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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 08.12.2005
Aktenzeichen: 2 Ws 828/05
Rechtsgebiete: StPO, StrEG


Vorschriften:

StPO § 275 a Abs. 5 Satz 1
StrEG § 2 Abs. 1
StrEG § 2 Abs. 2 Nr. 1
Die einstweilige Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 275 a Abs. 5 Satz 1 StPO stellt eine Strafverfolgungsmaßnahme im Sinne des § 2 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 StrEG dar.
OBERLANDESGERICHT KOBLENZ BESCHLUSS

Geschäftsnummer: 2 Ws 828/05

In der Unterbringungssache

wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern u. a.

hier: Entschädigung für einstweilige Unterbringung in der Sicherungsverwahrung

hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch die Richter am Oberlandesgericht Pott und Mertens sowie den Richter am Amtsgericht Berg

am 8. Dezember 2005

beschlossen:

Tenor:

Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Koblenz vom 23. August 2005 wird als unbegründet verworfen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem ehemals Untergebrachten dabei entstandenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.

Gründe:

Der ehemals Untergebrachte verbüßte bis zum 13. August 2004 aus dem Urteil der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Koblenz vom 10. Mai 1996 in Verbindung mit dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 11. September 1996 wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 11 Fällen, davon in 7 Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern, sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 4 Fällen eine Gesamtfreiheitsstrafe von 9 Jahren. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft ordnete die Strafkammer mit Beschluss vom 11. August 2004 die einstweilige Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung an, da dringende Gründe für die Annahme vorhanden seien, dass nach seiner Entlassung aus der Strafhaft die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet werde (§§ 66 b StGB, 275 a Abs. 5 S. 1 StPO). Auf die dagegen eingelegte Beschwerde des Verfahrensbevollmächtigten vom 29. September 2004 hob der erkennende Senat die Entscheidung mit Beschluss vom 27. Oktober 2004 (2 Ws 676/04) auf, da die Voraussetzungen für die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung nicht vorgelegen hatten. Der Verurteilte wurde an demselben Tage auf freien Fuß gesetzt. Mit Schriftsatz vom 12. August 2005 beantragte der Verfahrensbevollmächtigte für seinen Mandanten für jeden Tag der vom 14. August 2004 bis zum 27. Oktober 2004 vollzogenen vorläufigen Unterbringung eine "Haftentschädigung". Mit Beschluss vom 23. August 2005 hat die Strafkammer zu 1. die Kosten und notwendigen Auslagen des Verurteilten im Verfahren der Anordnung der nachträglichen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung der Staatskasse auferlegt und zu 2. dem Verurteilten für jeden Tag des Vollzugs der einstweiligen Unterbringung, d. h. für 75 Tage, eine Entschädigung aus der Staatskasse zugesprochen. Gegen den ihr am 29. August 2005 zugestellten Beschluss hat die Staatsanwaltschaft Koblenz mit Verfügung vom 31. August 2005, bei Gericht eingegangen am 1. September 2005, sofortige Beschwerde eingelegt und diese am 15. September 2005 - unter Beschränkung des Rechtsmittels auf Ziffer 2. des angefochtenen Beschlusses - damit begründet, dass die einstweilige Unterbringung in der Sicherungsverwahrung keine Strafverfolgungsmaßnahme im Sinne der abschließenden, einer entsprechenden Anwendung nicht zugänglichen Regelung des § 2 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 StrEG darstelle und es somit an einer gesetzlichen Grundlage für eine Entschädigung fehle. Die Generalstaatsanwaltschaft ist der sofortigen Beschwerde in ihrer Antragsschrift vom 21. November 2005 beigetreten.

Das Rechtsmittel ist nach § 8 Abs. 3 S. 1 StrEG statthaft und zulässig eingelegt; das Beschwerderecht stand auch der Staatsanwaltschaft zu (vgl. Meyer, StrEG, 6. Aufl., § 8 Rdnr. 47). In der Sache hat es jedoch keinen Erfolg. Der angefochtene Beschluss entspricht der Rechtslage.

Der Senat teilt die Auffassung der Strafkammer, dass die einstweilige Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 275 a Abs. 5 S. 1 StPO eine Strafverfolgungsmaßnahme im Sinne des § 2 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 StrEG darstellt. Zu der in dieser Vorschrift zu den Strafverfolgungsmaßnahmen gezählten "einstweiligen Unterbringung" gehört anerkannter Weise die einstweilige Unterbringung nach § 126 a StPO (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl., § 2 StrEG Rdnr. 4; Meyer, a. a. O., § 2 Rdnr. 8). Für die einstweilige Unterbringung nach § 275 a Abs. 5 S. 1 StPO kann nichts anderes gelten. Auch sie stellt - wie die Untersuchungshaft oder wie die einstweilige Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus bzw. in einer Entziehungsanstalt - einen längeren und nachhaltigen Eingriff in grundrechtlich abgesicherte Positionen des Betroffenen dar, zieht erfahrungsgemäß unmittelbare Vermögensschäden nach sich und kommt regelmäßig einer Vorwegnahme der im Falle späterer Verurteilung zulässigen Rechtsfolge nahe (vgl. Meyer, a. a. O.). Eine entschädigungsrechtliche Ungleichbehandlung mit der einstweiligen Unterbringung nach § 126 a StPO wäre nicht zu rechtfertigen. Für die Vergleichbarkeit der Maßnahmen aus § 126 a StPO und § 275 a Abs. 5 S. 1 StPO sprechen im Übrigen auch die übereinstimmenden Verweisungen auf haftrechtliche Vorschriften in § 126 a Abs. 2 S. 1 StPO und in § 275 a Abs. 5 S. 4 StPO sowie die in letztgenannter Vorschrift zusätzlich enthaltene Verweisung auf § 126 a Abs. 3 StPO (vgl. dazu auch Meyer-Goßner, a. a. O., § 275 a Rdnr. 16).

Die in dem Senatsbeschluss vom 27. Oktober 2004 zu sehende endgültige Ablehnung der beantragten Unterbringung ist einem Freispruch bzw. der Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens gleichzusetzen (vgl. OLG Stuttgart in NStZ-RR 2000, 190), so dass nach § 2 Abs. 1 StrEG grundsätzlich eine Entschädigungspflicht der Staatskasse für die Zeit des Vollzugs der einstweiligen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung besteht. Ausschluss- oder Versagungsgründe nach den §§ 5, 6 StrEG vermag auch der Senat nicht zu erkennen.

Die Beschwerdebegründung der Staatsanwaltschaft - die im Übrigen noch in ihrer Zuleitungsverfügung an die Strafkammer vom 19. August 2005 dem Entschädigungsantrag des Verurteilten "letztlich nicht entgegengetreten" war - vermag nicht zu überzeugen. Es trifft zwar zu, dass das Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23. Juli 2004 (BGBl I Seite 1838) sich zu einer Entschädigung für die einstweilige Unterbringung nach § 275 a Abs. 5 StPO nicht verhält. Eine gesetzliche Neuregelung war indes auch nicht erforderlich, da dieser Fall von der bereits bestehenden Vorschrift des § 2 Abs. 2 Nr. 1 StrEG miterfasst wird, ohne dass es einer unzulässigen analogen Erweiterung des Katalogs entschädigungsfähiger vorläufiger Strafvollstreckungsmaßnahmen bedurfte (vgl. Meyer, a. a. O.). Für eine entgegenstehende gesetzgeberische Intention sind nachvollziehbare Anhaltspunkte, die unter Entschädigungsgesichtspunkten eine unterschiedliche Behandlung der einstweiligen Unterbringung nach § 126 a StPO und der nach § 275 a Abs. 5 StPO rechtfertigen könnten, jedenfalls nicht ersichtlich.

Auch der Rechtsauffassung der Generalstaatsanwaltschaft vermag der Senat sich nicht anzuschließen. Die Generalstaatsanwaltschaft stellt zutreffend fest, dass § 2 Abs. 2 Nr. 1 StrEG zwischen der Unterbringung nach § 126 a StPO und nach § 275 a Abs. 5 StPO nicht differenziert. Soweit sie im Anschluss daran argumentiert, bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung und der ihr vorausgehenden einstweiligen Unterbringung nach § 275 a Abs. 5 S. 1 StPO handele es sich im Unterschied zu dem Katalog des § 2 Abs. 2 StrEG gerade nicht um Strafverfolgungsmaßnahmen im engeren Sinne, sondern um Präventionsmaßnahmen, ist anzumerken, dass es sich bei der unstreitig unter § 2 Abs. 2 Nr. 1 StrEG fallenden einstweiligen Unterbringung nach § 126 a StPO ebenfalls um eine Präventionsmaßnahme handelt. Denn diese dient, anders als etwa die Untersuchungshaft, nicht der Sicherung des Strafverfahrens. Vielmehr handelt es sich bei ihr der Funktion nach um eine vorbeugende Maßnahme, die als Vorläufer der späteren durch Urteil auszusprechenden Unterbringung nach den §§ 63, 64 StGB in erster Linie dem Schutz der Allgemeinheit vor gemeingefährlichen Tätern dient (vgl. OLG Frankfurt/Main in NStZ 1985, 284; Meyer-Goßner, a. a. O., § 126 a Rdnr. 1).

Auch nicht zu folgen vermag der Senat der Argumentation, das in § 275 a StPO geregelte Verfahren zur nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung sei als "Annex" zu dem nach rechtskräftigem Erkenntnis durchgeführten Vollstreckungsverfahren zu begreifen, auf Maßnahmen der Strafvollstreckung seien die Vorschriften des StrEG anerkanntermaßen jedoch nicht anwendbar. Richtig hieran ist, dass solche Maßnahmen - auch vorläufiger Art - nicht dem Regelungsbereich des § 2 StrEG unterfallen, die der Vollstreckung rechtskräftig erkannter Strafen und Maßregeln dienen (vgl. Meyer, a. a. O., Rdnr. 11). Hierum geht es vorliegend jedoch nicht. Denn die Vollstreckung der Strafe aus dem Urteil des Landgerichts Koblenz vom 10. Mai 1996 war mit dem 13. August 2004 vollständig erledigt, ohne dass es hierfür weiterer Maßnahmen im Sinne der §§ 66 b StGB, 275 a StPO bedurft hätte. Die Entscheidung über die nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung nach § 275 a StPO stellt aus Sicht des Senats vielmehr einen von der abgeschlossenen Strafvollstreckung zu trennenden Vorgang dar. Da das dabei einzuhaltende Verfahren im wesentlichen genauso wie die Hauptverhandlung 1. Instanz abläuft - der Verurteilte darf nicht anders gestellt werden, als wenn das Gericht die Sicherungsverwahrung sogleich angeordnet hätte - handelt es sich letztlich um einen neuen, 2. Teil des Erkenntnisverfahrens (vgl. Meyer-Goßner, a. a. O., § 275 a Rdnr. 3). Daraus ergibt sich zugleich, dass die einstweilige Unterbringung nach § 275 a Abs. 5 S. 1 StPO nicht der Vollstreckung einer bereits ergangenen gerichtlichen Entscheidung dient, sondern - vergleichbar mit der einstweiligen Unterbringung nach § 126 a StPO - eine vorbeugende Maßnahme darstellt, die zum Schutz der Allgemeinheit die erst noch durch nachfolgendes Urteil anzuordnende spätere Unterbringung vorwegnehmen soll, mithin keine die Anwendung von § 2 StrEG ausschließende "Vollstreckungsmaßnahme" darstellt. Sollte die von der Generalstaatsanwaltschaft in diesem Zusammenhang zitierte Fundstelle (Meyer, a. a. O., § 1 Rdnr. 15) tatsächlich dahin zu verstehen sein, dass auch die Anordnung und der Vollzug eines Unterbringungsbefehls nach § 275 a Abs. 5 StPO eine dem StrEG nicht unterfallende "Strafvollstreckungsmaßnahme" darstelle, könnte der Senat dem aus den dargelegten Erwägungen nicht folgen. Die von der Generalstaatsanwaltschaft für ihre Rechtsauffassung des weiteren herangezogene Vorschrift des § 9 StrEG regelt anders gelagerte Sachverhalte.

Danach war die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft als unbegründet zu verwerfen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 1 StPO.

Ende der Entscheidung

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