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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Urteil verkündet am 05.06.2001
Aktenzeichen: 3 U 1568/00
Rechtsgebiete: BGB, ZPO


Vorschriften:

BGB § 138 Abs. 1
BGB § 286 Abs. 1
ZPO § 91 Abs. 1
ZPO § 708 Nr. 10
ZPO § 711
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OBERLANDESGERICHT KOBLENZ IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

Geschäftsnummer: 3 U 1568/00

Verkündet am 05.06.2001

In dem Rechtsstreit

hat der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Kubiak, den Richter am Oberlandesgericht Ritter und den Richter am Landgericht Heilmann auf die mündliche Verhandlung vom 24.04.2001

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das am 04.10.2000 verkündete Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Koblenz abgeändert:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des gesamten Rechtsstreits.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 18.000,00 DM abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand:

Die Klägerin nimmt die Beklagte aus einer Bürgschaft wegen nicht erbrachter Sozialversicherungsbeiträge in Anspruch, die in dem Handwerksbetrieb ihres damaligen Ehemannes angefallen sind.

Die Beklagte verbürgte sich am 12.11.1997 der Klägerin gegenüber für alle bestehenden und künftigen Beitragsverpflichtungen ihres Ehemannes W..... H..... G....... bis zu einem Betrag von 77.000,00 DM. Auf den Inhalt der Bürgschaftsurkunde wird Bezug genommen (Bl. 4 ff. GA). Zur damaligen Zeit stand die Beklagte in einem Beschäftigungsverhältnis zu ihrem Ehemann mit einem Einkommen in Höhe von 3.084,08 DM netto.

Im Januar 1998 kam es zur Trennung der Eheleute sowie zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses der Beklagten zu ihrem Ehemann. Am 29.09.2000 wurde die Beklagte von ihrem Ehemann geschieden.

Die Klägerin hat vorgetragen, die Beitragsrückstände beliefen sich derzeit auf 63.295,65 DM.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie 63.295,65 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 29.09.1998 zu zahlen.

Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.

Das Landgericht hat nach Durchführung einer Beweisaufnahme der Klage mit der Begründung stattgegeben, der Bürgschaftsvertrag sei wirksam. Sittenwidrigkeit wegen krasser Überforderung der Beklagten durch die ihr auferlegten Verpflichtungen sei zu verneinen.

Die Beklagte trägt zur Begründung ihrer Berufung vor, der Bürgschaftsvertrag sei aus mehreren Gründen unwirksam. So sei der Vertrag sittenwidrig gemäß § 138 Abs. 1 BGB, da bei seinem Abschluss bekannt gewesen sei, dass die Beklagte zur Leistung nicht in der Lage sein werde. Die Klägerin habe zur Herbeiführung des Vertragsschlusses unzulässigen Druck auf die Beklagte ausgeübt und deren Geschäftsunerfahrenheit ausgenutzt. Mit der Ehescheidung sei die Geschäftsgrundlage für das Rechtsgeschäft entfallen. Mehrere Bestimmungen des Vertrages verstießen gegen das AGB-Gesetz.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie trägt u. a. vor, die Bürgschaft verstoße nicht gegen die guten Sitten. Insbesondere habe sie bei Abschluss des Bürgschaftsvertrages davon ausgehen müssen, dass die Beklagte leistungsfähig sei. Bei dem damaligen Einkommen der Beklagten sei dies auch objektiv zu bejahen.

Wegen aller weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien wird auf die von ihnen bis zum 08.05.2001 (Bl. 148 GA) eingereichten Schriftsätze und Urkunden Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg.

Der Klägerin steht kein Zahlungsanspruch gegen die Beklagte zu. Denn die von der Beklagten am 12.11.1997 übernommene Bürgschaft hat ihre Wirksamkeit spätestens in dem Zeitpunkt durch Wegfall der Geschäftsgrundlage verloren, als die Ehe der Beklagten mit dem Hauptschuldner geschieden wurde (§ 242 BGB).

Es muss daher nicht entschieden werden, ob der Bürgschaftsvertrag wegen Verstoßes gegen die guten Sitten von Anfang an unwirksam war (§ 138 Abs. 1 BGB). Hierfür spricht allerdings die mangelnde Leistungsfähigkeit der Beklagten.

Gemäß § 138 Abs. 1 BGB ist eine Bürgschaft insbesondere dann sittenwidrig, wenn der aus emotionaler Verbundenheit mit dem Hauptschuldner handelnde Bürge finanziell krass überfordert wird und die Bürgschaft sich aus der Sicht eines vernünftig denkenden Gläubigers als wirtschaftlich sinnlos erweist (vgl. u. a. BGH NJW 1997, 3372, 3373). Davon ist hier auszugehen.

Die Beklagte war an dem Betrieb ihres Ehemanns wirtschaftlich nicht beteiligt, sondern lediglich Arbeitnehmerin. Sie wird durch die Bürgschaft krass überfordert. Da die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts aufgrund der bei Vertragsschluss vorliegenden Umstände und erkennbaren Entwicklungen zu beurteilen ist und für die Bürgschaft hier ein Höchstbetrag von 77.000,00 DM zuzüglich Zinsen und Kosten vereinbart ist - die Wirksamkeit dieser Vereinbarung sei dahingestellt -, ist von einer Hauptschuld in dieser Höhe auszugehen. Der Umstand, dass die Klägerin im gegenwärtigen Zeitpunkt eine Forderung von nur 63.295,65 DM vortragt, ist für die Frage der Sittenwidrigkeit unerheblich.

Ein Bürge ist krass überfordert, wenn die Verbindlichkeit, für die er einstehen soll, so hoch ist, dass bereits bei Vertragsschluss nicht zu erwarten ist, er werde - wenn sich das Risiko verwirklicht - die Forderung des Gläubigers wenigstens zu einem wesentlichen Teil tilgen können (BGH NJW 1999, S. 58, 59). Davon ist bei nicht ganz geringfügigen Hauptforderungen jedenfalls dann auszugehen, wenn der Bürge voraussichtlich nicht einmal die laufenden Zinsen der Hauptschuld aufzubringen vermag (BGH, 9. Zivilsenat, NJW 2000, S. 1182, 1183). Die verfehlte Rechtsprechung, dass ein Viertel der Hauptsumme innerhalb von fünf Jahren als Maßstab anzulegen sei, ist vom 9. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes zu Recht aufgegeben worden (vgl. auch BGH, 11. Zivilsenat MDR 2001, S. 403, 404).

Die Beklagte war mit ihrem Einkommen, wie es sich im Zeitpunkt der Bürgschaftsübernahme am 12.11.1997 darstellte, nicht in der Lage, die laufenden Zinsen zu zahlen. Es war zum damaligen Zeitpunkt von einem künftig zu zahlenden Verzugszins in Höhe von mindestens 6,5 % p. a. auszugehen, d. h., bezogen auf 77.000 DM, von über 400,00 DM pro Monat. Über die Höhe des geschuldeten Zinses enthält die Bürgschaftsurkunde zwar keine Bestimmungen. Im Verhältnis zum Hauptschuldner berechnete die Klägerin keine Zinsen, sondern sog. Säumniszuschläge. Die Klägerin war jedoch gemäß § 286 Abs. 1 BGB berechtigt, von der Beklagten die Zinsen zu verlangen, die den Verzugsschaden darstellten, nämlich entgangene Anlagezinsen oder aufzuwendende Kreditzinsen. Diese sind nach den banküblichen Zinsen auf nicht unter 6,5 % zu schätzen (§ 287 ZPO). Daraus, dass die Klägerin mit der Klage nur 4 % Zinsen verlangt, ergibt sich nichts Gegenteiliges. So entspricht die Höhe der dem Hauptschuldner berechneten Säumniszuschläge (vgl. die von der Klägerin vorgelegte Aufstellung, Bl. 130 GA) durchschnittlichen Zinsen von über 10 % p. a.

Die Beklagte war außer Stande, Zinsen in der genannten Höhe auf eine Forderung von 77.000 DM aufzubringen. Sie bezog zur Zeit der Unterzeichnung der Bürgschaftserklärung ein monatliches Nettoeinkommen von 3.084,08 DM und hatte somit, wie das Landgericht zutreffend festgestellt hat, pfändungsfreie Einkünfte in Höhe von 388,80 DM pro Monat. Dieser Betrag lag also unter den monatlich zu zahlenden Verzugszinsen. Umstände, die ein höheres Einkommen hätten erwarten lassen, sind nicht ersichtlich. Hinzukam, dass die Beklagte im Betrieb ihres damaligen Ehemannes beschäftigt war und für den Fall, dass dieser seine Verpflichtungen der Klägerin gegenüber auf längere Zeit nicht erfüllen konnte, mit der Schließung dieses Betriebes zu rechnen war, wodurch die Beklagte ihre Arbeitsstelle verloren hätte. Als kaufmännische Angestellte konnte sie nicht mit einem wesentlich höheren Einkommen rechnen. Über ein nennenswertes Vermögen verfügte sie nicht.

Die Klägerin muss die Leistungsunfähigkeit der Beklagten als von Anfang an bekannt gegen sich gelten lassen. Auch bei Krankenkassen ist vorauszusetzen, dass sie die geforderten Sicherheiten mit kaufmännischer Sorgfalt vor der Hereinnahme auf ihre Werthaltigkeit überprüfen. Denn auch Krankenkassen verwalten hohe Geldbeträge im Interesse ihrer "Kunden", der Versicherten. Sieht eine Krankenkasse von der erforderlichen Prüfung der Leistungsfähigkeit ab, so ist im Zweifel - wie bei einer Bank - davon auszugehen, dass sie die die krasse finanzielle Überforderung begründenden objektiven Tatsachen und Verhältnisse schon bei Vertragsschluss kannte oder sich dieser Erkenntnis bewusst verschlossen hat (vgl. zur Bürgschaft gegenüber einer Bank u. a.: BGH MDR 2001, S. 403, 404).

Dem kann die Klägerin nicht entgegenhalten, sie habe nicht über die Erkenntnismöglichkeiten einer Bank verfügt. Als Innungskrankenkasse war sie darüber informiert, dass die Beklagte im Betrieb ihres Ehemannes als Arbeitnehmerin beschäftigt war, dass es sich um einen relativ kleinen Betrieb handelte und dass dieser durch ein säumige Zahlungsweise über längere Zeit aufgefallen war. Weitere Informationen, aus denen sich die Leistungsfähigkeit der Beklagten ergab, musste und konnte die Klägerin sich vor Abschluss des Bürgschaftsvertrages beschaffen. Eine Krankenkasse ist zumindest in gleichem Maße wie eine Bank zu sorgfältigem Handeln verpflichtet. Sie ist daher gehalten, sich vor Abschluss eines Bürgschaftsvertrages der Leistungsfähigkeit des Burgen zu vergewissern. Hierzu ist sie - ebenso wie eine Bank - auch imstande, da sie insbesondere den potentiellen Burgen zu entsprechenden Auskünften veranlassen kann. Es besteht also kein Anlass, die Klägerin insofern geringeren Anforderungen zu unterwerfen als eine Bank.

Es mag dahinstehen, ob die Klägerin ein berechtigtes Interesse daran hatte, sich durch die Bürgschaft vor Nachteilen durch Vermögensverlagerungen zu schützen, und ob der Bürgschaftsvertrag aus diesem Grunde zunächst wirksam war. War dies der Fall, so kam es durch die Scheidung der Ehe zwischen der Beklagten und dem Hauptschuldner jedenfalls zum Wegfall der Geschäftsgrundlage.

Da die Klägerin, wie bereits ausgeführt, von vornherein nicht damit rechnen konnte, dass die Beklagte wesentlich zur Tilgung der Hauptschuld beitragen konnte, bildete - falls überhaupt - die Gefahr von Vermögensverlagerungen zwischen dem Hauptschuldner und seiner Ehegattin zum Nachteil der Gläubigerin die einzige Geschäftsgrundlage des Vertrages (vgl. dazu BGH NJW 1996, S. 2088, 2090). Diese Gefahr besteht aber seit der Ehescheidung nicht mehr (vgl. auch BGH NJW-RR 1996, S. 1262).

Der Bürgschaftsvertrag ist nach dem Fortfall der Geschäftsgrundlage unwirksam. Eine Anpassung kommt im vorliegenden Fall nicht in Betracht, da der Beklagten während des Bestehens der Ehe keine nennenswerten Vermögensvorteile von ihrem Ehemann zugeflossen sind, auf welche Die Klägerin den Zugriff behalten musste (vgl. dazu BGH aaO.).

Das angefochtene Urteil war daher abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 91 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 63.295,65 DM festgesetzt. In dieser Höhe ist die Klägerin beschwert.

Ende der Entscheidung

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