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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Köln
Beschluss verkündet am 02.03.2009
Aktenzeichen: 2 Ws 77/09
Rechtsgebiete: StPO, StGB


Vorschriften:

StPO §§ 121 f
StPO § 154 Abs. 2
StPO § 458 Abs. 1
StPO § 462 Abs. 1 S. 1
StPO § 462 Abs. 3
StGB § 51 Abs. 1 S. 1
StGB § 51 Abs. 1 S. 2
StGB § 55
Verfahrensfremde Untersuchungshaft ist bei potentieller Gesamtstrafenfähigkeit anzurechnen. Auf die Möglichkeit der Anrechnung in einem noch unerledigten Verfahren darf der Verurteilte nicht verwiesen werden, wenn das noch offene Verfahren in rechtsstaatlich nicht hinnehmbarer Weise nicht gefördert wird.
Tenor:

1. Der angefochtene Beschluß wird dahin abgeändert, dass die in dem Verfahren StA A. in der Zeit vom 13.11.2007 bis zum 27.05.2008 erlittene Untersuchungshaft von 197 Tagen auf die Strafhaft in der Sache StA A. anzurechnen ist.

2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der darin dem Verurteilten entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

Gründe:

I.

Der vielfach vorbestrafte Beschwerdeführer wurde in dem Strafverfahren StA A. mit Berufungsurteil des Landgerichts A. vom 19.05.2008, rechtskräftig seit dem 13.09.2008 wegen eines am 01.10.2006 begangenen PKW-Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und 6 Monaten verurteilt, die er gegenwärtig verbüßt. Zugleich erließ das Berufungsgericht am 19.05.2008 einen Haftbefehl, für den zunächst jedoch nur Überhaft notiert wurde, weil sich der Beschwerdeführer zur Zeit der Verurteilung aufgrund Haftbefehls des Landgerichts A. vom 13.05.2008 in anderer Sache seit dem 13.11.2007 in Untersuchungshaft befand.

Diesen Haftbefehl hat der Senat im Haftprüfungsverfahren gem. §§ 121 f StPO mit Beschluß vom 27.05.2008 - 43 HEs 12/08 - 61 - aufgehoben, weil die zuständige Strafkammer sich wegen Überlastung nicht in der Lage sah, die Hauptverhandlung vor Ende 2008 anzuberaumen und die Sache nach einer Mitteilung des Präsidenten des Landgerichts A. nicht auf eine andere Strafkammer abgeleitet werden konnte. Gegenstand der in diesem Verfahren am 16.04.2008 erhobenen Anklage sind Straftaten (u.a. Kfz-Diebstähle) aus dem Tatzeitraum zwischen dem 28.08. und dem 06.11.2007, durch die ein Gesamtschaden von 100.000 € verursacht worden sein soll. Eine verfahrensabschließende Entscheidung ist in dieser Sache bisher nicht ergangen; ob und wann eine Hauptverhandlung stattfinden wird, ist derzeit noch völlig offen.

Der Haftbefehl vom 19.05.2008 ist nach Aufhebung des Haftbefehls vom 13.05.2008 durch den Senat ab dem 28.05.2008 bis zum Eintritt der Rechtskraft des Urteils vom 19.05.2008 vollzogen worden.

Nach der Strafzeitberechnung der Staatsanwaltschaft A. vom 17.12.2008 ist dem Beschwerdeführer neben dem Tag der Festnahme (03.11.2006) die im Verfahren StA A. ab dem 28.05.2008 erlittene Untersuchungshaft angerechnet worden. Die vom Beschwerdeführer beantragte Anrechnung der aus dem Verfahren StA A. resultierenden Untersuchungshaft (von 197 Tagen) hat die Staatsanwaltschaft abgelehnt. Dagegen hat der Verurteilte gerichtliche Entscheidung beantragt. Die Strafvollstreckungskammer ist in der angefochtenen Entscheidung der Auffassung der Staatsanwaltschaft gefolgt. 2/3 der Strafe sind hiernach am 25.05.2009 verbüßt, Strafende ist der 23.11.2009.

Mit seinem Rechtsmittel verfolgt der Verurteilte, der am 29.01.2009 von der Justizvollzugsanstalt A. in die Justizvollzugsanstalt D. verlegt wurde, sein Begehren weiter.

II.

Die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer ist gemäß §§ 458 Abs. 1, 462 Abs. 1 S.1 StPO ergangen. Das dagegen gerichtete Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde ist nach § 462 Abs. 3 StPO statthaft, fristgerecht eingelegt und auch sonst zulässig.

Sie hat auch in der Sache Erfolg.

Der Senat teilt die Auffassung der Strafvollstreckungskammer jedenfalls für die hier gegebene Fallkonstellation nicht.

Nach dem Wortlaut des § 51 Abs. 1 S.1 StGB ist (nur) "verfahrensidentische" Untersuchungshaft auf die Strafe anzurechnen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG ist unter bestimmten Voraussetzungen jedoch über den unmittelbaren Anwendungsbereich der Vorschrift hinaus auch sog. "verfahrensfremde" Untersuchungshaft anzurechnen. Das gilt insbesondere in Fällen, in denen zumindest eine potentielle Gesamtstrafenfähigkeit der Strafe, auf die die Untersuchungshaft angerechnet werden soll (vgl BVerfG NStZ 94, 607; 99,24; 00,277; 01, 501).

Der BGH folgt ebenfalls einer weiten Auslegung der Vorschrift und lässt für die Anrechnung verfahrensfremder Untersuchungshaft eine "funktionale Verfahrenseinheit" genügen, die etwa in Fällen der Überhaft oder bei Einstellung des Verfahrens, für das Untersuchungshaft verbüßt wurde, gem. § 154 Abs. 2 StPO im Hinblick auf das mit einer Verurteilung endende Verfahren anzunehmen ist (BGHSt 43, 112).

Vorliegend kann eine die Haftanrechnung rechtfertigende Verfahrenseinheit nach der angeführten Entscheidung des BGH nicht länger als für die Dauer der Überhaftnotierung angenommen werden, weil nur insoweit von einer " doppelten Verfahrensrelevanz" (vgl dazu BGH aaO, S. 121) ausgegangen werden kann.

Die Überhaftnotierung hat indes nur wenige Tage (vom 19.05. bis zum 27.05.2008) angedauert und vermag die Anrechnung von mehr als 6 Monaten Untersuchungshaft nicht zu rechtfertigen.

Zu einer Verfahrenseinstellung nach § 154 Abs. 2 StPO ist es bisher ebenso wenig gekommen, die angesichts des Gewichts der Tatvorwürfe in der Anklage vom 16.04.2008 und der daraus im Falle einer Verurteilung resultierenden Straferwartung allerdings kaum vertretbar erscheint.

Unzweifelhaft ist indes von der potentiellen Gesamtstrafenfähigkeit der Strafe, auf die die Untersuchungshaft angerechnet werden soll, auszugehen. Denn die - noch nicht vollstreckte - Strafe aus dem Berufungsurteil des Landgerichts A. vom 19.05.2008 wäre in eine neue Strafe in dem noch unerledigten Verfahren im Wege nachträglicher Gesamtstrafenbildung gem. § 55 StGB einzubeziehen. Die noch nicht geahndeten Straftaten hat der Beschwerdeführer in der Zeit vom 28.08. bis zum 06.11.2007 und damit vor der Verurteilung vom 19.05.2008 begangen.

Dieser Gesichtspunkt begründet hier einen genügenden inneren Zusammenhang für die nach der Rechtsprechung des BVerfG gebotene Anrechnung der in dem noch offenen Verfahren erlittenen Untersuchungshaft.

Es kann aus Sicht des Senats nicht hingenommen werden, dass der Verurteilte auf die Möglichkeit der Anrechnung der Untersuchungshaft in dem noch unerledigten Verfahren verwiesen wird. Dieses Verfahren ist - soweit ersichtlich - seit der Aufhebung des Haftbefehls durch den Senat, d.h. seit mehr als einem 3/4 Jahr nicht gefördert worden. Ein Abschluß des Verfahrens ist auch nicht absehbar. Das ist mit dem durch Art. 6 Abs. 1 S.1 MRK garantierten Anspruch eines Beschuldigten auf Verhandlung seines Verfahrens innerhalb angemessener Frist, der selbst für einen nicht inhaftierten Beschuldigten gilt, jedenfalls deshalb unvereinbar, weil die Gefahr besteht, dass es nicht mehr zu einer Anrechnung der Untersuchungshaft kommt. Derartigen Belastungen hat das Beschleunigungsgebot Rechnung zu tragen.

Die Erwägung der Strafvollstreckungskammer, durch die verfahrensfremde Haftanrechnung könne die mögliche Entscheidung in dem offenen Verfahren unterlaufen werden, Untersuchungshaft gem. § 51 Abs. 1 S. 2 StGB nicht anzurechnen, greift nicht durch. Die Anrechnung von Untersuchungshaft kann nur in Ausnahmefällen unterbleiben, etwa in Fällen der Verfahrensverschleppung durch den Täter (vgl BGHSt 23, 307; Fischer, StGB, 56. Aufl., § 51 Randnr. 11 f m.w.N.). Dass die Bestimmung gegen den Beschwerdeführer angewendet werden könnte, erscheint fernliegend.

Es fällt allein in den Verantwortungsbereich der Justiz, dass das offene Verfahren seit geraumer Zeit nicht gefördert wird und deswegen die angeordnet gewesene und erlittene Untersuchungshaft beendet werden musste.

Ende der Entscheidung

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