Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Urteil verkündet am 17.04.2002
Aktenzeichen: 7 U 893/98
Rechtsgebiete: BGB, ZPO


Vorschriften:

BGB § 847
BGB § 823 Abs. 1
ZPO § 711
ZPO § 108
ZPO § 97 Abs. 1
ZPO § 91 Abs. 1
ZPO § 708 Nr. 10
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OBERLANDESGERICHT KOBLENZ IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

Geschäftsnummer: 7 U 893/98

Verkündet am 17. April 2002

in dem Rechtsstreit

Der 7. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Koblenz hat durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Jahn sowie die Richter am Oberlandesgericht Trueson und Dr. Fischer auf die mündliche Verhandlung vom 13. März 2002

für Recht erkannt:

Tenor:

I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Bad Kreuznach vom 22. April 1998 wird zurückgewiesen.

II. Auf die Anschlussberufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Bad Kreuznach vom 22. April 1998 zu Ziffer 1 abgeändert und insoweit insgesamt neu gefasst wie folgt:

Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger zu Händen seiner gesetzlichen Vertreter 285.000 € nebst 4 % Zinsen seit 16. April 1992 zu zahlen.

III. Die Kosten des Berufungsverfahrens hat der Beklagte zu tragen.

IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar; der Beklagte kann die Zwangsvollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 310.000 € abwenden, sofern die Gegenseite nicht vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet; die Sicherheitsleistungen können durch Bankbürgschaft erfolgen.

Tatbestand:

Der am 2. Oktober 1990 geborene Kläger ist wegen einer Halsmarkszerreißung in Höhe der Halswirbelkörper 6 und 7 querschnittsgelähmt. Bei seinem Geburtsvorgang kam es zu einer Schulterdystokie. Der Kläger wirft dem Beklagten, seinem Geburtshelfer, vor, die Schulterdystokie fehlerhaft gelöst und dadurch seine Querschnittslähmung verursacht zu haben. Der Kläger nimmt den Beklagten auf Schmerzensgeld sowie auf Feststellung zur Verpflichtung zum Schadensersatz in Anspruch.

Die damals 37-jährige Mutter des Klägers begab sich am 2. Oktober 1990 gegen 4.50 Uhr mit spontaner Wehentätigkeit in das städtische Krankenhaus in K.... Gegen etwa 7.00 Uhr ließ die Hebamme, die Zeugin O......, den Beklagten rufen, weil sie eine Gesichtslage des Klägers festgestellt habe. Gegen 8.20 Uhr bekam die Mutter des Klägers bei vollständig geöffnetem Muttermund Presswehen. Die Hebamme übernahm die Geburt. Da jedoch im weiteren Verlauf der Geburt eine Schulterdystokie vorlag - ein gestörter Geburtsablauf, bei dem nach dem Austritt des Kopfes die Schulter des Kindes an der Symphyse der Mutter hängen bleibt -, erfolgte das weitere Geburtsmanagement durch den Beklagten. Gegen 8.40 Uhr wurde der Kläger geboren. Die CTG-Aufzeichnung umfasst jedoch den Zeitraum 2. Oktober, 6.57 Uhr bis etwa 9.10 Uhr. Den Geburtsverlauf dokumentierte der Beklagte u.a. wie folgt: "Spontanpartus aus Gesichtslage mit etwas schwieriger Schulterentwicklung nach normaler Geburt des Köpfchens. Fetale Herzfrequenz sub partu immer o.B.".

Wegen eines schwachen Muskeltonus wurde der Kläger nach der Geburt in die Kinderklinik der Städtischen Krankenanstalten I...-O........ verlegt. Der Aufnahmebefund der Kinderklinik lautete u.a.: "Blasses Neugeborenes mit Tachypnoe und Tachykardie". Während des Aufenthalts in der Kinderklinik waren die praktisch rein abdominelle Atmung des Klägers sowie eine Parese der Extremitäten auffällig.

Im August 1992 wurde der Kläger im C......hospital in M...... operiert. Der Operateur Prof. Dr. W... diagnostizierte aufgrund der Operation bei dem Kläger eine Querschnittslähmung infolge geburtstraumatischer Halsmarkläsion in Höhe von HWK 6 und 7.

Der Kläger ist vom mittleren Bereich des Brustkorbes ab nach unten komplett gelähmt. Er ist in der Lage, beide Arme zu bewegen, die Hände jedoch nur eingeschränkt. Mit einem Korsett kann er "im Schneidersitz" sitzen. Er ist auch in der Lage, selbständig zu trinken und vorbereitete Nahrung selbständig zu essen. Im Übrigen ist er für alle Verrichtungen auf fremde Hilfe angewiesen.

Der Kläger hat vorgetragen, der Beklagte habe die Schulterdystokie nicht lege artis entwickelt, sondern unsachgemäß mit großer Kraftanstrengung während der Geburt an seinem Kopf gezogen und gezerrt. Hierdurch sein es zu der Halsmarkläsion gekommen, die zu seiner Querschnittslähmung geführt habe.

Der Beklagte hat demgegenüber geltend gemacht, er habe vorsichtig und ohne Kraftanstrengung die während der Geburt des Klägers aufgetretene Schulterdystokie gelöst. Die Halsmarkläsion könne der Kläger daher nicht während der Geburt erlitten haben. Sie sei vielmehr Folge eines Hämatoms, das durch Kompression nach und nach zu einer Rückenmarkschädigung bei dem Kläger geführt habe.

Durch das angefochtene Urteil hat das Landgericht den Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 420.000 DM verurteilt und dem Feststellungsantrag stattgegeben. Zur Begründung hat das Landgericht ausgeführt:

Der Beklagte sei für die Querschnittslähmung des Klägers verantwortlich. Aus dem Gutachten des Neuropädiaters Prof. Dr. Re..... vom 12. Juni 1997 ergebe sich, dass die Halsmarkläsion des Klägers eine traumatische Ursache während des Geburtsvorgangs habe und nicht Folge einer Kompression durch ein Hämatom sei. Wie es im Einzelnen während der Geburt zu der Halsmarkläsion gekommen sei, sei wegen der unvollständigen Dokumentation des Geburtsvorgangs nicht feststellbar. Durch die unzureichende Dokumentation habe der Beklagte ein Aufklärungshindernis verursacht, das zu einer Beweiserleichterung für den Kläger führe. Für einen Behandlungsfehler lägen gewichtige Anhaltspunkte vor. Nachdem das Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen Prof. Dr. Ro.... vorgelegen habe, habe der Beklagte erstmals - zwei Jahre nach Prozessbeginn - vorgetragen, er habe die Dystokie durch die Behandlungsschritte gelöst, die im Gutachten des Prof. Dr. Ro.... dargelegt seien. Dies zeige, dass dem Beklagten die Behandlungsmaßnahmen einer Schulterdystokie bis dahin nicht hinreichend geläufig gewesen seien. Darüber hinaus beweise das Ausmaß der Verletzungen des Klägers, dass der Beklagte bei der Geburt mit inadäquater Kraft auf den Kläger eingewirkt habe.

Im Hinblick auf die körperlichen Schwerstbehinderungen des Klägers hat das Landgericht dem Kläger ein Schmerzensgeld von 420.000 DM zugebilligt.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Beklagten und die Anschlussberufung des Klägers.

Der Beklagte trägt vor:

Das Landgericht habe zu Unrecht unterstellt, dass er die Schulterdystokie nicht fachgerecht beseitigt habe. Er habe im Einzelnen den Behandlungsablauf geschildert. Diese Angaben seien von der Hebamme O...... bestätigt worden. Durch die Aussage dieser Zeugin sei bewiesen, dass er lege artis gehandelt habe; daher komme einem Verstoß gegen die Dokumentationspflicht keine Bedeutung mehr zu. Die Unterstellung des Landgerichts, ihm seien bis zur Lektüre des Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. Ro.... die Behandlungsschritte bei einer Schulterdystokie nicht bekannt gewesen, sei sachfremd. Die Therapie der Schulterdystokie sei Gegenstand der gynäkologischen Ausbildung und Standardliteratur und daher jedem Frauenarzt bekannt.

Unter Vorlage eines Gutachtens, das Prof. Dr. T........ für die Haftpflichtversicherung des Beklagten erstattet hat, macht der Beklagte weiterhin geltend, dass es auch bei einer normalen Schulterentwicklung zu einer Halsmarkläsion kommen könne, wenn ein Neugeborenes eine muskuläre Schwäche aufweise. Ein derartiger verminderter Muskeltonus habe bei dem Kläger vorgelegen. Daher könne, selbst wenn der Kläger bei der Geburt eine Halsmarkzerreißung erlitten hätte, daraus nicht auf ein fehlerhaftes Verhalten des Beklagten als Geburtshelfer geschlossen werden.

Darüber hinaus wiederholt und präzisiert der Beklagte sein erstinstanzliches Vorbringen, dass die Querschnittslähmung des Klägers nicht auf einem während der Geburt erlittenen Trauma beruhe, sondern auf einem Hämatom (vgl. GA Bl. 742 ff.).

Der Beklagte beantragt,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen

und weiterhin im Wege der Anschlussberufung,

in Abänderung des angefochtenen Urteils den Beklagten zu verurteilen, an ihn zu Händen seiner gesetzlichen Vertreter ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen, das unter Einschluss des vom Landgericht ausgeurteilten Betrag eine Höhe von 550.000 DM nebst 4 % Zinsen seit 16. April 1992 nicht unterschreiten sollte.

Zur Anschlussberufung des Klägers beantragt der Beklagte,

diese zurückzuweisen.

Der Kläger hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend, soweit es die Haftung des Beklagten für seine Querschnittslähmung bejaht hat. Das zugesprochene Schmerzensgeld hält er insbesondere unter Berücksichtigung des Umstands, dass bei ihm eine hohe Querschnittslähmung ab den Halswirbeln vorliegt, für zu niedrig.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien in der Berufungsinstanz wird auf deren Schriftsätze, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, verwiesen.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung von drei Ergänzungsgutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Ro...., Vernehmung der Hebamme O...... als Zeugin und Anhörung des Beklagten sowie des Vaters des Klägers als Partei. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 22. September 1999 (GA Bl. 615 ff.), das erste Ergänzungsgutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Ro.... (GA Bl. 639 ff.), das zweite Ergänzungsgutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Ro.... (GA Bl. 712 ff.) sowie das dritte Ergänzungsgutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Ro.... (GA Bl. 755 ff.) verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Beklagten ist unbegründet; die Anschlussberufung des Klägers ist begründet.

Der Beklagte haftet aus § 823 Abs. 1 BGB für die materiellen Schäden des Klägers und aus § 823 Abs. 1 BGB i.V.mit § 847 BGB auf Schmerzensgeld.

Der Haftung steht nicht entgegen, dass der Kläger im Zeitpunkt der Schädigung noch nicht rechtsfähig war (§ 1 BGB). Nach gefestigter Rechtsprechung steht einem Kind bei einer deliktischen Verletzung im Mutterleib mit der Vollendung der Geburt ein Schadensersatzanspruch zu. Dies gilt in gleicher Weise bei einer Verletzung während des Austritts aus dem Mutterleib (BGHZ 106, 155 f.).

Das Landgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Beklagte bei der am 2. Oktober 1990 durchgeführten Entbindung des Klägers bei der Lösung der Schulterdystokie fehlerhaft vorgegangen ist und dadurch die Querschnittslähmung des Klägers verursacht hat.

Aus dem erstinstanzlich eingeholten Gutachten des Neuropädiaters Prof. Dr. Re..... vom 12. Juni 1997 ergibt sich zur Überzeugung des Senats, dass die Halsmarkschädigung, die zur Querschnittslähmung des Klägers geführt hat, auf ein während der Geburt erlittenes Trauma zurückzuführen ist. Der Sachverständige hat eingehend dargelegt, die Nervenwurzeln C 7 und C 8 seien "ausgerissen". Es liege daher eindeutig eine mechanisch bedingte Schädigung vor. Es sei auszuschließen, dass ein Hämatom und die dadurch bedingte Kompression die zerrissene Rückenmarkstrukturen verursacht habe. Im Übrigen hat der Sachverständige Prof. Dr. Re..... überzeugend dargelegt, dass die von Anfang an auffällige Schlaffheit des Klägers zeige, dass die Rückenmarksschädigung des Klägers während des Geburtsvorgangs entstanden ist, da sog. Brückensymptome vorhanden sind.

Der Beklagte hat zweitinstanzlich sein erstinstanzliches Vorbringen ausführlich wiederholt aus der langsamen Entwicklung der Lähmungserscheinungen des Klägers nach der Geburt ergebe sich, dass die Rückenmarksschädigung des Klägers auf einen fortschreitenden Prozess, z.B. auf einem Hämatom oder einer Zyste beruhe und nicht auf einem traumatischen Prozess während der Geburt (vgl. Schriftsatz vom 28. November 2001; GA Bl. 742 ff.). Dieses Vorbringen, dass sich mit dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Re..... nicht auseinandersetzt, gibt dem Senat keine Veranlassung, ein Ergänzungsgutachten einzuholen. Der Beklagte wiederholt nämlich lediglich erstinstanzlichen Sachvortrag, den Prof. Dr. Re..... in seinem Gutachten bereits ausführlich widerlegt hat (vgl. S. 9-11 des Gutachtens = GA Bl. 383 bis 385). Zudem geht auch der von der Haftpflichtversicherung des Beklagten beauftragte Privatgutachter Prof. Dr. T........ von einem "zweifelsfrei gegebenen geburtstraumatischen Verursachung" des Schadens des Klägers aus (vgl. S. 19 des Gutachtens = GA Bl. 540).

Dass die Rückenmarksschädigung des Klägers bei der Geburt auf einen Behandlungsfehler des Beklagten zurückzuführen ist, ist nicht voll bewiesen. In dem bereits zitierten Privatgutachten vom 23. August 1998 (GA Bl. 522 ff.) hat Prof. Dr. T........ dargelegt, dass die schweren Verletzungen, die der Kläger bei seiner Geburt erlitten hat, nicht zwangsläufig ein unsachgemäßes ärztliches Vorgehen des Beklagten beweisen. Insbesondere bei Neugeborenen mit einer muskulären Schwäche könne es auch bei sachgerechter Lösung einer Schulterdystokie zu Neurotraumen kommen. Dieser Feststellung hat der gerichtliche Sachverständige Prof. Dr. Ro.... in seinem ersten Ergänzungsgutachten zugestimmt. Auch die glaubhaften Angaben des bei der Geburt anwesenden Vaters des Klägers, der Beklagte habe bei der Entwicklung der Schulter am Kopf des Kindes gezerrt und gezogen, so dass er gedacht habe, der Beklagte reiße dem Kind den Kopf ab, reichen für den Nachweis eines Behandlungsfehlers nicht aus. Es handelt sich hierbei um laienhafte Angaben, die keinen ausreichenden Rückschluss auf den Behandlungsvorgang zulassen. Ob der Beklagte fehlerhaft gehandelt hat, ist somit nicht feststellbar.

Der Nachteil der Unaufklärbarkeit geht aber nicht zu Lasten des Klägers, sondern zu Lasten des beklagten Arztes, der die Geburt des Klägers völlig unzureichend dokumentiert hat. In den Krankenunterlagen ist lediglich von einer Gesichtslage und einer etwas schwierigen Schulterentwicklung nach spontaner Geburt die Rede. Zum konkreten Vorgehen des Beklagten bei der Lösung der Schulterdystokie fehlen jegliche Angaben. Auch im Übrigen sind die Krankenunterlagen sehr unzulänglich geführt. Obwohl der Kläger am 2. Oktober 1990 geboren wurde, ist im Partogramm mehrmals als Geburtsdatum der 2. 9. 1990 eingetragen. Die CTG-Registrierung beginnt um 6.57 Uhr und endet um etwa 9.10 Uhr, obwohl der Kläger bereits um 8.40 Uhr geboren wurde. Der Beklagte erklärt dies damit, dass die Uhr des CTG-Geräts 30 Minuten vorgegangen sei. Das CTG müsste demnach bereits um etwa 6.30 Uhr angelegt worden sein. Im Partogramm ist jedoch als Zeitpunkt 7.00 Uhr eingetragen, was der Uhr des CTG-Geräts in etwa entspricht. Der Sachverständige Prof. Dr. Ro.... hat weiterhin dargelegt, dass nach dem vorgelegten CTG die Herzfrequenz des Kindes als auffällig zu bewerten ist. Dennoch findet sich in den Krankenunterlagen ein Vermerk des Beklagten "fetale Herzfrequenz sub partu immer o.B.". Dies alles hat den Sachverständigen Dr. Ro.... dazu veranlasst, von einer "kompletten Konfusion" und "unverständlichen Eintragung" des Beklagten in die Krankenunterlagen zu sprechen (S. 4 des dritten Ergänzungsgutachtens = GA Bl. 758). Unter der Rubrik "Lage der Frucht bei Geburtsbeginn" ist zunächst offenbar vom Beklagten "SL" (Schädellage) eingetragen worden und später von der Hebamme zusätzlich "Gesichtslage" vermerkt worden. Zusammenfassend hat der Gutachter Prof. Dr. Ro.... erklärt, dass wegen des "völlig unschlüssigen Sachverhalts eine gutachterliche Stellungnahme nicht möglich sei" (vgl. S. 7 des dritten Ergänzungsgutachtens = GA Bl. 761).

Um den Sachverhalt aufzuklären hat der Senat in Gegenwart des Gutachters die Hebamme O...... als Zeugin vernommen und den Beklagten als Partei angehört. In Abweichung von ihrer erstinstanzlichen Aussage erklärte die Zeugin O......, sie habe nicht mitbekommen, wie der Beklagte die Schulter des Klägers gelöst habe. Sie habe bereits um etwa 7.15 Uhr eine Gesichtslage des Klägers festgestellt und deshalb den Beklagten gerufen. Zur Unterstützung der Geburt habe sie den sog. Kristellerhandgriff angewendet, der jedoch nicht sogleich zur Geburt des Klägers geführt habe.

Im ersten Ergänzungsgutachten, das der Sachverständige Prof. Dr. Ro.... im Anschluss an die Vernehmung der Zeugin O...... und die Anhörung des Beklagten erstattete, hat er dargelegt (Bl. 9, 10 = GA Bl. 647, 648), dass bei der Hebamme O...... erhebliche allgemeine Kenntnislücken und bei dem Beklagten Defizite über das Vorgehen bei einer Schulterdystokie vorhanden seien. Die Angaben der Zeugin O......, sie habe um 7.15 Uhr eine Gesichtslage bei dem Kläger festgestellt, sei unzutreffend, weil zu diesem Zeitpunkt eine Gesichtslage noch nicht diagnostizierbar gewesen sei. Das zur Lösung einer Schulterdystokie allgemein angewandte Verfahren nach McRoberts sei weder der Hebamme noch dem Beklagten bekannt gewesen. Auch nach einer ausführlichen Befragung des Beklagten sah sich der Sachverständige nicht in der Lage, den Geburtsvorgang des Klägers und damit auch die Lösung der Schulterdystokie nachzuvollziehen.

Die völlig unzulängliche ärztliche Dokumentation sowie auch die Kenntnislücken des Beklagten über das ärztliche Vorgehen bei einer Schulterdystokie rechtfertigen Beweiserleichterungen für den Kläger bis zur Beweislastumkehr.

Die Dokumentation der Geburt des Klägers, insbesondere auch der Schulterentwicklung war medizinisch geboten. Dies hat der Sachverständige Prof. Dr. Ro.... in seinen Gutachten eingehend dargelegt. Es hätte in den Krankenunterlagen dargelegt werden müssen, worin die Schwierigkeit der Schulterentwicklung bestand, und welche Maßnahmen zur Beseitigung getroffen wurden. Auch der Privatsachverständige Prof. Dr. T........ verlangt eine solche Dokumentation (vgl. hierzu auch OLG Köln, VersR 1994, 1424; OLG Saarbrücken, AHRS 6450, 69; OLG München, OLGR 2000, 61 und 94).

Durch die unzulängliche Dokumentation hat der Beklagte dem Kläger in für diesen unlösbare Schwierigkeiten der Aufklärung des Sachverhalts gebracht. Eine nachträgliche, den Beklagten entlastende Feststellung (vgl. BGH MDR 1984, 660), wie die Schulterdystokie bei dem Kläger gelöst wurde, ist nicht möglich. Daher ist wegen der mangelhaften Dokumentation eine Beweislastumkehr bzw. zumindest eine Beweiserleichterung zugunsten des Klägers gerechtfertigt. Da Indizien vorliegen, die einen Behandlungsfehler als nachgewiesen erscheinen lassen, genügt es von einer Beweiserleichterung zugunsten des Klägers auszugehen. Der Sachverständige Prof. Dr. Ro.... hat ausführlich dargelegt, dass bei unfachgemäßen Versuchen der Lösung einer Schulterdystokie die Gefahr einer traumatischen Schädigung für das Kind besteht. Diese Darlegungen entsprechen den in den zitierten Urteilen des OLG Köln sowie des OLG Saarbrücken wiedergegebenen Ausführungen der dort gehörten Sachverständigen. Die Halsmarkläsion, die der Kläger bei seiner Geburt erlitten hat, lässt daher den Rückschluss zu, dass der Beklagte die Schulterdystokie fehlerhaft behandelt hat (vgl. hierzu S. 14 des ersten Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. Ro.... = GA Bl. 125). Infolge dessen liegt die im Rahmen der Beweiserleichterung erforderliche Wahrscheinlichkeit eines Behandlungsfehlers vor. Dabei sind auch die Angaben des Vaters des Klägers zu berücksichtigen, wonach der Beklagte während der Geburt am Kopf des Klägers überstürzt gezerrt und gezogen hat.

Der Beklagte haftet somit dem Kläger für die durch die Querschnittslähmung anlässlich der Geburt entstandenen und künftig entstehenden Schäden (§ 823 Abs. 1 BGB). Das Landgericht hat dem Feststellungsantrag zu Recht stattgegeben.

Zum Ausgleich des immateriellen Schadens hält der Senat, abweichend vom Landgericht, ein Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 285.000 € für angemessen. Der vom Landgericht zugesprochene Betrag von 420.000 DM berücksichtigt nicht hinreichend das Ausmaß der Lebensbeeinträchtigung des Klägers durch die geburtstraumatische Schädigung.

Aufgrund der Halsmarkläsion leidet der Kläger an einer hohen Querschnittslähmung mit Tetraparese unterhalb C 6 und Tetraplegie unterhalb C 8. Nach den Angaben des Sachverständigen Prof. Dr. Re..... ist ein Wiedergewinn des durch Zerreisen nervaler Zellverbände und Nervenbahnen entstandenen Funktionsverlustes nicht zu erwarten. Deshalb wird der Kläger zeitlebens gelähmt bleiben und auf den Rollstuhl angewiesen sein. Er kann seinen Rollstuhl nicht aus eigener Kraft bewegen. Nur mittels eines Korsetts kann er angelehnt sitzen. Der Kläger kann zwar Kopf und Arme bewegen, die Hände allerdings nur eingeschränkt. Für die Entleerung von Darm und Blase ist er auf fremde Hilfe angewiesen. Er ist in seiner Kommunikationsfähigkeit sehr eingeschränkt. Häufig leidet er unter Grippe, Erkältung und Lungenentzündung. Er erhält regelmäßig logopädische Förderung, Ergotherapie und Krankengymnastik und ist zeitlebens auf dauernde Pflege angewiesen.

Angesichts dieser schweren Folgen für den Kläger ist ein Schmerzensgeld von 285.000 € angemessen. Dabei ist insbesondere auch zu berücksichtigen, dass hier ein Fall hoher Querschnittslähmung vorliegt, dessen Auswirkungen nicht im Rahmen des Versehrtensports teilweise kompensierbar sind. Die lebenslangen schweren Dauerschäden werden von dem Kläger immer wieder neu und schmerzlich empfunden werden (vgl. hierzu OLG Düsseldorf, OLGR 1992, 257, das in einem vergleichbaren Fall hoher Querschnittslähmung nach einem Verkehrsunfall ein Schmerzensgeld von 600.000 DM als angemessen erachtet hat; wegen der zusätzlichen Unfallverletzungen in dem vom OLG Düsseldorf entschiedenen Fall sieht der Senat für den Kläger ein etwas geringeres Schmerzensgeld als angemessen an).

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 97 Abs. 1, 91 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 108 ZPO.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren sowie die Beschwer des Beklagten betragen 535.000 € (Antrag zu 1) 285.000 €; Antrag zu 2) 250.000 €).

Ende der Entscheidung

Zurück