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Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 25.11.2009
Aktenzeichen: 2 U 754/09
Rechtsgebiete: Verordnung Nr. 261/2004, BGB


Vorschriften:

Verordnung Nr. 261/2004 vom 11.02.2004 Art. 7 Abs. 1 b)
Verordnung Nr. 261/2004 vom 11.02.2004 Art. 5
Verordnung Nr. 261/2004 vom 11.02.2004 Art. 6 Abs. 1 a)
Verordnung Nr. 261/2004 vom 11.02.2004 Art. 6 Abs. 1 b)
Verordnung Nr. 261/2004 vom 11.02.2004 Art. 6 Abs. 1 c)
Verordnung Nr. 261/2004 vom 11.02.2004 Art. 2 l
Verordnung Nr. 261/2004 vom 11.02.2004 Art. 12 Abs. 1 S. 2
BGB § 275
BGB § 283
BGB § 280 Abs. 3
BGB § 281
BGB § 254
1. Zur Abgrenzung einer ausgleichspflichtigen Annullierung von einer nicht ausgleichspflichtigen Verspätung eines Fluges.

2. Erhalten die Passagiere nach einer unplanmäßigen Landung in Gerona (Spanien) zunächst die Auskunft, dass sie mit Bussen in das 750 km entfernte Anflugsziel nach Murcia (Spanien) transportiert werden und wird entgegen der Ankündigung der Flug doch mit einem Ersatzflugzeug und einer Ankunftsverzögerung am Zielort von 7 bis 8 Stunden fortgesetzt, liegt keine bloße Verspätung, sondern eine Annullierung des Fluges vor.


Oberlandesgericht Koblenz

Hinweisverfügung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO

Vom 25.11.2009

Rechtskräftig durch Rücknahme der Berufung

- 2 U 754/09 -

Gründe:

Der Senat hat die Sache beraten. Er erwägt die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückzuweisen. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht. Die Berufung hat auch keine Aussicht auf Erfolg. Die Gründe werden nachfolgend dargestellt. Der Beklagten wird eine Frist zur Stellungnahme gesetzt bis zum 18. Dezember 2009. Es wird angeregt, zur Vermeidung weiterer Kosten die Berufung zurückzunehmen.

I.

Der Kläger buchte für sich und seine Lebensgefährtin bei der beklagten Fluggesellschaft einen Hin- und Rückflug von Frankfurt/Hahn nach Murcia/Spanien. Der Hinflug war für den 27.09.2007, 13.50 Uhr, die Ankunft am Zielflughafen für 16.30 Uhr geplant (GA 2). Die Maschine startete um 14.00 Uhr in Hahn. Aufgrund technischer Probleme musste das Flugzeug gegen 15.35 Uhr in Girona/Spanien unplanmäßig landen (GA 2). Die Passagiere verblieben bis 16:45 Uhr in der Maschine (GA 2). Die Passagiere verließen sodann das Flugzeug, um die Koffer in Empfang zu nehmen und auszuchecken. Es erfolgte eine Durchsage, wonach ab 18.00 Uhr Busse bereit stünden, um die Fluggäste zum Flughafen nach Murcia weiterzubefördern. Der Kläger und seine Lebensgefährtin nahmen sich am Flughafen in Girona einen Mietwagen und traten die Reise in das 750 km entfernte Murcia an, um noch einen Konzerttermin in Murcia um 22.00 Uhr wahrzunehmen (Anlage 5, GA 10), für den sie bereits Karten hatten. Sie trafen jedoch erst gegen Mitternacht in Murcia ein (GA 41 23.00 Uhr Alicante).

Der Kläger hat die Beklagte auf Ausgleichszahlungen nach der EU-VO 261/2004 sowie Schadensersatz in Anspruch genommen. Die Parteien streiten darüber, ob eine Annullierung oder nur eine Verspätung des Fluges vorliegt.

Der Kläger hat vorgetragen, am Informationsschalter in Girona habe niemand sagen können, wie die Fluggäste nach einer 750 km langen Busfahrt zum Zielflughafen Murcia um 3.00 Uhr nachts zu ihren Bestimmungsorten hätten gelangen können. Deshalb habe er sich aufgrund der ungewissen Situation nach Rücksprache mit der Mietwagenfirma entschlossen, bereits den Mietwagen in Girona in Empfang zu nehmen und nach Murcia zu fahren.

Der Kläger hat beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an ihn 1.286,46 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.11.2007 zu zahlen.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat vorgetragen, der streitgegenständliche Flug sei durchgeführt worden. Infolge der außerplanmäßigen Landung in Girona und des Weiterflugs der übrigen Passagiere mit einem Ersatzflugzeug liege keine Annullierung, sondern nur eine Verspätung des Fluges vor. Die Passagiere seien mit einem anderen Flugzeug nach Alicante und von dort aus mit dem Bus nach Murcia befördert worden. Der ursprünglich anzufliegende Flughafen Murcia habe aufgrund eines Nachtflugverbotes nicht angeflogen werden können. Die anderen Passagiere seien nach Alicante geflogen, wo sie um 22.35 Uhr (Movement Sheet, Flug 4468, B 1, GA 35) eingetroffen seien. Von dort aus seien die Passagiere mit Reisebussen in das ca. einstündig entfernte Murcia befördert worden. Der Kläger, der - unstreitig - den Flug von Girona nach Alicante nicht wahrgenommen habe, habe gegen die ihm obliegende Schadensminderungspflicht verstoßen. Der Flug sei pünktlich gestartet und die Passagiere seien nur mit einer Verspätung von 4,5 Stunden zu dem vereinbarten Zielort transportiert worden.

Das Landgericht hat der Klage entsprochen und den Beklagten verurteilt, an den Kläger 1.28646 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 01.11.2007 zu zahlen. Es hat dem Kläger einen Ausgleichsanspruch und Schadensersatz zuerkannt, weil der eigentliche Flug abgebrochen und nicht durchgeführt worden sei. Das Flugzeug hätte spätestens um 17.00 Uhr in Murcia ankommen müssen, sei aber nach dem Vortrag der Beklagten frühestens gegen Mitternacht, d.h. mehr als 5 Stunden, später angekommen.

II.

Nach Artikel 7 Abs. 1 b) i.V.m. Artikel 5 der EG Verordnung Nr. 261/2004 vom 11.02.2004, Abl. L 46 vom 17.02.2004 stehen dem Fluggast Ausgleichsansprüche bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1.500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1.500 km und 3.500 km von je 400,--€ zu, es sei denn die Beklagte kann als ausführendes Luftfahrtunternehmen gemäß Art. 5 Abs. 3 EG Verordnung nachweisen, dass die Annullierung des Rückflugs auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären (vgl. hierzu Senatsurteil vom 16.07.2009 - 2 U 1312/08, nicht rechtskräftig, BGH X a ZR 96/09). Zwischen den Parteien besteht vorliegend darüber Streit, ob eine Annullierung oder nur eine Verspätung des Fluges nach Artikel 6 der Verordnung vorliegt. Bei einer Verspätung des Fluges kommt keine Ausgleichszahlung in Betracht. Art. 2 l) der Verordnung definiert das Tatbestandsmerkmal der "Annullierung" als die Nichtdurchführung eines geplanten Fluges, für den zumindest ein Platz reserviert war.

Die Schwierigkeit bei der Abgrenzung der Verspätung von einer Annullierung ergibt sich daraus, dass der Begriff der Verspätung in der Verordnung nicht definiert wird. Von einer Verspätung ist grundsätzlich auszugehen, wenn das befördernde Flugzeug nicht rechtzeitig, das heißt zum vereinbarten Zeitpunkt am Zielort eintrifft (OLG Frankfurt a.M. Urteil vom 26.04.1983 - 5 U 75/82 - ZLW 1984, 177 = MDR 1984, 318). Es wird allerdings nicht auf die Ankunftsverzögerung, sondern nach Artikel 6 der Verordnung nur auf die Abflugverzögerung, d.h. nach Flugstrecke von 2 bis 4 Stunden und mehr (Artikel 6 Abs. 1 a) bis c) abgestellt und für diesen Fall Unterstützungsleistungen durch den Beförderer verlangt. Es muss allerdings dieser Flug abgehen. Kommt es zu einem Ersatzflug, dann ist der ursprüngliche Flug annulliert (Schmidt, NJW 2006, 1841, 1842). Von einer Annullierung eines Fluges ist aber immer dann auszugehen, wenn der geplante Flug, für den zumindest ein Sitzplatz reserviert war, nicht durchgeführt wird.

Bei der Abgrenzung zwischen einer Verspätung und einer Annullierung ist auf die konkreten Umstände des Einzelfalls abzustellen. Dabei sind bestimmte Indizien heranzuziehen, wie zum Beispiel die Beförderung mit einer anderen Fluggesellschaft, die Beförderung auf einem anderen Flugzeug, die Vergabe einer anderen Flugnummer, die Wiederaushändigung des Reisegepäcks, ein erneutes Einschecken, d.h. das erneute Zuteilen von Sitzplätzen und/oder einer neuen Bordkarte. Es wird die Auffassung vertreten, dass auch dann noch von einer Verspätung auszugehen ist, wenn ein Ersatzflug angefordert und nur etwa 2 Stunden später eingesetzt wird (sog. Subcharter). Im Hinblick darauf, dass es sich bei dem Luftbeförderungsvertrag um ein relatives Fixgeschäft handelt, wird eine Annullierung angenommen, wenn die Fluggäste erst am Folgetag weiterbefördert werden (AG Frankfurt Urteil vom 13.02.2007 - 30 C 2192/06-45 - Rra 2007, 86 Juris Rn. 29, 30, 32; Schmidt, S. 1843). Zu irgendeinem Zeitpunkt schlägt jede Verspätung in eine Flugannullierung um. Bei einer 5-stündigen Verspätung (Art. 6 lit. c) iii. i.V.m. Art. 8 Abs. 1 der Verordnung) kann die erfolgte Beförderung nicht mehr als verspätete Beförderung des vereinbarten Fluges angesehen werden (Schmidt, NJW 2006, 1843).

Vorliegend sind folgende Umstände in die Abwägung, ob nur eine Verspätung oder bereits eine Annullierung gegeben ist, einzustellen. Die Passagiere haben zunächst die Auskunft erhalten, dass sie mit Bussen in das 750 km entfernte Murcia weiterbefördert werden, was für eine Annullierung des Fluges spricht (vgl. BGH Urteil vom 14.10.2008 - X ZR 15/08 - NJW 2009, 358 Juris Rn. 13). Die Annullierung ist die vollständige Aufgabe der Absicht, den Flug in der vorgesehenen Form durchzuführen (BGH., ebd., Juris Rn. 12). Auch der Umstand, dass die Fluggäste zwischenzeitlich ausgecheckt, ihr Reisegepäck in Empfang genommen, schließlich nach dem (bestrittenen) Vortrag der Beklagten wieder eingecheckt haben, spricht mehr für eine Annullierung des Fluges (vgl. AG Schöneberg Urteil vom 21.09.2005 - 5 a C 92/05 - NJW-RR 2006, 498). In der Folge blieben die Fluggäste zunächst im Unklaren darüber, wie die Weiterbeförderung, ob mit Reisebussen oder Ersatzflugzeug, erfolgt. Schließlich liegt eine Ankunftsverzögerung von etwa 7 bis 8 Stunden und nicht nur, wie die Beklagte vorträgt, von 4,5 Stunden vor (16.30 Uhr geplante Ankunft in Murcia, tatsächliche Ankunft am Zielflughafen, 23.30 bis 24 Uhr), so dass aufgrund der vorhandenen Indizien von einer Annullierung des Fluges und nicht nur von einer Verspätung auszugehen ist.

Die Beklagte hat als ausführendes Luftfahrtunternehmen gemäß Art. 5 Abs. 3 der Verordnung keine Gründe vorgetragen, die die Annullierung des Fluges auf außergewöhnliche Umstände stützen, die sich auch nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Hierfür ist sie darlegungs- und beweisbelastet. Sie hat den Entlastungsbeweis zu führen (zu den Anforderungen an den Entlastungsbeweis AG Bremen Urteil vom 03.07.2007 - 4 C 393/06 und 4 C 0393/06 in Juris; LG Köln Urteil vom 29.04.2008 - 11 S 176/07 - NJW-RR 2008, 1587 ff.; AG Frankfurt Urteil vom 13.02.2007 - 30 C 2192/06 - Juris). Der EuGH hat in seiner Entscheidung vom 22.12.2008 - C-549/07 - (GA 243) ausgeführt, dass der Befreiungstatbestand in Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 als Ausnahme von dem Grundsatz der Ausgleichspflicht eng auszulegen ist (Ziffer 20 der Entscheidung).

Dem Kläger steht auch ein Schadensersatzanspruch gemäß §§ 275, 283, 280 Abs. 3, 281 BGB in Höhe von 486,46 € zu. Ein Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht gemäß § 254 BGB liegt nicht vor. Da der Kläger für 22.00 Uhr ein Konzert in Murcia besuchen wollte und hierfür Konzertkarten hatte, war ihm ein Zuwarten bis 18.00 Uhr nicht zumutbar, um dann ggf. mit einem Reisebus oder doch noch mit einem Ersatzflugzeug weiterreisen zu können. Insofern war auch eine sofortige Geltendmachung des Schadensersatzanspruches ohne vorherige Fristsetzung zur Nacherfüllung gerechtfertigt, § 281 Abs. 2 BGB. Die Höhe des Schadensersatzanspruchs ist nicht bestritten.

Der Senat macht nicht von der Möglichkeit nach Art. 12 Abs. 1 S. 2 EG Verordnung Nr. 261/2004 Gebrauch, die gewährte Ausgleichszahlung auf den Schadensersatzanspruch anzurechnen. Die Weiterreise mit einem Mietwagen in das 750 km entfernte Murcia in den Abend- und Nachstunden stellte für den Kläger und seine Lebensgefährtin eine besondere Unannehmlichkeit dar, die mit dem Ausgleichsbetrag nach Art. 7 Abs. 1 b) i.V.m Art. 5 der EG Verordnung Nr. 261/2004 nicht ausreichend abgegolten ist, zumal sie das gebuchte Konzert verpassten. Der Senat beabsichtigt, den Streitwert für das Berufungsverfahren auf 1.286,46 € festzusetzen.

Oberlandesgericht Koblenz,

2. Zivilsenat

25.11.2009

Dr. Reinert



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