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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Urteil verkündet am 05.02.2003
Aktenzeichen: 7 U 228/00
Rechtsgebiete: BGB, ZPO


Vorschriften:

BGB § 284
BGB § 288 a.F.
ZPO § 91
ZPO § 92
ZPO § 97 Abs. 1
ZPO § 108
ZPO § 708 Nr. 10
ZPO § 711
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Oberlandesgericht Koblenz IM NAMEN DES VOLKES Schlussurteil

Aktenzeichen: 7 U 228/00

Verkündet am: 5. Februar 2003

In dem Rechtsstreit

Der 7. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Koblenz hat durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Jahn sowie die Richter am Oberlandesgericht Trueson und Dr. Fischer auf die mündliche Verhandlung vom 15. Januar 2003

für Recht erkannt:

Tenor:

I. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 70.000 EUR nebst 4 % Zinsen seit dem 17. Juli 1999 zu zahlen.

II. Von den Kosten des Rechtsstreits haben die Beklagte 3/4 und die Klägerin 1/4 zu tragen.

III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung von 120.000 EUR, die Klägerin durch Sicherheitsleistung von 15.000 EUR abwenden, sofern die Gegenseite nicht zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand:

Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen einer Verletzung der ihr obliegenden Verkehrssicherungspflicht in Anspruch.

Am 31. März 1998 hielt sich die damals 8-jährige Klägerin um die Mittagszeit zusammen mit einem Spielgefährten auf dem Platz vor dem ....kassengebäude der Beklagten (K....... B......Straße) auf.

Dieser ist Teil des im Eigentum der Beklagten stehenden Grundstücks. Auf ihm befinden sich u.a. ein Springbrunnen sowie eine Tiefgaragen Ein- und Ausfahrt, die seitlich von einer 40 cm breiten Mauer begrenzt wird. Es schließt sich sodann ein parallel zur Ausfahrt verlaufendes mit Sträuchern und Kleingewächsen bepflanztes, 1,38 m breites Hochbeet an, das seitlich nochmals von einer 40 cm breiten Mauer eingefasst wird. Vor dieser im Bereich hinter dem Brunnen 1,10 m hohen Mauer stehen zwei Sitzbänke von 40 cm Höhe. Die Beklagte hat inzwischen auf der Begrenzungsmauer einen Metallzaun errichtet. Dieser war zum Unfallzeitpunkt nicht vorhanden.

Die Klägerin gelangte auf das Hochbeet. Auf der anderen Seite des Beetes angelangt, verlor sie das Gleichgewicht, stürzte 3,04 m tief in die Tiefgarageneinfahrt hinab und schlug dort mit dem Kopf auf. Infolge des Sturzes erlitt die Klägerin u.a. ein schweres Schädel-Hirn-Trauma, Brüche von Schädelknochen und intercerebrale Blutungen.

Die Klägerin verlangt Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes, mindestens 40.000 DM. Außerdem begehrt sie die Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet sei, ihr allen gegenwärtigen und künftigen materiellen sowie den künftigen immateriellen Schaden zu ersetzen.

Die Klägerin ist der Auffassung, die Beklagte habe die ihr obliegende Verkehrssicherungspflicht verletzt. Sie habe die Garageneinfahrt durch Absperrgeländer und deutliche Hinweisschilder zusätzlich absichern müssen.

Der Senat hat - nach Durchführung einer Beweisaufnahme - am 25. April 2001 ein Grund- und Teilurteil mit folgendem Tenor verkündet:

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil der 10. Zivilkammer des Landgerichts Koblenz vom 7. Januar 2000 wie folgt abgeändert:

1. Der von der Klägerin geltend gemachte Schmerzensgeldanspruch ist dem Grunde nach unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens der Klägerin von 25 % gerechtfertigt.

2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin 75 % alle gegenwärtigen und künftig noch entstehenden materiellen Schäden aus dem Unfallereignis vom 31. März 1998 auf dem Vorplatz des ....kassengebäudes B...... Straße .., ..... K...... zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen.

3. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin den künftigen immateriellen Schaden aus dem Unfallgeschehen vom 31. März 1998 auf dem Vorplatz des ....kassengebäudes B...... Straße .., ..... K....... unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens der Klägerin von 25 % zu ersetzen.

4. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Der Senat hat weiterhin Beweis erhoben gemäß Beweisbeschluss vom 25. April 2001. Insoweit wird auf das sozialpädiatrische und psychologische Gutachten der Sachverständigen Dr. G. J...-P....... und Dr. T. F..... vom 31. Juli 2002 (vgl. Bl. 237-256 GA) verwiesen.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen wird auf die Schriftsätze der Parteien, die zu den Akten gereichten Urkunden, auf das angefochtene Urteil und das Urteil des Senats vom 25. April 2001 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Nach dem Grund- und Teilurteil ist noch über die Höhe des der Klägerin zustehenden Schmerzensgeldes zu entscheiden. Der Senat, hält ein solches von 70.000 EUR für angemessen.

Die Klägerin erlitt durch den Unfall ein offenes Schädel-Hirn-Trauma vom Schweregrad II mit Gehirnquetschung, intracerebrale Blutungen, eine Gehirnschwellung, Schädelknochenfrakturen, eine Felsenbeinfraktur, Blutergüsse der Schädelkalotte sowie Schürfwunden an der rechten Leiste und am rechten Beckenrand dorsal. Sie befand sich vom 31. März bis 14. April 1998 in stationärer Behandlung im Städtischen Krankenhaus K........ in K....... Sie war bewusstseinsgetrübt in die Kinder-Intensivstation aufgenommen worden.

Nach den zu den Akten gereichten medizinischen Befunden führten die Verletzungen posttraumatisch zu Störungen im kognitiven Bereich mit Bewusstseinstrübung, in der Folge Wortfindungsstörungen und allgemeiner physisch und psychisch eingeschränkter Belastbarkeit. Aufgrund des akuten Schädel-Hirn-Traumas ist mit bleibenden kognitiven psychischen und gegebenenfalls neurologisch-motorischen Funktionseinschränkungen zu rechnen. Dies bestätigte sich durch die Verlaufsuntersuchungen in der Rehabilitationsklinik N.....-G..... GmbH. Im Dezember 2001, das heißt 33/4 Jahre nach dem erlittenen Schädel-Hirn-Trauma, litt die Klägerin weiterhin an einem hirnorganischen Psychosyndrom mit massiven Teilleistungsstörungen in Form einer Dyskalkulie für rechnerisches Denken, einer Restaphasie mit Wortfindungsstörungen, Aufmerksamkeits- und Merkfähigkeitseinschränkungen sowie Konzentrationsstörungen zusätzlich psychoaffektive Verhaltensstörungen mit Distanzlosigkeit, Impulskontrolleinschränkungen. Im Rahmen der körperlich und psychisch eingeschränkten Belastbarkeit und als bekanntes Teilsyndrom eines hirnorganischen Psychosyndroms kam es zu psychosomatischen Beschwerden mit Kopfschmerzen und Schwindel. Die notwendige Wiederholung der zweiten- und vierten Grundschulklasse im Rahmen der kognitiven Leistungseinschränkungen führten zu Veränderungen des sozialen schulischen Umfeldes, die wiederum Minderwertigkeitsgefühle und depressive Verhaltenszüge nach sich zogen.

Die derzeitig bestehenden, im Rahmen der Untersuchungen im Sozialpädiatrischen Zentrum der Universitäts-Kinderklinik K... festgestellten Defizite in den kognitiven, psychischen und neurologischen Fähigkeiten werden in unterschiedlichem Grad der Ausprägung und Beeinträchtigung der Lebensgestaltung bestehen bleiben. Im Vordergrund stehen derzeit die Beeinträchtigung der kognitiven Leistungen mit Störungen des akustischen Kurzzeitgedächtnisses, Aufmerksamkeitsstörungen sowie Störungen der rezeptiven und expressiven Sprachentwicklung. Dies führt zu Schwierigkeiten im Erwerb von schulischen Fähigkeiten und derzeit einer Leistungsfähigkeit im schulischen Bereich im Sinne einer Lernbehinderung. Zusätzlich leidet die Klägerin an Affektstörungen mit Einschränkungen der Impulskontrolle sowie Labilität im Planen von Handlungen und Entscheidungen. Dies führt zu Schwierigkeiten in Alltagssituationen mit für Außenstehende schlecht einschätzbaren Reaktionen und Handlungen seitens der Klägerin sowie zu besonderen Belastungen im psychoemotionalen Bereich mit depressiven Verstimmungen und Minderwertigkeitsgefühlen. Die neurologischen Defizite mit leichter rechtsbetonter Körperkoordinationsstörung im grob motorischen Bereich sowie Gleichgewichtsstörungen und Symptome eines fortbestehenden hirnorganischen Psychosyndroms mit Kopfschmerzen sind unter adäquater Therapie verbesserungsfähig und werden in der Zukunft nicht - adäquate Therapie vorausgesetzt- zu alltags-, schul- und berufsrelevanten Einbußen führen, obwohl sie derzeit eine deutliche Einschränkung der Lebensqualität in der somatischen und psychischen Belastbarkeit der Klägerin bedeuten.

Sämtliche kognitiven und neurologischen Defizite und Funktionseinschränkungen haben ein hirnorganisches Korrelat. Sie sind Ausdruck der morphologischen Hirngewebsveränderung bei Zustand nach intracerebralen Blutungen linksfrontal, linkstemporal und rechtsoccipital, die in der Abheilung zur Narben- und Zystenbildung geführt haben sowie zu Funktionseinschränkungen im Frontalhirn, die sich als Impulskontrolleinschränkungen und Affektlabilität äußern. Die psychischen Auffälligkeiten mit depressiver Verstimmung und Minderwertigkeitsgefühlen sind sowohl Ausdruck der hirnorganischen Veränderung als auch Folge der seit dem Unfall bestehenden Überforderungssituation der Klägerin.

Nach den Ergebnissen der Psychodiagnostik kann davon ausgegangen werden, dass die Klägerin im Bereich der sprachlichen Lernfähigkeit weiterhin eine Beeinträchtigung haben wird. Hier besteht ein Risiko für Dauerschäden, wenn in den nächsten Jahren keine angemessene fachspezifische Förderung eingeleitet wird. Die Sprachentwicklung kann bei fehlender Förderung unter der allgemeinen Begabung bleiben. Für die Zukunft können deutliche Einschränkungen im Erreichen von Zielen im beruflichen Leben vorhergesehen werden. Die Klägerin kann z.B. keinen Beruf im Bereich der Kommunikation ausüben, in dem sie Sprachverhalte hören und verstehen muss. Auch eine Einschränkung in den sozialen Kontakten mit Gleichaltrigen in den nächsten Jahren kann sich fortsetzen.

Die Klägerin wird im Alltagsleben oft von Bezugspersonen abhängig sein, insbesondere wenn es um wichtige Lebensentscheidungen geht. Derzeit muss von einer gravierenden Teilleistungsstörung ausgegangen werden, die zu einer Reduzierung der kognitiven Leistungsfähigkeit führt. Dies kann als Lernbehinderung mit hirnorganischer Ursache beschrieben werden. Zusätzlich besteht eine gesteigerte Impulsivität und Labilität im Planen von Handlungen und Entscheidungen im Alltagsleben. Neben den resultierenden kognitiven Einschränkungen sind ebenfalls Einschränkungen in der psychoemotionalen Entwicklung sowie der zukünftigen beruflichen Perspektive zu erwarten.

Der beschriebene unfallbedingte Krankheitszustand der Klägerin beruht auf den Ausführungen der genannten Sachverständigen in ihrem Gutachten vom 31. Juli 2002. Die Gutachter haben sämtliche zu den Akten gereichten medizinischen Befunde und Stellungnahmen verwertet. Sie haben die Klägerin auch selbst untersucht. Die Ausführungen der Sachverständigen sind nachvollziehbar. Die Parteien erheben keine Einwände gegen das Gutachten.

Die Klägerin hat hiernach durch den Unfall ganz erhebliche Verletzungen mit ebenfalls ganz erheblichen Folgeschäden erlitten. Die Gutachter empfehlen dringend die Einleitung einer ambulanten neuropsychologischen und Verhaltenstherapie. Bezüglich der Schulform empfehlen sie die Umschulung in eine Schule, die kleine Klassen mit einer sonderpädagogischen Förderung gewährleistet.

Der Senat hält im Hinblick auf die dargestellten Verletzungen und die ebenfalls dargestellten als ganz erheblich anzusehenden Verletzungsfolgen unter Berücksichtigung der Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes, unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens der Klägerin von 25 % und unter Berücksichtigung des als nicht gering zu erachtenden Verschuldens der Beklagten ein Schmerzensgeld von 70.000 EUR für angemessen.

Der der Klägerin zugesprochene Zinsanspruch ergibt sich aus - §§ 284, 288 a.F. BGB. Der Schmerzensgeldanspruch war bereits vor dem 1. Mai 2000 fällig.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91, 92, 97 Abs. 1 ZPO; die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711, 108 ZPO.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 90.000 EUR festgesetzt (Schmerzensgeldanspruch: 70.000 EUR; Feststellungsbegehren: 10.000 EUR). Die Beklagte ist durch das Urteil in Höhe von 80.000 EUR beschwert.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Ende der Entscheidung

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