Landgericht hat zu Recht eine 15 %ige Haftung der Beklagten zu 1. gemäß § 1 HpflG angenommen und zu Recht die Klage abgewiesen, soweit sich diese gegen den Beklagten zu 2. richtet.

Zunächst ist festzuhalten, dass der Senat mit dem Landgericht davon ausgeht, dass den Verletzten, O... K.........., ein besonders schwerwiegender Mitverschuldensvorwurf trifft. Auch für einen erst 18-Jährigen liegt es auf der Hand, dass das Betreten eines Bahngeländes über von fahrplanmäßigen Zügen befahrene Gleise hinweg große Gefahren in sich birgt. Als regelmäßiger Bahnbenutzer war ihm mit Sicherheit die unstreitige Tatsache bekannt, dass die Regionalzüge mehrfach am Tag auch auf Gleis 3 einliefen, um schnelleren Zügen das Überholen im Wege der schnellen Durchfahrt auf Gleis 2 zu ermöglichen. Wenn K.......... unter diesen Umständen die Abkürzung über den "Trampelpfad" benutzte, hatte er jeden sich nähernden Zug genau im Auge zu behalten, um rechtzeitig feststellen zu können, welches Gleis er benutzen würde.

Dennoch führt dieses ganz erhebliche Mitverschulden im vorliegenden Fall nicht zu einem vollständigen Zurücktreten der von der Beklagten zu 1. zu verantwortenden Betriebsgefahr, weil diese durch einen von der Beklagten zu 1. zu vertretenden Umstand erhöht ist.

Dieser besteht allerdings nicht in einem Verschulden des Beklagten zu 2., wie das Landgericht unter Heranziehung des nachvollziehbaren und überzeugenden Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. Ing. H...... (Bl. 122 ff. und 138 GA) im Ergebnis richtig ausgeführt hat. Gemäß seinem Gutachtennachtrag vom 9. August 2001 (Bl. 138 GA) hat der Sachverständige aus der Einsichtnahme in Sicherstellungs- und Abschlussprotokoll der Bahnpolizei ermittelt, dass die polizeiliche Auswertung des nach dem Unfall sichergestellten und jetzt nicht mehr auffindbaren Indusistreifens (Fahrtenschreiberprotokoll des hier in Rede stehenden Zuges) die Einhaltung der zulässigen Einfahrgeschwindigkeit von 60 km/h ergeben hat. Der Sachverständige selbst hat sodann durch den DB Bremsfachdienst ermitteln lassen, dass bei einer Schnellbremsung (Notbremsung) aus dieser Geschwindigkeit heraus der Zug einen Bremsweg von 150 bis 190 m benötigt. Es kann aber nicht festgestellt werden, dass der Beklagte zu 2. eine größere Sichtweite auf den Verletzten K.......... gehabt hat als die 50 m, von denen der Sachverständige ausgegangen ist. Zwar weist die Klägerin richtig darauf hin, dass der Beklagte zu 2. bei seiner noch am Unfalltag erfolgten Befragung angegeben hat, "in Höhe der Einfahrweiche nach Gleis 3" gewesen zu sein, als er K.......... zum ersten Mal bemerkte. Der Beklagte zu 2. wäre in diesem Fall tatsächlich erheblich weiter entfernt gewesen als die von dem Sachverständigen angenommenen 50 m, nämlich etwa 85 m, wie sich anhand der Skizze auf Bl. 126 GA errechnen lässt. Der Beklagte zu 2. hat aber darüber hinaus bezüglich seiner Sichtweite selbst eine metrische Angabe dahingehend gemacht, dass er sich zum Zeitpunkt des Ansichtigwerdens des K.......... etwa 30 m vor dem Bahnstein befunden habe. Diese Entfernungsangabe erscheint dem Senat wirklichkeitsnäher, weil der Beklagte zu 2. sie in der Orientierung an einem vor ihm gelegenen, deutlich sichtbaren Objekt (dem Bahnsteig) gemacht hat, während die Angabe "in Höhe der Einfahrweiche" ohnehin einen weiten Spielraum zulässt und sich zudem auf ein Objekt bezieht, das er im entscheidenden Moment gar nicht im Blick hatte. Jedenfalls ist nicht nachzuweisen, dass diese Schilderung des Beklagten zu 2., er sei 30 m vom Bahnsteig entfernt gewesen, unrichtig ist. Da sich der Unfall nur wenige Meter unterhalb des Beginns des Bahnsteiges ereignet hat (bei Streckenkilometer 62.430), ergibt sich eine nachweisbare Sichtstrecke des Beklagten zu 2. von jedenfalls nicht mehr als 50 m (vgl. Skizze Bl. 126 GA). Unter diesen Umständen liegt auf der Hand, dass der Beklagte zu 2. keine Aussicht hatte, den Zug durch eine Schnellbremsung noch zum Stehen oder wenigstens einer bedeutenden Verlangsamung zu bringen. Deshalb kann ihm kein Vorwurf daraus gemacht werden, dass er sich nach seinen Vorschriften richtete und lediglich Warnsignale gab, um zu bewirken, dass K.......... rechtzeitig die Gleise verließ.

An diesem Ergebnis ändert sich nichts Entscheidendes, wenn man - was der Sachverständige nur vermutet - mit in Rechnung stellt, dass der Beklagte zu 2. die gewöhnliche Bremsung zum planmäßigen Halten schon eingeleitet hatte. Wie bereits ausgeführt, ist eine Einfahrgeschwindigkeit in den Bahnhof von 60 km/h festgehalten. Dies entspricht auch den Angaben des Beklagten zu 2. bei seiner Befragung (Bl. 25 GA). Eine andere Betrachtungsweise ergäbe sich im Übrigen sogar dann nicht, wenn die Sichtstrecke des Beklagten zu 2. ausgedehnt würde bis auf den südlichen Beginn der Einfahrweiche. K.......... wäre dann auf eine Entfernung von ca. 85 m zu sehen gewesen. Auch innerhalb dieser Strecke hätte der Zug nicht annähernd zum Stillstand gebracht werden können. Dem Beklagten zu 2. kann nach allem weder angelastet werden, mit einer höheren als der zulässigen Einfahrgeschwindigkeit gefahren zu sein, noch, pflichtwidrig eine Notbremsung unterlassen zu haben. Deshalb ist unter dem Gesichtspunkt des Fehlverhaltens des Zugführers die von der Beklagten zu 1. zu vertretende Betriebsgefahr nicht erhöht.

Der Senat ist aber mit dem Landgericht der Meinung, dass die Beklagte zu 1. für eigenes Fehlverhalten einstehen muss. Dieses ist darin zu sehen, dass sie das irreguläre und höchst gefahrvolle Betreten des Bahngeländes mittels des "Trampelpfades" nicht unterbunden hat.

Zwar ist in der EBO (Eisenbahnbetriebsordnung) eine Einzäunung des Bahngeländes grundsätzlich nicht vorgesehen; sie wäre auch unzumutbar. Die Beklagte zu 1. hat also nicht gegen die Regeln der Technik verstoßen oder den üblichen Sicherheitsstandard unbeachtet gelassen. Darüber hinaus ist es ein feststehender Grundsatz der zur Verkehrssicherungspflicht ergangenen Rechtsprechung, dass der Pflichtige nicht mit unzulässigem und verbotenem Verhalten Dritter zu rechnen braucht. Jedoch kann dies nicht ausnahmslos gelten und insbesondere dann nicht, wenn es sich aufgrund der besonderen Umstände des Falles um ein naheliegendes, voraussehbares Fehlverhalten Dritter handelt (OLG Köln, VersR 1992, 1241; vgl. auch OLG Frankfurt/Main, VersR 1994, 114).

Diese Voraussetzungen für die Bejahung eines Ausnahmefalls sind vorliegend ganz augenfällig gegeben. Wie das Landgericht bei seinem Ortstermin selbst feststellen konnte und im Übrigen auch nicht bestritten ist, wird der "Trampelpfad" mehrmals in der Stunde von Bahnkunden benützt, weil sie dem besonderen Anreiz erliegen, dass sie sich so den vermeintlichen Umweg über die vorhandene Unterführung und anschließend durch das Bahnhofsgebäude ersparen können. Es handelt sich dabei offenbar um einen seit langem bestehenden, unter den Augen der Bediensteten gewissermaßen eingebürgerten Zugang zum Bahnhofsgelände, der gerade nicht nur in seltenen und unvoraussehbaren Ausnahmefällen genutzt wird. Dabei liegt die Gefahr auf der Hand, dass es sich hierbei um Personen handelt, die, weil sie verspätet oder generell leichtsinnig sind, nicht bedenken, dass nicht nur die Gleise 1 und 2, sondern auch des Öfteren Gleis 3 befahren wird. Lautsprecherwarnungen und gelegentliche Ansprache durch Bahnbedienstete - wie sie die Beklagte zu 1. wohl zuweilen durchführen lässt -, sind offensichtlich nicht geeignet, dem bekannten und immer wieder leicht zu beobachtenden Missstand abzuhelfen. Wie der vorliegende Fall zeigt, ist aber die Benutzung dieses unkontrollierten, "wilden" Zugangs insbesondere in Ansehung Jugendlicher und/ oder eiliger Bahnkunden so gefährlich, dass die Beklagte zu 1. Abhilfemaßnahmen ergreifen musste, soweit diese irgend zumutbar waren. Hierzu hat das Landgericht unwidersprochen festgestellt, dass beispielsweise ein 30 - 50 m langer Zaun ausgereicht hätte, das unkontrollierte Betreten der Gleise zu verhindern. Mit einer solchen Maßnahme würde der Beklagten zu 1. nichts wesentlich anderes auferlegt als jedem anderen privaten Betreiber einer gefährlichen Einrichtung. Sie kann deshalb nicht als unzumutbar betrachtet werden.

Da die Beklagte zu 1. aus den genannten Erwägungen heraus eine die gewöhnliche Betriebsgefahr übersteigende Mitverantwortung trifft, kann sie auch im Rahmen der nach § 4 HpflG vorzunehmenden Gesamtabwägung trotz des gewichtigen mitwirkenden Verschuldens des Verletzten von einer Mithaftung nicht völlig entlastet werden. Dieser Gewichtung der beiderseitigen Mitverursachungsanteile entspricht die vom Landgericht angenommenen Mithaftungsquote der Beklagten zu 1. von 15 %.

Nach allem hat die Beklagte zu 1. der Klägerin 15 % des entstandenen und noch entstehenden Schadens zu ersetzen. Gegen den Beklagten zu 2. bestehen allerdings, wie aus den obigen Ausführungen ohne Weiteres folgt, keine Ansprüche.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, diejenige über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 711, 709 ZPO.

Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 38.918,73 EUR (= 76.118,42 DM) festgesetzt (73.618,42 DM Zahlungsanträge; 2.500,00 DM Feststellungsanträge).

Die Revision wird mangels der Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht zugelassen.

Ende der Entscheidung

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